Gegen Gewicht: Steuern, Verbote, Kontrollen

Wenn aber farbige Punkte, viele Zahlen und ausführliche Tabellen auf den Packungen den verstandesgesteuerten Weg zu „gesunder“ Ernährung nicht weisen können, dann hilft vielleicht ein Blick nach Frankreich: Unsere Nachbarn planen seit Mitte 2008, dem Savoir-vivre mit Pommes, Cola & Co. einen Riegel vorzuschieben, indem sie fette und süße Nahrungsmittel mit einer deftigen Steuer belegen möchten. Diese „Junkfood-Steuer“ wurde von konservativen Gesundheitsexperten der französischen Regierung vorgeschlagen, die der Meinung sind, „Fettleibigkeit tötet mehr Menschen als Tabak“. Den französischen Vorstoß griff Anfang 2009 auch der Präsident der Berliner Ärztekammer auf: Er forderte eine Sonderabgabe für alle „gesundheitsschädlichen“ Lebensmittel – die „Big-Mac-Steuer“ muss her! Sind Hamburger, Chips und Gummibärchen Ihrer Meinung nach grundsätzlich gesundheitsschädlich? Vielleicht aber gilt die Sondersteuer auch für schadstoffhaltiges Obst und Gemüse, denn der ungesunde Einfluss der Gifte ist bewiesen – im Gegensatz zum Schadeffekt von Gummibärchen. Dänemark und Rumänien scheint das nicht zu interessieren: Ab 2011 müssen die Dänen eine „Fettsteuer“ zahlen und für rumänische Bürger werden sich Burger & Co. aufgrund einer „Fast-Food-Steuer“ verteuern.

Im südlichen Los Angeles gehen die Behörden zum Schutz der Bevölkerung vor der „Geißel Fast Food“ noch einen Schritt weiter: Statt Steuern auf Burger wird gleich die Eröffnung neuer Burgerfilialen verboten. Die New Yorker Gesundheitsapostel sind nicht ganz so streng, aber seit April 2008 hat die Stadt alle Fast-Food-Restaurants dazu verpflichtet, neben dem Preis auch die Kalorienangaben auf den Speisekarten aufzuführen.

Im Vergleich zur drastischen Drangsaliererei der Japaner wirken die euro-amerikanischen Erziehungsmaßnahmen jedoch wie ein Hund ohne Gebiss: Nippon hat seit April 2008 einen Gesundheitstest eingeführt, der in allen Großbetrieben und Kommunen Pflicht ist. Einmal pro Jahr müssen sich daher 44 Prozent der Bevölkerung medizinisch untersuchen lassen. Dazu gehört neben der Ermittlung von Blutparametern wie Zucker und Fetten auch die Messung von Bauchumfang und Gewicht. Die Toleranzschwelle bei der japanischen Bauchumrundung hat beim besten Willen nichts mit Sumo-Ringer-Dimensionen gemein: Bis zu 90 cm bei Frauen und 85 cm bei Männern gelten als gesunder Wert. Haben Sie Ihren Bauchumfang jemals gemessen? Würde in Deutschland ein Wert von 85 cm als Maßstab herangezogen, dann wären geschätzte 90 Prozent aller Männer „zu dick“ – hierzulande gilt ein Bauchäquator ab 102 cm als „gesundheitsgefährdend“. Aber bleiben wir noch ein paar Zeilen im Land von Sushi & Sashimi: Umschließen also zu viele Zentimeter die Körpermitte und klettert die Kiloanzeige auf der Waage über den japanischen Grenzwert, dann werden Sanktionen verhängt – zwar nicht gegen den einzelnen Mitarbeiter, aber gegen dessen Arbeitgeber: Die Betriebe müssen höhere „Strafbeiträge“ in die nationale Krankenversicherung einzahlen. Welcher Druck so auf die Japaner ausgeübt wird, die jährlich die Hosen runterlassen müssen, können Sie sich sicher gut vorstellen. Wer die Mentalität im Land der aufgehenden Sonne besser kennt, weiß genau, was den „kostenintensiven Mitarbeitern“ blüht: So werden die beleibteren Angestellten eines Elektronikriesen in persönlichen Gesprächen zur Änderung ihrer Lebensgewohnheiten aufgefordert. Weiter erhalten sie Schrittzähler, verbunden mit der Mahnung, mindestens 10.000 Schritte täglich zu gehen. Einer der weltgrößten Autokonzerne erinnert seine Arbeiter jeden Tag per E-Mail, ihr Gewicht zu beobachten, abzunehmen und körperlich fit zu bleiben. Getreu dem Motto „Nichts ist unmöglich“ überwachen die Gesundheitskontrolleure des Autobauers auch Kalorien & Co. des täglich verzehrten Kantinenmenüs jedes einzelnen Mitarbeiters: Die Daten werden von der Kasse beim Bezahlen auf den Betriebsausweis übertragen. „Vorbildliches“ Essverhalten wird mit Prämien belohnt. Wer sich den Gesundheitsritualen verweigert, wird schnell zum Außenseiter.

Wenn Sie jetzt denken, dass diese Art orwellscher Ernährungserziehung der ausufernden Verfettung von Japans Bevölkerung entgegenwirken soll, dann sei Ihnen gesagt: Der Anteil fettleibiger Japaner ist mit 2,3 Prozent bei Männern und 3,4 Prozent bei Frauen einer der niedrigsten der Welt (zum Vergleich die USA: knapp ein Drittel). Vielleicht beugen die japanischen Gesundheitsexperten ja nur dem drohenden Unheil vor, das ihren Landsleuten „aus Europas dickstem Land“ zu Leibe rückt: Japaner lieben deutsche Lebensmittel, lautete die Botschaft des Parlamentarischen Staatssekretärs des Bundesministeriums für Ernährung, Dr. Gerd Müller, auf der Grünen Woche 2009.

Kommen wir noch einmal kurz zurück in heimische Gefilde, wo uns statt betrieblicher Gewichtskontrolle vorerst nur Kalorienzählen und Packungsaufdrucke beschäftigen: Ist Ihnen schon mal aufgefallen, dass Wein und Bier nicht mit Energiegehalten gebrandmarkt sind? Die Lobbyisten waren zu mächtig. Sie erinnern sich: Eine Flasche schwerer Rotwein hat in etwa so viele Kalorien wie 100 g Butter. Diese 700 kcal, die kennt der EU-Verbraucher besser nicht, wenn er abends alles zusammenrechnet. Es ist doch absurd: Die Menschen sollen alles wissen, um ihre Nahrung in Zahlen zu sezieren. Zahlreiche Angaben müssen auf die Packungen. Nur bei Kalorienbomben wie Wein und Bier wird „wegen erbitterten Widerstands der Branche“ eine Ausnahme gemacht. Ein Schelm, wer Böses dabei denkt. Denken wir besser Gutes: Kalorienrechnen und Energiespalterei braucht kein gesunder Mensch. Denn die „Ernährungsmathematiker“ unter uns haben meist auch ihr Essverhalten rationalisiert: Verstandesgesteuerte Entscheidungen dominieren beim Essen, dafür schwindet ihr Vertrauen in den eigenen Körper. Das ist der beste Weg in Richtung zwanghaftes Essverhalten, denn wer Essen oder Nichtessen langfristig über den Verstand steuert, verliert langsam, aber sicher das natürliche Gespür für Hunger und Sattheit. Wird die Kulinarische Körperintelligenz dauerhaft unterdrückt und übergangen, dann verkümmert sie. Die Folgen sind fatal: Es entwickeln sich Essstörungen; aber das ist ein anderes Thema.

HUNGER & LUST: Das erste Buch zur Kulinarischen Körperintelligenz
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