Gleich und gleich gesellt sich gern.
Gestatten, Geschwister Gehirn!

Unser Körper weiß Bescheid, weil wir mit zwei außerordentlich leistungs- und lernfähigen Gehirnen ausgestattet sind, die ständig miteinander kommunizieren und wissen, welches Essen gut für uns ist. Sie haben richtig gelesen, es sind zwei: Neben unserem Kopfhirn spielt das „Gehirn im Bauch“ eine wesentliche Rolle für unser Überleben. Genauer gesagt: Unser Darm wird von etwa 100 Millionen Nervenzellen umschlossen – genauso viele, wie das gesamte Rückenmark enthält. Dieses Gehirn in der Darmwand wurde evolutionär weit vor dem Kopfhirn angelegt, um durch instinktive Hungergefühle die Nährstoffversorgung und damit das Überleben zu sichern. Insgesamt betrachtet ist unser Darm sogar das älteste Organ und entwickelte sich lange vor Herz, Haut oder Lunge. Inzwischen hat die Evolution dem „alten Hirn“ einen großen Zwilling „spendiert“: unser Gehirn im Kopf. Beide arbeiten exakt mit den gleichen Zelltypen, Mechanismen und Botenstoffen.

Darmhirn und Kopfhirn sind sozusagen Kopien – unten die kleine Ausführung, oben die große Version. Kein Wunder, denn die zwei Kommandozentralen weisen denselben „Stammbaum“ auf: In der embryonalen Entwicklung wandert ein Teil der Zellansammlungen der sogenannten „Neuralleiste“ in den Kopf, der andere Teil in den Bauchraum. Die ständige Verbindung zwischen den verwandten Zellstrukturen wird durch eine „Standleitung“ namens Vagusnerv gewährleistet. So tauschen sich die Gehirne ständig aus und lernen voneinander. Insbesondere „Big brain“ profitiert von den zahlreichen Informationen aus der Tiefe des Bauches: 90 Prozent der ausgetauschten Informationen werden vom Darm an den Kopf übermittelt. Viele dieser „Bauchgeschichten“ werden direkt in unser emotionales Zentrum gespeist: ins limbische System, wo auch unser Belohnungszentrum sitzt. Was „erzählt“ das Darmhirn unserem Gehirn im Oberstübchen? Sehr viel, was mit Emotion und Intuition zu tun hat – denn das Gehirn im Bauch ist auch Quelle psychoaktiver Substanzen, die unsere Gemüts- und Stimmungslage beeinflussen. Sie kennen die Sprichworte, die diese Fähigkeiten des Darmhirns verdeutlichen: „Der Ärger schlägt mir auf den Magen“, „Das habe ich aus dem Bauch heraus entschieden“, „Liebe geht durch den Magen“ oder „Sie hat Schmetterlinge im Bauch“. In diesem Buch interessiert uns aber die lebenswichtigste Aufgabe des Gehirns „down under“: die Analyse der Nahrung und die Speicherung dieser Information als Erinnerung in der körpereigenen Nahrungsmittel- und Nährstoffdatenbank.

Um die Leistung der neuralen Darmanalysten besser einzuschätzen, werfen wir einen tieferen Blick auf und in unser Verdauungsorgan: Seine Länge entspricht der einer ausgewachsenen Anakonda – etwa acht Meter. Dabei fasziniert die Kontaktfläche mit der Nahrung: Würden wir den Darm ausrollen, wäre mehr als ein kompletter Tennisplatz bedeckt – das menschliche Verdauungsorgan hat eine Oberfläche von 400 Quadratmetern! Doch hier wird nicht gespielt, sondern nonstop im 24-h-Betrieb gearbeitet: Unser Verdauungssystem zerlegt Berge an Essen und Trinken, analysiert die Inhaltsstoffe, speichert diese Informationen und gewährt den Nährstoffen Einlass (oder auch nicht). Im Lauf eines 75-jährigen Lebens passieren 30 Tonnen feste Nahrung den Darm, hinuntergespült mit 50.000 Litern Flüssigkeit. Millionen von chemischen Verbindungen müssen dabei analysiert und verarbeitet werden, lebenswichtige Stoffe genauso wie Gifte und Fremdkörper. Unterstützung erhält der Verdauungstrakt von Milliarden fleißigen „Zeitarbeitern“, unseren Darmbakterien. Dabei arbeiten die kleinen Helfer auf engstem Raum, denn die menschliche Darmflora gilt als das am dichtesten besiedelte aller bekannten Ökosysteme. Diese gigantisch große Bakterien-Gesellschaft kümmert sich um den Abbau von Abfall- und unverdaulichen Ballaststoffen, erzeugt Vitamine und unterstützt die Abwehr von krank machenden Bakterien. Ganz nebenbei erwähnt: Unser Darm ist auch unser größtes Immunorgan. Mit 70 Prozent aller Abwehrzellen unseres Körpers erledigt er die Verteidigung gegen Billionen ungebetener Eindringlinge, die versuchen, sich durch unser Verdauungssystem in den Körper zu schmuggeln. Eine große Anzahl an Abwehrzellen steht dazu in direkter Verbindung mit dem Darmhirn.

Um zu gewährleisten, dass Versorgung und Verteidigung unser Überleben sichern, kann das Darmhirn im Gegensatz zu allen anderen Organen autonom entscheiden: Es „denkt“, fühlt und handelt selbstständig und völlig unabhängig, denn es muss weder von unserem Bewusstsein noch vom „großen Bruder“ Befehle entgegennehmen. Auch wenn wir wollten, wir sind nicht in der Lage, unser Darmhirn mit unserem Verstand zu beeinflussen. Die Natur wird wissen, warum. Vielleicht auch deshalb, damit die 90 Prozent der Informationen, die die Schaltzentrale der Verdauung lebenslang an den Kopf sendet, nicht „vernünftig“ manipuliert werden. Es geht schließlich um nicht weniger als unser Überleben.

HUNGER & LUST: Das erste Buch zur Kulinarischen Körperintelligenz
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