EPILOG

In dieser Nacht saß der Commissaris an seinem Schreibtisch, und vor ihm lag eine dünne Mappe aus safrangelbem Karton, Die Mappe der unerledigten Dinge, wie er sie bei sich nannte. Er knipste die Schreibtischlampe an. Er klappte die dünne, unbeschriftete Mappe auf. Er nahm ein Röntgenbild heraus und hielt es gegen das Licht, wie er es früher, als Sim noch lebte, oft getan hatte. Als könnte er ganz allein durch Betrachten dieser farbigen Tomogramme ihre Heilung bewirken. Am Rand der Aufnahme stand nur eine Nummer, aber er wusste, es war der Garten ihrer Erinnerungen, der von Bild zu Bild mehr versteinerte.

Unter den Tomogrammen lag ein Kuvert mit ihrem Testament. Er hatte es noch nicht geöffnet. Da lagen auch all die Briefe, die er ihr in den Wochen nach ihrem Tod geschrieben hatte, nachts, wenn er nicht hatte schlafen können. Und ganz hinten in der Mappe lag ein Polaroid, und als er es entdeckte, dachte er, eine weitere unerledigte Sache.

Das Foto zeigte einen lächelnden jungen Mann: sonnengebräunt, mit schwarzem Haar, schön auf die pomadige Art eines Stummfilmstars – Sandro, der Liebhaber seiner Frau, aber im Grunde gar nicht ihr Typ. Hinter dem unschuldig wirkenden Lächeln lauerte Vulgarität, vielleicht sogar Boshaftigkeit. Wieder hatte Van Leeuwen das Gefühl, den Mann schon einmal gesehen zu haben, vor langer Zeit, und wieder wusste er nicht, wo, bei welcher Gelegenheit.

Neben dem Kopf des Mannes ragte ein Turm aus rötlichem Stein in einen strahlend blauen Himmel, unverkennbar das Rathaus von Siena. Aus Siena waren auch die leidenschaftlichen Liebesbriefe gekommen, die Sandro an Sim geschrieben hatte. Lebte er dort? Oder hatten sie sich dort nur getroffen, auf halber Strecke? Viele Fragen, immer noch, dachte Van Leeuwen.

Er ging zum Fensterbrett, wo der Brief lag, den er selbst vor einigen Tagen an diesen unbekannten Mann namens Sandro geschrieben hatte. Er nahm den Brief und zerriss ihn, und an die Stelle, an der er gelegen hatte, legte er das Polaroid. Dann knipste er die Schreibtischlampe wieder aus und verließ das Arbeitszimmer und danach die Wohnung. Es ging auf Mitternacht zu. Es war Zeit.

 

Ende