12

Von Weitem wirkte Ruud Meijer klein, fast schmächtig, als er durch einen Schwarm wirbelnder gelber Ahornblätter über den Schulhof auf den Commissaris zuschlenderte. Er ließ sich Zeit, und während er ging, starrte er auf einen Gameboy, den er in der Hand hielt. Er trug eine Jeansjacke, ein rotes Flanellhemd mit dunklen Streifen, schwarze Turnschuhe, die Schnürsenkel nicht zugeknotet, und eine ausgebeulte Cargohose, die so tief unter seinen Hüften hing, dass man zwischen Hose und Hemdschößen den Gummizug seiner karierten Boxershorts über der bloßen Haut sehen konnte.

Auch von Nahem war er nur mittelgroß, doch seine Schultern wirkten gut entwickelt, der Körper schlank und drahtig. Sein Haar – schwarz, an den Schläfen und im Nacken sehr kurz geschnitten – war größtenteils unter einer schwarzen Kangolkappe verborgen, der Schirm nach hinten gedreht. Er hatte eine winzige Nase und einen schmalen, knospenförmigen Mund. Die Augen waren dunkelbraun und so groß, dass sie Ruuds ganzes Gesicht einzunehmen schienen wie das einer Zeichentrickfigur in einem japanischen Animefilm.

Als er Van Leeuwen erreicht hatte, hob er den Blick nur so kurz wie eben möglich von dem Gameboy. »Hey«, murmelte er. Seine Augen glänzten wie frisch geblasenes Glas.

»Hey, mein Name ist Bruno van Leeuwen, ich bin von der Polizei. Bist du Ruud Meijer?«

»Ja«, bestätigte der Junge, ohne noch einmal aufzusehen. Seine ganze Aufmerksamkeit galt den bunten Figuren, die sich ruckend über den Bildschirm seines Gameboys bewegten.

Der Commissaris holte einen Notizblock mit hellgelben Blättern aus der Brusttasche seines Mantels. »Wie alt bist du?«

»Fünfzehn.«

»Gut, Ruud Meijer, ich habe einige Fragen, die ich dir stellen muss. Die meisten sind ziemlich langweilig, aber ich muss sie trotzdem abhaken, nur der Vollständigkeit halber. Wahrscheinlich sind wir schnell fertig. Zuerst brauche ich deine Adresse, die Namen deiner Eltern und deine Telefonnummer, zu Hause und mobil.«

Der Junge nickte wieder. »Okay.«

»Könntest du mich ansehen, während ich mit dir spreche?«

Der Junge blickte unwillig auf, jetzt wachsam.

»Was schaust du dir auf dem Ding da an?«

»Ein game

»Was für ein game?«

»Hitman 2.«

»Und wovon handelt Hitman 2

»Wie man ein professioneller Killer wird.«

»Und das möchtest du werden? Professioneller Killer?«

Ruud zuckte mit den Schultern. »Ist doch besser, als Stütze zu kassieren.« Seine Stimme war monoton wie die eines Jungen in einem Videospiel.

»Weißt du, warum ich hier bin, Ruud?«

Der Junge zuckte wieder mit den Schultern.

Der Commissaris sagte: »Es geht um einen eurer Lehrer, Mijnheer Zuiker. Er ist Freitagnacht getötet worden.«

Der Junge blinzelte überrascht, dann suchte er Hilfe bei dem Bildschirm seines Gameboys, als könnte er zu viel Realität auf Dauer nicht ertragen.

»Willst du wissen, wie es passiert ist?«

»Klar – ich meine, wenn Sie’s mir erzählen dürfen.«

»Ich darf alles, was ich für nötig halte, um einen Mord aufzuklären«, erwiderte Van Leeuwen. »Es war auf den Wallen

Der Junge sog die Unterlippe unter die Schneidezähne. Er stand so still, dass man denken konnte, er hätte sogar aufgehört zu atmen.

»Sieh mich an«, forderte der Commissaris. »Mach das Ding aus, und sieh mich an.«

Der Junge gehorchte. Eine Gänsehaut überzog seine Unterarme und kroch den Hals herauf. Die Augen waren jetzt so groß, dass sie fast das ganze Gesicht zu verschlingen schienen und dazu noch einen Teil des Herbsthimmels und der Blätter, die vom Wind durch die Luft geweht wurden.

»Bist du jetzt bereit für meine Fragen?«, wollte Van Leeuwen wissen.

Der Junge nickte.

»Gut. Also, Ruud, wo warst du am Freitag? Sagen wir, von Anbruch der Dunkelheit bis Mitternacht.«

»Ich?« Ruud verschränkte die Arme vor der Brust. »Wieso ich? Keine Ahnung, hab ich vergessen … «

»Dann helfe ich dir, darin bin ich gut. Du warst auch in de wallen, und zwar zur selben Zeit. Du hast ihn dort sogar gesehen.«

»Wen?«

»Mijnheer Zuiker. Er ist dir gefolgt …«

»Ich habe niemand gesehen«, rutschte es dem Jungen heraus.

»Da warst du also?«

»Kann sein.«

»Ihr hattet schon am Vormittag eine Auseinandersetzung auf dem Schulhof«, fuhr der Commissaris fort. »Worum ging es dabei?«

»Um nichts.«

»Welche Fächer hat er eigentlich unterrichtet?«

»Mathe.«

»Ging es darum, um den Unterricht?«

»Nein.«

»Oder ging es nicht eher um den Film, den du mit deinem Handy von ihm gedreht und dann ins Internet gestellt hast?«

Der Junge wandte sich jäh ab und sah zur Schule hinüber, zu den grauen Gebäuden mit den rot gestrichenen Fensterrahmen. »Wer sagt das?«

»Warum hast du das gemacht, Ruud? Warum hast du Zuiker heimlich gefilmt und ihn dann mit dem Clip auf YouTube bloßgestellt?«

Der Junge fing an, mit der Spitze seines rechten Turnschuhs auf dem Asphalt herumzuscharren. »Nur so.«

»Nur so? Er hat dich nicht ungerecht behandelt oder dir schlechte Noten gegeben oder bei deinen Eltern angeschwärzt?«

Ruud sah den Commissaris verständnislos an. »Nein.«

»Ihr habt ihn gequält, du und ein paar von den anderen Jungen«, sagte Van Leeuwen. Er merkte, dass seine Hand mit dem gelben Notizblock zitterte, und dachte, dass es an dem kühlen Wind lag, der über den Platz fegte. »Warum?«

»Aus keinem besonderen Grund.« Jetzt bückte Ruud sich und verknotete umständlich die offenen Schnürsenkel, erst am linken, dann am rechten Turnschuh. »Er hat … er hat das irgendwie herausgefordert, okay?«

»Nein, das ist nicht okay! Mit wem hast du an dem Abend in de wallen telefoniert?«

»Telefoniert? Mit niemand.«

Van Leeuwen zwang sich, ruhig zu bleiben. »Zeugen haben dich gesehen, und sie haben auch Mijnheer Zuiker gesehen, aber vor allem haben sie gesehen, wie du telefoniert hast, als er dir aufgefallen ist. Ich könnte mir vorstellen, dass du einen Kumpel angerufen und Verstärkung gerufen hast, weil du dachtest, er verfolgt dich. Nur zur Sicherheit. Und als dein Kumpel dann kam, ist die ganze Sache ein bisschen aus dem Ruder gelaufen …«

»So war das nicht. Ich war ganz allein, und er ist plötzlich auf mich los und hat mich geschlagen …«

»Einfach so?«

»Genau, einfach so …«

»Das ist keine gute Lüge, Ruud.«

Der Junge richtete sich nicht auf, obwohl er mit dem Zuschnüren fertig war. »Was ist denn eine gute Lüge?«, fragte er.

»Eine, die ich noch nie gehört habe«, sagte der Commissaris. »Also, noch mal: Warum hat er das getan?«

»Keine Ahnung. Er war schon die ganze Zeit komisch …«

»Und wen hast du angerufen?«

»Ich hab niemand angerufen. Meine Mutter – meine Mutter hat mich angerufen, weil sie wissen wollte, wann ich nach Hause komme, weil … es war ja schon spät, und dann bin ich auch nach Hause …«

»Wir werden das überprüfen«, erklärte der Commissaris. »Wie lautet deine Adresse zu Hause? Wie heißt deine Mutter mit Vornamen? Unter welcher Nummer kann ich sie erreichen und dich auch, falls ich noch Fragen habe?«

Ruud kam hoch, und weil er nicht wusste, was er sonst noch mit seinen Händen machen sollte, vergrub er sie in den Hosentaschen. Er nannte dem Commissaris die Straße, die Hausnummer und sämtliche Telefonanschlüsse, außerdem die Vornamen seiner Mutter und seines Vaters. Van Leeuwen notierte sie mit einem Kugelschreiber auf dem gelben Block. Dann meinte er: »Gut, weiter: Als Zuiker dich geschlagen hat, was hast du da getan?«

»Nichts.«

»Du fängst an, mir auf die Nerven zu gehen, Kleiner. Du lügst immer noch – und immer noch nicht gut!«

Ruuds Augen schienen sich an Van Leeuwens Gesicht festzusaugen. »Als ich weggegangen bin, hat er noch gelebt.«

»Also hast du ihn doch geschlagen. Genauso wie am Vormittag auf dem Schulhof.«

»Nein, auf dem Hof hier hab ich ihn doch überhaupt nicht getroffen. Es war, wie ich gesagt hab, er hat mich geschlagen, und ich bin hingefallen, und als ich versucht hab, wieder auf die Beine zu kommen, da hab ich ihn mit dem Fuß erwischt, und er ist gestürzt. Aber es hat ihm nichts gefehlt oder so. Er lag bloß da, mit seiner Aktentasche und allem, und ich bin weggegangen. Ehrlich.«

»Wie spät war es da, ungefähr?«

»So kurz vor Mitternacht …«

»Dann warst du einer der Letzten, die Mijnheer Zuiker noch lebend gesehen haben.« Van Leeuwen klappte den Block zu und steckte ihn ein. »Was ich dich jetzt frage, dient nur der Vollständigkeit, ja? Es soll dir nichts unterstellen. Gehörst du zu einer Gang?«

»Nein.«

»Hast du was mit Drogen zu tun? Kokain, Heroin, Ecstasy, Shit …?«

»Nein!« Die Empörung in Ruuds Stimme war ehrlich.

»Okay, ich glaube dir. Wir sind auch fast fertig. Weißt du, wir brauchen einfach jede Hilfe, die wir kriegen können. Als du Mijnheer Zuiker Freitagnacht zum ersten Mal bemerkt hast, hinter dir, ist dir da noch jemand anderes aufgefallen?«

»Da waren doch jede Menge Leute unterwegs …«

»Dir ist niemand Besonderes aufgefallen?«

»Nein.«

»Und später, als er dir nachgegangen ist, auch nicht? Ein Mann vielleicht, mit einem durchsichtigen Regenmantel und einer Baseballkappe?«

Ruud schüttelte den Kopf. »Mann, ich guck doch nicht nach Männern in Regenmänteln.«

»Wonach guckst du dann?«, fragte der Commissaris.

»Was? Wie… wonach?«

»Was hast du um die Zeit, kurz vor Mitternacht, noch in de wallen zu suchen gehabt?«

Eine jähe Röte stieg dem Jungen ins Gesicht. »Keine Ahnung, was Sie meinen.«

»Interessierst du dich für Mädchen?«

»Klar, ich meine, tut doch jeder, oder?« Ruud sah wieder zur Schule hinüber, jetzt beinahe sehnsüchtig. »Sind wir bald fertig? Ich muss wieder in die Stunde …«

»Gleich«, antwortete van Leeuwen, »gleich … Nur eine Frage noch: Gibt es irgendetwas, das du mir sagen möchtest?«

Der Junge presste die Lippen zusammen und schob die Hände in die Jackentaschen. Die Röte verblasste langsam wieder.

»Wenn du etwas auf dem Herzen hast, egal, was, kannst du mit mir darüber reden.«

»Was denn?«

Der Commissaris tastete sich vorsichtig auf das neue Terrain vor. »Ich ersticke, hat er immer gesagt, Mijnheer Zuiker – immer wieder: Ich ersticke! Vielleicht ist er erstickt an unausgelebten Neigungen oder daran, dass er nicht die Reaktion bekommen hat, die er haben wollte, von einem von euch, zum Beispiel.«

Der Junge schwieg. Seine Augen waren jetzt schmal, und er wirkte verloren unter dem hohen blauen Himmel, inmitten der wirbelnden gelben Blätter auf dem rissigen Asphalt.

»Verstehst du, worauf ich hinauswill? Dein Mathematiklehrer folgt dir ins Rotlichtviertel … Du hast ihn mitten auf dem Schulhof provoziert und weggestoßen, nachdem du einen Film über ihn gedreht hast, in einer kompromittierenden Situation bei sich zu Hause. Du hast gewissermaßen Gewalt ausgeübt über ihn, und jetzt geht er dir nach; es kommt wieder zu einer Konfrontation, bei der du ihn zu Boden stößt … Ich meine, das ist doch eine ganz einfache mathematische Gleichung, oder? Hat er vorher Gewalt gegen dich ausgeübt? War da etwas, worüber du mit niemandem sprechen kannst?«

Ein Schauer schien den Jungen zu durchlaufen, und als er Van Leeuwen wieder ansah – mit einem aufmerksamen, aber seltsam ausdruckslosen Blick –, waren seine Augen nicht mehr schmal, sondern wieder so groß wie vorher. Ein junger Wolf, dachte der Commissaris; ein junger lauernder Wolf. Kurz flackerte ein Lächeln um Ruuds Mund wie ein Wetterleuchten – ein neues, lockendes Lächeln, das ein Aufreißer im Rotlichtviertel sofort zum Patent angemeldet hätte. Gleich danach war das Gesicht wieder leer: die Maske eines Jungen.

»Wenn Sie den gekannt hätten«, Ruuds Stimme klang so abweisend, wie nur die Stimme eines Fünfzehnjährigen abweisend klingen konnte, »dann wüssten Sie, dass der sich nie etwas getraut hätte, ganz egal, was in dem vorging. Der war ganz harmlos. Nie hätte der sich an jemand rangemacht. Das meinten Sie doch, oder? Das war ein Schisser. Der hat ja nicht mal was unternommen, als es um seine eigene Frau ging, so feige war der. Wenn der an irgendwas erstickt ist, dann daran, dass seine Frau mit einem anderen gefickt hat!«

»Zuikers Frau hatte ein Verhältnis?«, fragte der Commissaris.

»Ein Verhältnis, genau. So was wie das Gegenteil von einer unausgelebten Neigung, nicht?«

»Mit wem?«

»Sie sind doch Polizist. Finden Sie’s raus.«

Darin war ich bisher nicht besonders gut, dachte Van Leeuwen – herauszufinden, wer mit wem ein Verhältnis hat. »Und du wusstest davon?«

»Jeder wusste es!«, brach es aus dem Jungen hervor. »Jeder wusste davon, nur er wollte es nicht wissen. Er tat so, als wäre nichts. Dabei wusste er es die ganze Zeit: Seine Frau, die er angeblich liebte, und sein bester Freund, sein sogenannter bester Freund. Und er hat nichts dagegen getan, gar nichts. Er wusste es, und so einer will einem was beibringen, einer, der überhaupt keine Ehre hat! Der verdient auch keinen Respekt!«

Sein bester Freund, Pieter Hoekstra; da war sie, die Wahrheit – oder wenigstens ein weiteres kleines Stück davon. Ein kleines Stück Wahrheit und vielleicht ein Motiv für einen Mord.

»Und jetzt ist er tot«, fügte Ruud mit einer hitzigen, enttäuschten Bitterkeit hinzu, die Van Leeuwen mehr aufbrachte als alles, was er bisher von dem Jungen gehört hatte.

»Ja, jetzt ist er tot«, sagte der Commissaris scharf, »und da wir gerade dabei sind, bei Ehre und Respekt – was du gemacht hast, mit deinem Handy, dass du deinen Lehrer zu Hause gefilmt hast, als es ihm schlecht ging, dass du es heimlich getan und den Film dann ins Internet gestellt hast, das verdient erst recht keinen Respekt. Denn jemand, der so was tut, hat genauso wenig Ehre und nicht die Spur von Anstand!«

Darauf erwiderte Ruud nichts, er sah Van Leeuwen nur an, als versuchte er, in seinem Gesicht zu lesen oder sogar dahinter. Schließlich wandte er sich ab und ging mit gesenktem Kopf über den Hof davon, wobei die Beine der Cargohose den Asphalt fegten. Das gelbe Laub stob auf und wirbelte um ihn herum wie ein Hornissenschwarm. Nach ein paar Schritten blieb er stehen und drehte sich noch einmal um. »Darf ich Sie auch mal was fragen?«

»Ja.«

»Warum machen Sie das? Er ist doch tot, oder? Und Sie können ihn auch nicht wieder lebendig machen. Geht ihm ja wohl nicht besser davon, oder?«

»Woher weißt du das?«, entgegnete Van Leeuwen. »Woher weißt du, dass es ihm da, wo er jetzt ist, nicht besser geht, wenn ich herausfinde, wer ihn auf dem Gewissen hat? Und selbst, wenn es ihm nicht besser geht – mir geht es auf alle Fälle besser! Und willst du auch wissen, warum das so ist? Weil es in meiner Stadt passiert ist, da, wo ich verantwortlich bin, wo ich dafür hätte sorgen müssen, dass ihm nichts geschieht. Ich weiß, dass das nicht geht, doch es wäre schön, und deswegen fühle ich mich besser, wenn ich wenigstens den Mörder gefasst habe.«

Er redete zu dem Jungen, und er redete zu sich selbst, und während er sprach, wurde ihm leichter zumute; er hatte ein Stückchen der Wahrheit gesehen. »Die Toten haben nämlich Angehörige, Menschen, die sie geliebt haben und die wegen ihres Todes Schmerz empfinden, und zwar einen Schmerz, der bleibt, der zwanzig oder dreißig oder siebzig Jahre anhält; der nicht vergeht.«

Der Junge legte den Kopf schief. »Aber das sind doch fremde Leute, mit denen haben Sie doch gar nichts zu tun. Warum kümmern Sie sich um das Leben von Fremden?«

»Das Leben von Fremden ist mein Leben.«

Der Junge schien einen Moment über Van Leeuwens Worte nachzudenken. Dann sagte er: »Es ist aber nicht Ihre Stadt«, und ging wieder über den Schulhof davon, und diesmal drehte er sich nicht noch einmal um.

Der Commissaris kehrte noch einmal zur Turnhalle zurück, vor der die Schüler in kleinen Gruppen bei der Tür standen. Einige hatten sich auf den Boden gesetzt, und ein paar spielten mit dem Ball, versuchten, Körbe zu werfen oder ihn sich gegenseitig abzunehmen. Der Commissaris hielt nach Pieter Hoekstra Ausschau, konnte ihn jedoch nirgendwo mehr entdecken. Er trat zu einer der Gruppen. »Wo ist denn Mijnheer Hoekstra?«, fragte er.

»Der musste plötzlich weg«, meinte ein Mädchen.

»Hat er gesagt, wohin?«

Das Mädchen schüttelte den Kopf. »Nur, dass wir jetzt eine Freistunde haben.«

Ein Bild sagt mehr als tausend Worte, dachte der Commissaris, oder genauer: ein Verhalten. Aber aus beidem konnte man auch falsche Schlüsse ziehen. In Gedanken ging er noch mal die Aussage des Turnlehrers durch und dann die des Jungen, setzte die Stückchen Wahrheit zusammen, und als er das Bild betrachtete, das sie ergaben, sah er darauf nicht nur Gerrit Zuiker, Margriet und Pieter Hoekstra. Er sah auch jemanden, den er dort nicht erwartet hatte, weil er nicht dazugehörte; es war ein Geist, der sich zu reden weigerte.

Er holte sein Handy heraus und rief den Staatsanwalt an, und danach wählte er Margriet Zuikers Nummer, und weil beide nicht da waren, hinterließ er jedem eine Nachricht auf der Mailbox, allerdings nicht dieselbe. Auf dem Schulhof entdeckte er Inspecteur Vreeling und Brigadier Tambur, zu denen sich gerade auch Hoofdinspecteur Gallo gesellte. Er winkte ihnen, um sich über die Ergebnisse ihrer Befragungen ins Bild setzen zu lassen.

»Können wir das nicht beim Essen machen?«, schlug Julika vor. »Ich komme um vor Hunger. Wie wär’s mit ein paar schönen Pfannkuchen mit Sirup und …«

»Nein«, sagte Van Leeuwen. »Zum Essen haben wir keine Zeit. Aber wir können es auf den Abend verlegen, wenn ihr auch bei den Eltern der Schüler wart.«

»Welchen Eltern?«, fragte Julika.

»Allen Eltern, deren Kinder bei Zuiker Unterricht hatten. Lasst euch im Sekretariat eine Liste geben, teilt sie unter euch auf, und fangt gleich damit an. Schaut nicht so komisch! Heutzutage ist alles möglich, auch dass Lehrer von den Eltern ihrer Schüler umgebracht werden. Wir sehen uns dann später im Hoofdbureau.«

»Und Sie wollen wirklich nichts essen?! Wo gehen Sie denn hin?«

»Zum Chinesen«, antwortete Van Leeuwen.