15

Der Commissaris ging zu Fuß. Er war hungrig, aber das Geld, das er lose in der Hosentasche trug, reichte nur für einen Imbiss aus dem Automaten. Er marschierte über den Museumsplein zur Stadhouderskade. Es wurde schnell dunkel, und die Nächte waren jetzt nicht mehr warm. Über der Singel stand feuchter Nebel, durch den die Lichter der Bar im American Hotel schimmerten. Dahinter teilten die unablässig klingelnden Straßenbahnen die Menschenmenge auf dem Leidseplein, und Van Leeuwen schob sich durch das Gedränge der Passanten. Die dicht stehenden Tische auf dem kleinen Platz waren dank der Heizstrahler unter den aufgespannten Straßenschirmen voll besetzt. Aus den offenen Türen der Fast-Food-Restaurants und Bierhallen dröhnte Musik, und die Glühbirnen an den Fassaden der Häuser rings um den Platz flackerten und flimmerten, als wollten sie dem Strip in Las Vegas Konkurrenz machen.

In der Leidsestraat hielt Van Leeuwen geradewegs auf den Eingang des Febo zu. Der Geruch von Pommes frites und Chicken wings empfing ihn vor den beleuchteten Automatenfächern mit frisch zubereiteten Grillburgern, Kassasouffléröllchen, Kipburgern und frittierten Fisch- und Lammkroketten. Zu seinen Füßen suchten ein paar Tauben den schmutzigen Kachelboden nach heruntergefallenen Resten ab. Der Commissaris entschied sich für eine Satékrokette mit Ragoutfüllung, die er im Stehen neben dem Abfalleimer herunterschlang, bevor er, noch kauend, einen Feboburger zog.

Beim Essen beobachtete er den jungen Indonesier im weißen Kittel, der an der Grillplatte hinter der Automatenwand mit schnellen, genau bemessenen Bewegungen die rohen Burger auf die heiße Platte warf. Er sah zu, wie der Junge die Salatblätter bereitlegte, die gefüllten Kroketten in die Fritteusen unter den Wärmelampen gleiten ließ, dann die Burger umdrehte, Zwiebeln schnitt und Brötchen zerteilte, bevor er die Burger zwischen den pappigen Brötchenhälften verstaute, mit Salatblättern und Zwiebeln garnierte, Pappdeckel unter die Brötchen schob und die Rückseite der Fächer öffnete, um sie mit den fertigen Burgern zu füttern. Anschließend kratzte er die Grillfläche mit einem Schaber ab, fischte die gebräunten Kroketten in dem Frittierkorb aus dem siedenden Öl und öffnete die nächste Packung mit tiefgefrorenen Rindfleischscheiben, die er auf die Grillplatte warf wie Pokerkarten – neues Spiel, neues Glück.

Van Leeuwens Gedanken wanderten von dem Jungen aus Indonesien zu Ruud Meijer aus Slotervaart, dem Schüler Gerrit Zuikers. Er dachte an die merkwürdige Reaktion des Jungen, als er angedeutet hatte, sein Lehrer könnte ihm gegenüber eine Grenze überschritten haben. Vielleicht habe ich an etwas gerührt, das er vor sich selbst niemals zugeben kann, dachte er. Etwas, das so tabu ist, dass er eher töten würde, als darüber zu sprechen. Oder ich habe selbst eine Grenze überschritten, die ich in seinen Augen nicht hätte überschreiten dürfen. Vielleicht glaubte er, ich unterstelle ihm etwas.

Da, wo der Junge herkam, in seinem Umfeld, seinem Viertel, bestand die seelische Landkarte noch aus vielen weißen Flecken. Grenzen, hinter denen Ungeheuer lauerten. Und als der Commissaris ihn jetzt vor seinem inneren Auge sah, fragte er sich, wie viel von Ruud sein Viertel war; wo Slootervaart endete und der Junge begann.

Er wischte sich den Mund mit einer Papierserviette aus dem Spender auf der Theke vor dem Getränkeautomaten ab, kaufte von seinen letzten Münzen eine Dose Sprite und beschloss, nach Hause zu gehen, um seinen Schreibtischpflichten nachzukommen. Als er den Febo verließ, stieß er beinahe mit Ton Gallo zusammen.

»Hey, Bruno«, entfuhr es Ton überrascht. »Ich bin halb verhungert.«

Van Leeuwen sagte: »Die Satékroketten sind gut. Wenn du genug Geld dabeihast, nehme ich auch noch eine.«

»Was trinkst du da – Sprite? Ist das der Wein der späten Jahre? Ich glaube, ich nehme ein Bier.«

»Gibt es was Neues?«, fragte der Commissaris. Er sah zu, wie Gallo sein Geld zählte, und stellte fest, dass es für sie beide reichte. »Wissen wir inzwischen mehr über die Pistole?«

Gallo warf ein paar Münzen in die Geldschlitze und wählte einen Kipburger für sich und eine weitere Satékrokette für Van Leeuwen. »Zuiker hat die Waffe vor ein paar Wochen ganz legal bei einem lizenzierten Händler im Internet gekauft, aber offenbar ohne Munition, und es gibt auch keinen Hinweis darauf, dass er sich die Patronen woanders besorgt hätte. Entweder hatte er nie vor, sie wirklich zu benutzen, und trug sie nur zur Abschreckung bei sich …«

»Oder er ist noch nicht dazu gekommen, die Munition zu kaufen«, ergänzte Van Leeuwen. »Ich glaube sowieso nicht, dass diese Spur uns zum Täter führt.« Er dachte an seine Dienstwaffe, die er ungeladen neben der Schachtel mit Munition in der Schublade seines Schreibtisches aufbewahrte. Eine Zeit lang hatte er sie zu Hause gehabt, aber nach Simones Tod war ihm ihre Nähe zu gefährlich gewesen. Bei sich trug er sie fast nie; er dachte, dass er sie dann auch nicht benutzen müsste. Vielleicht hatte Gerrit Zuiker das Gleiche über die Munition gedacht.

Während er aß, stellte Gallo sich mit dem Rücken zur Wand. »Die Befragungen der Eltern haben auch keine neuen Erkenntnisse gebracht«, berichtete er. »Bist du weitergekommen?«

»Das weiß ich noch nicht«, sagte Van Leeuwen. Die Ragoutfüllung der Krokette verbrannte ihm die Zunge. »Vielleicht hilft mir der eine Fall beim anderen. Es hat sich herausgestellt, dass Gerrit Zuikers Frau eine Affäre mit seinem besten Freund hat, Pieter Hoekstra, dem Turnlehrer. Und während ich mit Hoekstra über Zuiker gesprochen habe, kam mir plötzlich der Gedanke, dass der Mord an Jun Wu einen ähnlichen Auslöser gehabt haben könnte. Zheng hat eine sehr schöne junge Frau, die er allein in China zurücklassen musste. Als ich ihn dann im Verhör darauf angesprochen habe, hat er sie allerdings entschieden in Schutz genommen, bevor er jede weitere Aussage verweigerte. Daraufhin hat Procureur Piryns veranlasst, dass Ailing Wu zur Befragung von Fengdu hierher überstellt wird.«

»Und Zuiker? Wusste der was von dem Verhältnis seiner Frau?«

»Sie behauptet es, und einer seiner Schüler auch«, antwortete Van Leeuwen. »Zuiker wusste Bescheid, hatte aber nichts dagegen unternommen, warum auch immer. Außerdem sieht es so aus, als hätte er ein ganz besonderes Faible für diesen Schüler gehabt, einen gewissen Ruud Meijer, der ihn aber genauso verachtet hat wie seine Frau. Zumindest tut er so – Ruud, meine ich –, doch es kann durchaus sein, dass der Junge Gerrits Gefühle erwidert hat.«

Gallo hörte auf zu essen. »Reden wir gerade über Verführung Minderjähriger?«

Van Leeuwen überlegte einen Moment. »Ich glaube nicht, dass es so einfach ist. Es war wohl eher eine starke Anziehung, die beide gespürt haben. So was gibt es ja manchmal zwischen Lehrern und Schülern, wenn da einer ist, der besonders schnell begreift, voller Wissensdurst steckt, und der andere – mit Leib und Seele Lehrer – das Gefühl hat, dass er endlich den einen unter hundert gefunden hat, bei dem sich die ganze Mühe lohnt. Vielleicht ist Gerrit etwas über das Ziel hinausgeschossen, hat sich zu einer falschen Geste, einem unbedachten Wort hinreißen lassen. Dieser Ruud Meijer ist ein aufgeweckter junger Bursche, aber die Verhältnisse, aus denen er stammt, stehen ihm im Weg. Wenn man eine Annäherung nicht erwidern kann, weist man sie manchmal zu heftig zurück, was wiederum dazu führen kann, dass sie noch heftiger wiederholt wird. Ich glaube nicht, dass Gerrit schwul war, aber Ruud hat das vielleicht gedacht und – mitten in der Pubertät – noch nicht gewusst, wie es um seine eigene sexuelle Identität bestellt ist. Deswegen ist er wahrscheinlich an dem Abend, als Gerrit ihm gefolgt ist, zu den Mädchen auf den Wallen gegangen, wie vermutlich an anderen Abenden auch. Er sieht gut aus, und auf den Wallen gibt es jede Menge Frauen, und keine sagt Nein, anders als viele Mädchen in seinem Alter. Man kann sein Taschengeld auf sinnlosere Weise ausgeben.«

»Meinst du, dass es zwischen den beiden da in der Nacht zu einem Zusammenstoß gekommen ist?«, hakte Gallo nach. »Hast du den Jungen danach gefragt?«

»Ja, aber mehr nach der chinesischen Methode der höflichen Umschreibung.« Van Leeuwen war auch mit der zweiten Krokette fertig und leerte die Sprite-Dose. »Jedenfalls glaube ich nicht, dass er was mit dem Mord an Gerrit Zuiker zu tun hat. Das hätte ich gemerkt, als wir uns unterhalten haben.«

»Möchtest du noch was?«, wollte Gallo wissen. »Nein?« Er ging zum Tresen, wo eine neue Ladung frittierter Chicken wings im roten Licht der Wärmelampen über dem brodelnden Öl schwebten wie Verdammte über dem Höllenfeuer. Mit einer Dose Heineken in der Hand kehrte er zurück. »Also bleibt noch der Mann in dem transparenten Plastikregenmantel, den diese Cherry gesehen hat.«

Van Leeuwen nickte. »Stell dir vor, du bist abends auf den Wallen unterwegs, mit einer Aktentasche, in der sich eine Walther befindet, und verfolgst einen fünfzehnjährigen Jungen …«

»Warum sollte ich das tun?«

»Und jetzt stell dir vor, ich tauche plötzlich hinter dir auf und überfalle dich, ziehe dir eine Plastiktüte über den Kopf und ersticke dich …«

»Warum solltest du das tun?«

»Genau das ist die Frage – warum tue ich das? Was hat der Mörder für ein Motiv?«

»Vielleicht wollte er freie Bahn bei der Frau haben«, meinte Gallo. »Als Turnlehrer müsste Hoekstra kräftig genug sein, um jemand auf diese Weise zu töten, mit einer Plastiktüte über dem Kopf.«

»Margriet Zuiker behauptet, er wäre zu so was nicht in der Lage, und ich traue es ihm eigentlich auch nicht zu. Hoekstra ist eher der Typ, der sich auf die Seite des Freundes schlägt, wenn alles rauskommt und er sich entscheiden muss. Allerdings hatte ich noch keine Gelegenheit, ihn mit der neuen Ermittlungslage zu konfrontieren. Er ist nach unserer Unterhaltung ganz plötzlich verschwunden.«

»Sollen wir ihn zur Fahndung ausschreiben?«, fragte Gallo.

»Vielleicht. Falls er bis morgen früh nicht wieder auftaucht.«

»Aber für alle Fälle sollten wir jemanden vor Margriet Zuikers Haus postieren«, sagte Gallo. »Könnte ja sein, dass sie schon auf gepackten Koffern sitzt.«

Van Leeuwen nickte.

»Und was machen wir mit dem Jungen, diesem Ruud Meijer?«

»Erst mal abwarten«, erklärte Van Leeuwen. »Er hat noch gar nicht richtig begriffen, dass sein Lehrer tot ist und dass er vielleicht dazu beigetragen hat. Er tut unglaublich cool, aber er ist noch ein Kind, in dessen Haut ich in den kommenden Nächten nicht stecken möchte.«

»Was war das denn für eine Situation, in der er seinen Lehrer gefilmt hat?«, fragte Gallo.

Van Leeuwen beschrieb ihm den kurzen Clip, den er auf You-Tube gesehen hatte. »Aufgenommen mit einem Filmhandy! Soll ich dir sagen, was aus dem glorreichen Internet geworden ist? Ein öffentliches Pissoir, an dessen Wände im Schutz der Anonymität Klatsch, Gerüchte und Verleumdungen gekritzelt werden. Ein globaler Basar, auf dem Terroristen öffentliche Hinrichtungen inszenieren. Ein Dschungel, in dem Perverse ihren abartigen Neigungen nachgehen und kleine Kinder zum Missbrauch freigegeben sind. Ein Ort des Faustrechts, der Schamlosigkeit, der Menschenjagd, in dem jeder von jedem zu Tode gehetzt werden kann, nur mit einem Handy. Eine Parallelwelt aus Datenströmen, die von frustrierten Seelen mit ihrer Wut und ihrem Schmerz gespeist werden, unzählige gebrochene Dämme vor den abgenutzten Tastaturen billiger Computer.«

Gallo trank von seinem Bier und betrachtete die Passanten, die am Eingang des Febo vorbeischlenderten, späte Büroangestellte, amerikanische Tramper in gefütterten Outdoor-Jacken, ein gepflegtes älteres Ehepaar mit einem schwarzen Pudel, lauter Statisten auf einem hell angestrahlten Bühnenbild: 1. Akt, eine nächtliche Straße in Amsterdam, übersät mit elektrischen Lichtern. Eine Trambahn rollt vorbei, der Fahrer treibt die Fußgänger mit harten Glockenschlägen auseinander. »Jede Erfindung hatte ihre Kinderkrankheiten, meinst du nicht?«, sagte der Hoofdinspecteur.

»Ja, aber nicht jede hat so unumschränkt als Ventil für negative Energien gedient«, beharrte Van Leeuwen. »Warum brauchen die Menschen dieses Ventil? Woher kommt all diese Wut, dieser ganze Schmerz? Wir müssen uns dieser Frage stellen, denn Wut und Schmerz führen zu Aggressivität, und Aggressivität führt zu Verbrechen – nicht nur zu terroristischen Verbrechen, sondern zu ganz normalem Mord, und manchmal sogar zu Morden, die es nicht gegeben hätte, wenn das Internet nicht diese Plattform böte, um damit zu prahlen. Wer hat dieses Klima der Angst und der Hilflosigkeit geschaffen, in dem all die negativen Energien wachsen und gedeihen? Die Politiker? Die Medien? Die Wirtschaftsbosse? Die Terroristen des elften September? Warum schürt Religion plötzlich Hass, statt ihn zu besänftigen? Warum rufen Gläubige zu Mord und Totschlag auf, statt beides zu ächten?«

Plötzlich, mit einem Gefühl von Scham, fiel ihm der Junge in der Straßenbahn ein, den er geohrfeigt hatte; und dann der Jogger auf dem Friedhof. Was ist mit deinem eigenen Zorn?, dachte er.

»Auch vor der Erfindung des Internets haben die Menschen Verbrechen begangen«, wandte Gallo ein. »Sie haben getötet und gestohlen und des Nächsten Weib begehrt, seit dem ersten Tag.«

»Natürlich«, stimmte Van Leeuwen zu, »bloß wussten sie dabei auch immer, dass sie unrecht taten. Seit der Vertreibung aus dem Paradies wussten sie das. Jeder hatte die Freiheit, sich gegen die Regeln und Gesetze der Gesellschaft zu stellen, immer schon. Jedem stand offen, die Grenzen zu ignorieren, die eine Zivilisation ziehen muss. Aber wenn er das tat, meldete sich sein Gewissen und sagte ihm, dass er für diese Verletzung der Gebote, Gesetze oder Regeln betraft wird, dass das der Preis ist, den er für seine persönliche Auslegung des Freiheitsgedankens zahlen muss.«

Er betrachtete die zerfledderten Tauben, die vor der Automatenwand auf und ab stolzierten, immer hungrig, ewig suchend. »Das Gewissen war so was wie ein Polizist im Inneren der Menschen. Ungefragt und ohne richterliche Erlaubnis hat es sich in ihre Angelegenheiten gemischt und dafür gesorgt, dass sie es doch lieber vorzogen, so zu handeln, wie es für die Gesellschaft am besten war. Und dieses Gewissen wurde geformt von Eltern, Lehrern, Priestern, Zeitungen und Büchern, unter anderem. Aber wer bildet in einer Zeit wie unserer die inneren Polizisten aus? Wenn Lehrer die Ehe brechen, Eltern ihre Kinder verwahrlosen lassen, Priester zum Mord aufrufen und Zeitungen sich selbst zensieren, während ein virtuelles Medium wie das Internet Amok läuft – wie können wir dann noch auf ein funktionierendes Gewissen hoffen?«

»Oder auf weiße Weihnachten?«, sagte Gallo und trank den Rest Bier aus seiner Dose, bevor er sie in den Müll warf. »Was genau verbindest du denn mit einem funktionierenden Gewissen um halb zehn Uhr nachts in einem gut besuchten Febo an der Leidsestraat?«

»Den Wunsch nach Vergebung«, antwortete Van Leeuwen. »Wenn der innere Polizist dich schon nicht davon abgehalten hat, das Gesetz zu brechen, kann er wenigstens darauf hinarbeiten, dass du Reue zeigst, und zwar, indem du beichtest. Ohne Beichte keine Vergebung der Sünden. Und diese Vergebung erlangst du, indem du mir, Commissaris van Leeuwen, sagst, was ich wissen will.«

»Du kommst mir vor wie eine dieser russischen Holzpuppen«, meinte Gallo. »In dem alten harten Polizisten steckt der jüngere idealistische Polizist, und in dem steckt der kleine gottgefällige Messdiener, der gerade aus dir spricht. Bist du schon mal auf den Gedanken gekommen, dass es Menschen geben könnte, die einfach kein Gewissen haben? Oder ganze Kulturen, in denen die Idee eines Gewissens völlig unbekannt ist?«

»In jeder Kultur gibt es Tabus und die Warnung davor, sie zu verletzen«, widersprach Van Leeuwen. »Etwas oder jemand, der dir sagt, dass du was Falsches tust und gerade dabei bist, gegen die Gebote der Gemeinschaft zu verstoßen. Dabei fällt mir ein – wer hat eigentlich für Zheng Wu die Besorgungen gemacht?! Mijnheer Wu sitzt in seiner Wohnung im Rollstuhl, und sein Herz verzehrt sich nach Ailing, aber wer hat ihm das Essen gebracht, damit sein Magen sich nicht selbst verzehrt? Eine junge Frau, ein junger Mann, sein Vermieter – irgendjemand kannte ihn gut genug, um uns die Fragen zu beantworten, auf die Mijnheer Wu so beharrlich schweigt. Diesen Jemand müssen wir finden.«

Plötzlich geschah es wieder: Unvermittelt sah er das Gewimmel der Bummler draußen auf der bunt leuchtenden Bühnenbildstraße an sich vorbeiziehen wie Wesen aus einem Science-Fiction-Film, fremdartig und unvertraut. Es war nur ein Moment, nicht mehr als ein paar Sekunden. Einige harte, heftige Herzschläge lang spürte er mit unerbittlicher Schärfe seinen ganzen Verlust. Als würde ihm gerade jetzt erst bewusst, dass es diese Alltäglichkeit, die Welt des Feierabends für ihn nicht mehr gab und nie mehr geben würde – kein gemeinsames Schlendern Arm in Arm, keine kleinen Sorgen, kein Eilen zu einem Ort, zu einem Menschen, auf den man sich freute.

»Was hast du?«, wollte Gallo wissen.

»Ich frage mich gerade«, sagte Van Leeuwen, »warum das so sein muss: Warum kann man nicht jemanden verlieren, ohne dass es wehtut?«

Gallo schwieg.

»Warum kann man nicht weiterleben wie vorher, nur eben ohne diesen Jemand, den man geliebt hat?«, beharrte Van Leeuwen. »Ohne diese verdammte Lücke?«

Gallo sagte immer noch nichts.

»Das Schlimme daran ist«, Van Leeuwen schob die Hände in die Manteltaschen, »dass man so angreifbar wird. Es kommt ganz plötzlich, aber wenn genau in so einem Moment jemand an mir vorbeigehen würde, jemand, den wir vielleicht schon eine Ewigkeit suchen – ein Mörder sogar –, in diesem Moment würde er mir durch die Lappen gehen.«

»Bestimmt geht das bald vorbei«, meinte Gallo endlich. »Bestimmt ist es nur jetzt so, und in ein paar Wochen oder Monaten stellst du fest, dass die Lücke sich langsam schließt.«

»Das bezweifle ich«, sagte Van Leeuwen. »Vor allem nachts.«

Wieder fuhr dicht am Eingang eine Straßenbahn vorbei und scheuchte mit ihrem harten Glockenschlag die Menge von den Gleisen.

Gallo legte ihm den Arm um die Schultern. »Du glaubst also an die Beichte, an Reue und Vergebung, aber nicht an Trost, ja? An Strafe, aber nicht an Trost?«

Van Leeuwen seufzte. »Ich weiß auch nicht. Ich weiß nur, dass es nicht genug Trost für alle auf dieser Welt gibt. Gute Nacht, Ton.«

»Gute Nacht, Bruno.« Gallo ließ ihn los, und sie kehrten der hellen Höhle des Febo den Rücken und traten auf die Straße. »Du gehst doch jetzt nicht etwa zum Bahnhof?«

Ohne zu antworten, ging Van Leeuwen ein paar Schritte in Richtung Prinsengracht, drehte sich aber noch einmal um und rief: »Hast du dir schon mal darüber Gedanken gemacht, wie die Straßen hier in Amsterdam heißen, Ton? Elandsgracht? Bloedstraat? Galgenstraat? Die ganze Stadt schreit danach, von Bach in einen Choral gepackt zu werden – Herr, erbarme Dich!«