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So sah der Angriff auf Commissaris Bruno van Leeuwen später auf dem Video der Überwachungskamera aus: Das Parkdeck lag im Halbdunkel, nur da, wo es Lampen gab, fiel milchiges Licht auf die grauen Wände und den Betonboden. Die meisten Plätze waren leer. Die wenigen, in großen Abständen voneinander abgestellten Autos wirkten auf dem Schwarz-Weiß-Video entweder grau oder schwarz, und zwischen ihnen konnte man dunkle Zahlen an den Wänden und schwarze Ölflecken neben den hellen Trennstreifen auf dem Beton erkennen. Die Kamera erfasste fast das ganze Parkdeck bis auf einen kleinen Streifen dicht an der Außenwand, wo der Alfa des Commissaris stand. Die Auffahrt war links im Bild zu sehen – ein abwärts gewölbter Betonschlauch, leer, von Leuchtstoffröhren erhellt.
Rechts unten im Bild des Monitors zeigten kleine weiße Zahlen die Uhrzeit an. Auf dem Band war es 21.27 Uhr, und nichts geschah. Auch um 21.28 Uhr geschah nichts, ebenso wenig um 21.29 Uhr und 21.30 Uhr. Niemand war zu sehen, kein Wagen bog aus der Auffahrt auf die für Polizeifahrzeuge reservierte Parkebene, und kein Wagen verließ sie. Der Alfa von Commissaris van Leeuwen blieb außerhalb des von der Kamera erfassten Bereichs, und auch der Commissaris selbst blieb unsichtbar.
Um 21.34 Uhr erschien eine Gestalt in der Auffahrt. Sie hielt sich dicht an der gewölbten Betonwand und ging mit den abgehackten, ruckartigen Bewegungen einer schlecht animierten Spielfigur. Die Gestalt glitzerte und glänzte im Halbdunkel, und als sie näher kam, konnte man erkennen, dass sie ein durchsichtiges Regencape trug, auf dem die Nässe das spärliche Licht in Quecksilber verwandelte. Die Gestalt bewegte sich mit ihren schnellen, ruckartigen Schritten durch den Überwachungsbereich, aber sie blieb auf Distanz zur Kamera. Es konnte ein Mann sein oder eine kräftige Frau, und auch das Gesicht blieb undeutlich; nur ein Kinn unter dem Schirm einer Baseballkappe war zu sehen. Die Hände steckten in den Taschen des Capes und die Schuhe in hellgrauen Gummistiefeln, und alles andere verschwamm unter dem Plastiküberwurf. Es gab keinen Ton, keinen Laut, nur das leise Quietschen des Abspielgerätes.
Der Mann – später stellte sich heraus, dass es ein Mann war – verschwand aus dem Bild, und jetzt lagen Deck und Auffahrt wieder in derselben unheimlichen Leere, grau und schwarz und dunkel, bis plötzlich etwas Schwarzes von rechts vor die Kamera flog. Der Gegenstand war klein, kaum auszumachen. Er flog ins Bild und blieb liegen, und man hätte ihn vergrößern müssen, um zu erkennen, dass es die Baseballkappe war, die der Mann unter dem Regencape getragen hatte. Einige Sekunden lang passierte wieder nichts, nur die Baseballkappe lag da, aber dann verdunkelte sich der Betonboden ganz rechts auf dem Monitor. Unruhige Schatten huschten hin und her, als fände außerhalb des Bildrandes ein Kampf statt, ein schreckliches, lautloses Ringen. Etwas später wurde ein Fuß sichtbar, ein zuckender Fuß, und gleich darauf ein zweiter, bloß die Füße, die scharrten und zuckten und wieder aus dem Bild verschwanden, und auch die Schatten waren fort. Alles war wie vorher, abgesehen von der Baseballkappe.
Fast eine ganze Minute verging, in der nichts geschah, in der man nur ahnen konnte, was dort, wo auch der Alfa stand, vor sich ging; dass dort vielleicht gerade ein Mensch starb. Endlich, am Ende dieser Ewigkeiten währenden Minute, tauchte der Mann in dem glänzenden Plastikcape wieder auf. Das Cape war eingerissen, halb zerfetzt, und jetzt konnte man deutlich erkennen, dass es ein Mann war, ein Mann, der humpelte. Nur das Gesicht blieb noch immer unscharf, abgewandt, als er sich nach der Kappe bückte und sie aufsetzte und mit seinen abgehackten, ruckenden, humpelnden Schritten in die Auffahrt eilte, in der er wenig später nicht mehr zu sehen war.
Zweieinhalb Stunden früher in dieser Nacht hatte Commissaris van Leeuwen noch zu Hause an seinem Schreibtisch gesessen, vor sich die Abendausgabe von De Avond!. Ohne Sakko und Krawatte saß er im Licht der grünen Schirmlampe und blätterte die Zeitung durch, bis er das Impressum fand. Er schrieb die Adresse der Redaktion auf ein Briefkuvert, wobei er zwischen dem Zeitungsnamen und der Straße genügend Platz frei ließ, um später An den Samariter, dringend! und Persönlich! einzufügen. Er faltete die Zeitung wieder zusammen und warf sie in den Papierkorb unter dem Schreibtisch. Dann schob er den Laptop beiseite, um Platz für einen Schreibblock zu schaffen.
Unsere einzige Chance, ihn hervorzulocken, besteht darin, das Menschliche im Unmenschlichen zu finden und sich mit diesem Teil seiner Seele zu verbünden.
Van Leeuwen schraubte seinen Füller auf und drückte ihn mit der Feder gegen das Papier, bis die Spitze sich mit Tinte füllte. Er schrieb:
Sehr geehrter Samariter,
Sie sind meine letzte Hoffnung! Ich weiß nicht mehr weiter!
Ich möchte nicht mehr leben! Ich ersticke!
Nach diesen Worten hielt er inne, betrachtete sie eine Zeit lang und schraubte schließlich den Füller wieder zu. Bleistift, dachte er, oder Kugelschreiber; einen Hilfeschrei schreibt man nicht mit einem Federhalter auf blütenweißem Papier. Er riss das Blatt ab und warf es ebenfalls in den Papierkorb. Aber wie schreibt man so einen Brief überhaupt? Warum hatte er Jacobszoon nicht gebeten, ihm einige davon zu zeigen, so wie sie bei ihm eingetroffen waren, unredigiert, bevor sie in seiner Kolumne abgedruckt wurden? Er versuchte, sich an die Anrufer in der Sendung auf Veronica zu erinnern, den Tonfall, die Stimmung. Dann dachte er an die Nacht nach Simones Tod, als er allein zu Hause auf dem Bett gesessen und die geladene Luger in der Hand gehalten hatte. Aber er stellte fest, dass diese Nacht auf einmal lange zurückzuliegen schien und ebenso die Einsamkeit und Verzweiflung, die er damals verspürt hatte.
Je länger er vor dem leeren Blatt Papier im Schein seiner Schreibtischlampe saß, desto klarer wurde ihm, was es bedeutete, einen solchen Brief zu schreiben; jemand in einer ausweglosen Situation um Hilfe zu bitten, einen Fremden. Er griff nach einem Kugelschreiber und versuchte es erneut.
Sehr geehrter Samariter,
die Wahrheit ist, dass ich diesen Brief nicht schreiben möchte. Ich möchte nicht, dass Sie wissen, wie ich mich fühle und wie mein Leben ist. Ich würde lieber schweigen. Es fällt mir leicht zu schweigen, weil ich niemand habe, mit dem ich reden will. Das, was ich wirklich denke oder fühle, braucht niemand zu wissen. Die Wahrheit ist auch, dass einige Leute denken, ich wäre verrückt. Ich hatte einmal eine Frau, die ich sehr geliebt habe und mit der ich über alles reden konnte. Sie hat mich auch geliebt, allerdings hatten wir nicht dieselbe Auffassung von Liebe. Vor einiger Zeit ist sie gestorben. Aber bevor sie gestorben ist und bevor sie krank geworden ist, hat sie einen anderen Mann gehabt, und deswegen ist die nächste Wahrheit, dass ich nicht weiß, wie ich noch jemand vertrauen soll. Wenn sie nicht krank gewesen wäre, wenn sie nicht gestorben wäre, wie hätte ich ihr jemals wieder vertrauen können? Ich habe einen Beruf, in dem man lernt, den Menschen zu misstrauen, und das habe ich ausgehalten, weil man es aushalten muss und weil jemand mit mir lebte, dem ich vertrauen konnte.
Ich habe versucht, mich umzubringen, aber es ist mir nicht gelungen.
Van Leeuwen sah auf seine Armbanduhr. Es war inzwischen kurz vor halb acht. In zwei Stunden, um halb zehn, traf er sich mit Peer Stoker, dem Mann, der sich für den Alfa interessierte, im Europarking gegenüber vom Hoofdbureau. Er hätte ihm den Wagen lieber bei Tageslicht gezeigt, aber Stoker war bisher der einzige Interessent, und er hatte noch einen Termin um acht, erst danach war er frei. Er halte sich nur für zwei Tage in Amsterdam auf, hatte er gesagt, und wenn man einem Polizeibeamten nicht vertrauen könne, wem dann?
Sehr geehrter Samariter,
ich kann Sie nicht in Ihrer Sendung anrufen, aus Gründen, die ich Ihnen gern persönlich erklären würde, wenn Sie sich mit mir treffen könnten. Bitte, antworteten Sie mir nicht in Ihrer Kolumne, schreiben Sie mir an das Postfach, das auf dem Absender steht. Schreiben Sie mir, wann und wo wir uns treffen können. Die letzte Wahrheit ist nämlich, dass ich einsam bin und nicht mehr weiterweiß. Ich kann das Leben nicht ertragen, ich kann diese Welt nicht ertragen, und die Menschen in ihrem endlosen Leid kann ich auch nicht ertragen.
Van Leeuwen setzte den Kugelschreiber ab und las noch einmal, was er geschrieben hatte. Er starrte auf das Blatt und die Sätze und überlegte. Dies ist mein Angebot, mich mit dem menschlichen Teil deiner Seele zu verbinden, dachte er, damit ich der unmenschlichen Seite das Handwerk legen kann. Er überlegte wieder. Er überlegte lange. Dann unterschrieb er schwungvoll mit:
Ich ersticke! Hochachtungsvoll,
Zheng Wu
Er sah auf und betrachtete das Ausstellungsplakat, das gegenüber seinem Schreibtisch neben dem Fenster hing. Der Schlaf der Vernunft gebiert Ungeheuer. Ging das so? Er benutzte den Chinesen als Köder, um den Mörder an einen Ort zu locken, wo er wartete, versteckt im Hintergrund? Er musste den Brief nur noch einmal schreiben, in Chinesenenglisch, und dann dafür sorgen, dass Wu zur selben Zeit auch an diesem Ort erschien, ein angebundenes Lamm für den Tiger. Und wenn etwas schiefging? Göttliche Gerechtigkeit …
Er betrachtete den schlafenden Mann auf dem Goya-Plakat, der über seinem Schreibtisch zusammengesunken war und der genauso gut tot sein konnte, statt zu schlafen. Plötzlich dachte er: Ungeheuer! Er nahm das beschriebene Blatt Papier und zerriss es.
Danach suchte er den Fahrzeugbrief und den Versicherungsschein des Alfa und fand beide in der Schublade der Kommode im Gang, auf der auch das Telefon stand. Er holte seinen Notizblock aus der Innentasche des Trenchcoats am Garderobenständer, blätterte zu der Seite, auf der er die Telefonnummer von Kornelis Jacobszoon notiert hatte, und wählte sie. Nach dem dritten Klingeln sprang am anderen Ende ein Anrufbeantworter an. Van Leeuwen wartete, bis der kurze Begrüßungstext vorüber war, ehe er sagte: »Mijnheer Jacobszoon, Bruno van Leeuwen hier, Kriminalpolizei Amsterdam. Man hat mir ausgerichtet, dass Sie versucht haben, mich zu erreichen. Das trifft sich gut, denn ich möchte auch mit Ihnen sprechen. Sie können mich heute später zu Hause anrufen, egal, zu welcher Zeit.« Er nannte dem Band noch seine Privatnummer, legte auf und wählte erneut, diesmal die Handynummer von Ton Gallo.
Gallo meldete sich fast sofort. Van Leeuwen sagte: »Ton, Bruno hier. Konzentriert euch auf Jacobszoon, unseren guten Samariter – wo er herkommt, ob er schon immer so hieß, wo er zum Zeitpunkt der Morde war. Seit wann er Van der Meer kennt und wie ihre Verbindung ist. Aber geh so vor, dass er nichts davon merkt.«
»Denkst du, er ist unser Mann?«
»Das sollst du herausfinden, und zwar möglichst, bevor der Ayatollah mit seiner Sonderkommission das zarte Gras niedertrampelt. Ich nehme an, dass Kornelis Jacobszoon nicht sein richtiger Name ist, und das Alter könnte zutreffen. Während wir weg waren, hat er offenbar versucht, mich zu erreichen, und nach dem Artikel im NRC Handelsblad wusste er auch, wo wir waren.«
»An der Quelle des Yangtse«, meinte Gallo.
»Außerdem brauche ich eine einstweilige Verfügung, die jede Form der Euthanasie an Muriel Brautigam verbietet«, fuhr der Commissaris fort, »von wem auch immer.«
»Wer ist Muriel Brautigam?«
»Die junge ALS-Patientin in der Sterbeklinik von Doktor van der Meer. Sein think tank hat der Euthanasie bereits zugestimmt, aber damit sie durchgeführt werden könnte, müsste die Frau verlegt werden, denn in seiner Klinik darf Van der Meer ja keine Sterbehilfe mehr leisten. Wir müssen jemanden finden, der die Verlegung untersagt, und gleichzeitig dafür sorgen, dass jeder, der mit dem Fall befasst ist, davon erfährt.«
Gallo schwieg einen Moment, dann seufzte er. »Du willst sie als Lockvogel benutzen«, stellte er fest. »Aber das Datum …«
»Wenn es ihm ernst ist – und wenn Doktor Menardi recht hat –, wird er eine Ausnahme machen«, sagte Van Leeuwen, »das muss er einfach. Sie leidet entsetzlich. Sie wünscht sich mehr als alles andere den Tod. Sie hat ihn verdient.«
»Nur, wenn es nicht Jacobszoon ist … Bist du sicher, dass der Mörder über ihr Schicksal Bescheid weiß?«
»Er weiß es. Wenn er es nicht ist, findet der Täter sich entweder in Jacobszoons Redaktionsteam, in Van der Meers think tank oder unter den Mitarbeitern der Klinik.«
»Damit sagst du ihm aber auch, dass wir Bescheid wissen.«
»Nein, wir bleiben im Hintergrund. Du musst jemand finden, der als Strohmann fungiert. Versuch es mal mit Oskar Manhijmer, dem Anwalt, er hat bei mir was gutzumachen. Hauptsache, es geht schnell. Und sorg dafür, dass einer unserer Leute in der Klinik ist, als Pfleger verkleidet, der die Brautigam unauffällig im Auge behält.«
»Aber was wird dann aus ihr? Wenn sie so sehr leidet …«
Van Leeuwen betrachtete den Dielenboden unter seinen Füßen, ob er sich auftat, um ihn zu verschlingen. Das tat er nicht; überhaupt nichts geschah. »Sie bekommt Schmerzmittel«, erwiderte er knapp. Er legte auf, schlüpfte in den Trenchcoat und griff nach einem Schirm, denn er konnte Regen gegen die Fensterscheiben schlagen hören. Es war der rote Schirm mit dem rosa-beigen Paisleymuster, den Simone am liebsten gemocht hatte.
Der Regen nahm zu, während er zum Europarking ging, und er dachte, dass es ein Fehler gewesen war, sich so spät noch zu verabreden. Das Parkhaus gegenüber dem Hoofdbureau wirkte in der kalten Nässe verwaist und abweisend. Der Asphalt glänzte schwarz wie ein See aus Teer. Im Parkhaus nahm Van Leeuwen den Lift nach ganz oben. Das Deck erstreckte sich menschenleer im schwachen Schein der blassen Neonröhren. Auf den Stellplätzen standen nur noch wenige Wagen. Der Regen fiel mit einem harten Rauschen, und von Nordosten her wehte der Wind scharf über die Geländer der Außenwand und fing sich jammernd in den Auffahrtsspiralen. Hinter dem Regenschleier funkelten die Lichter der Stadt. Es war 21.17 Uhr, und der Mann, der sich Peer Stoker genannt hatte, war noch nirgendwo zu sehen.
Der Commissaris legte den Schirm mit dem rosa-beigen Paisleymuster zusammengefaltet auf den Kofferraum des Alfa. Ihm fiel ein, dass der Motor bei diesem Wetter vielleicht nicht anspringen könnte; er hatte den Wagen seit einer Weile schon nicht mehr gefahren. Er sperrte die Fahrertür auf, setzte sich hinter das Steuer und schob den Schlüssel ins Zündschloss. Er versuchte zu starten. Der Anlasser surrte, aber nichts geschah. Er versuchte es noch einmal, und wieder passierte nichts, nur ein Klicken und ein kurzes, röchelndes Husten unter der Motorhaube. Van Leeuwen sah auf die Uhr; jetzt war es schon kurz vor halb zehn.
Er zog den Hebel für die Motorhaube, stieg wieder aus und klappte die Haube hoch. Er beugte sich über den Motor, aber er konnte einfach nichts erkennen, weder beim Vergaser noch bei den Zündkerzen. Kein loses Kabel, kein herausgerutschter Stecker. Im Handschuhfach lag eine Taschenlampe, die brauchte er jetzt. Er richtete sich auf und sah zum Fahrstuhl hinüber. Der Lift fuhr gerade mit einem Ruck an und ratterte langsam abwärts. Die Taschenlampe war da, wo sie hingehörte, nur die Batterien mussten dringend ausgetauscht werden. Die flackernde Birne warf kaum Licht zwischen die schmutzigen Schläuche, Kabel und ölverschmierten Zylinder des Motorblocks.
Der Fahrstuhl blieb weit unten stehen, mit einem stumpfen Stoß, ehe er nach einigen Sekunden träge wieder aufwärtsfuhr. Die Birne der Taschenlampe erlosch. Van Leeuwen schlug mit dem Handballen gegen den Boden des Lampenschafts, und für einen Moment strahlte die Birne hell und stark. Jetzt entdeckte er das schwach schimmernde Gewinde einer Zündkerze, die sich gelockert hatte. Er beugte sich vor, um sie festzuschrauben, und da ging die Birne endgültig aus, und auf einmal, ohne dass er etwas anderes sah oder hörte als den näher kommenden Fahrstuhl und den Wind und das Rauschen des Regens, dachte er, er ist da. Eine Gänsehaut schien seinen Nacken zusammenzuziehen.
Er dachte, er ist da, und er wusste plötzlich, dass er Jacobszoon meinte, nicht Peer Stoker, dass es nie einen Mann namens Peer Stoker gegeben hatte und dass der, der da war, ihn töten wollte. Wie gelähmt stand er mit der erloschenen Taschenlampe in der Hand über den Motor gebeugt. Er ist da, er ist nicht mit dem Fahrstuhl gekommen, der Fahrstuhl ist leer und sollte dich ablenken. Aber warum Jacobszoon, warum will er dich töten? Und deine Luger, die verdammte Luger, warum hast du deine Dienstwaffe nie bei dir?
Er war da, und er stand direkt hinter ihm. Van Leeuwen konnte ihn hören, obwohl der Fahrstuhl gerade hielt, und die Tür quietschte, als sie aufging, er konnte das Plastikcape rascheln hören, trotz des Regens, er wusste, dass es ein Plastikcape war, ohne dass er es sah, und er hörte den Wind, der über den Betonboden heulte, und dein Herz, vergiss nicht dein Herz, das in deiner Brust hämmert. Das hörst du auch. Zwischen zwei Herzschlägen war Van Leeuwens Angst so groß, dass er das Gefühl hatte, alles drehe sich um ihn, der Boden schwanke, und ihm wurde übel, aber nur eine halbe Sekunde, nur die winzige Spanne zwischen den zwei Schlägen.
Langsam richtete er sich auf. Seine linke Faust umklammerte die Taschenlampe. »Es hat keinen Sinn«, sagte er. »Mich zu töten hat keinen Sinn.« Aber da war es schon zu spät. Plötzlich wurde er gegen die Karosserie des Wagens gepresst. Er konnte sich nicht mehr bewegen, und er hörte wieder das Rascheln, diesmal ganz nah an seinen Ohren, das Rascheln und Knistern von Zellophan, und dann hörte er nur noch seinen eigenen Atem, als sich die Tüte um seinen Kopf schloss, laut wie eine Brandung. Er sah alles wie durch einen Nebel, unscharf, schlierig, er atmete zu heftig, das Zellophan klebte an seinen Lippen, drang ihm in die Nasenlöcher, und Hitze schoss ihm bis in die Augen, feuchte, stickige Hitze. Ich will nicht sterben!
Er ließ die Taschenlampe fallen und packte die Hände, die ihm die Tüte übergestülpt hatten. Er versuchte, die Finger auseinanderzubiegen, aber die Hände umklammerten seinen Hals, hielten sich an ihm fest. Er trat nach hinten aus und spürte einen Widerstand, hörte ein Stöhnen, und die Hände rissen seinen Kopf zurück, ein scharfer, brennender Ruck, und dann hörte er nichts mehr, nur ein Summen und dahinter das scharfe Knistern von Plastik. Auf seiner Zunge lag ein bitterer Geschmack wie von zerbissenen Orangenschalen.
Er wollte schlucken, doch die Hände pressten seine Kehle zusammen. Die Luft vor seinen Augen flimmerte. Mit aller Kraft stieß er sich vom Kotflügel ab, rammte den angewinkelten Ellbogen zurück, und diesmal war das Stöhnen fast zornig, aber die Hände ließen nicht locker. Er taumelte, sie taumelten beide und verloren das Gleichgewicht. Sie fielen. Van Leeuwen landete auf dem Mann, der ihn töten wollte, und er spürte, wie der andere unter ihm zu strampeln anfing, ihn mit Knien und Stiefelabsätzen zu treffen versuchte. Er wollte sich wegrollen, aber der Mann hielt ihn fest, klammerte sich an seinen Hals, und die ganze Zeit war die Tüte vor seinem Gesicht, über seinem Kopf, und er bekam keine Luft mehr, einfach keine Luft.
Van Leeuwen warf sich herum, drehte sich auf den Bauch, und jetzt war der Mann auf seinem Rücken, und sein Brustkorb drohte zu bersten; die Lungenflügel schienen sich zusammenzurollen wie Blätter im Feuer. Sein Kopf dröhnte. Er trampelte und schlug um sich, trat gegen den Vorderreifen des Alfa, bis er wieder oben war und mit dem Rücken auf seinem Angreifer lag. In Panik zerrte er an den Handgelenken des Mannes, um den Griff zu lockern, während der Körper unter ihm sich aufbäumte, ihn abzuwerfen versuchte. Seine Augen schwollen an und drohten aus den Höhlen zu quellen, und aus dem Dröhnen zwischen seinen Ohren wurde ein Tosen. Feuerräder wirbelten in glühenden Bögen hinter seiner Stirn. Sein Kopf war erfüllt von einem rasenden, inneren Licht.
Gib auf. Gib doch auf.
Das Dröhnen in seinem Kopf ließ nach, und er dachte: Warum nicht? Hör auf, hör auf zu atmen. Er fühlte, wie er tief innen erzitterte, wie sich alles in ihm zusammenzog zu einem hellen, leuchtenden Punkt, der sich nach Erlösung sehnte. Hör auf zu kämpfen, nur ein paar Minuten; in ein paar Minuten ist es vorbei, alles ist vorbei.
Roll up to the magical mystery tour.
Er sah die Tüte nicht mehr, auch nicht die schwachen Lichter an der Decke der Parkebene. Er sah – ein wenig überbelichtet und etwas flimmernd an den Rändern – ein blondes Mädchen in einer roten Windjacke auf einem Fahrrad durch strömenden Regen strampeln, mit nassem Haar. Das Mädchen sah ihn nicht, aber er sah es, vom Traktor seines Vaters aus. Er sah dasselbe Mädchen bei Kerzenschein in der Kirche, in der ersten Reihe, und diesmal sah es ihn auch, mit großen, fragenden Augen. Er sah das Mädchen, als es schon eine Frau war, in derselben Kirche an seiner Seite, und es sagte: Ja, ich will, natürlich will ich. Er sah das Mädchen und die Frau, überall an den Wänden eines bunten, wirbelnden Tunnels aus Bildern, durch den er immer schneller zu fliegen schien; flackernde, schnell aufblitzende Bilder aus seinem Leben, und er flog mitten hindurch, bis zum Ende, und da wartete Sim.
The mystery tour is waiting to take you away.
Auf einmal blähte sich die Tüte vor seinen Augen, frische Luft fuhr ihm wie ein Eishauch über das Gesicht. Jäh schien ihn ein Stromstoß zu durchzucken und züngelte an seinen Nerven entlang bis hinauf ins Gehirn. Der Tunnel zog sich zusammen, die Bilder bekamen schwarze Ränder und schmorten durch.
Das Klebeband, schoss es Van Leeuwen durch den Kopf, er versucht, dir das Klebeband um den Hals zu wickeln. Er riss die rechte Hand hoch, schob sie unter den Tütenrand. Ein Schatten flog vor seinen Augen vorbei, und die Hand wurde gegen seine Kehle gepresst, dicht unter dem Kinn, als der Mann ihm das Band um den Hals wickelte, einmal, zweimal, dreimal, mit rasender, oft geübter Schnelligkeit.
Van Leeuwen konnte immer noch atmen. Er konnte seine Hand nicht mehr bewegen, und er konnte nichts sehen, aber er konnte atmen. Dort, wo die Hand gegen seine Kehle gepresst wurde, kam Luft in die Tüte, nicht viel, aber genug, um nicht zu ersticken. Mit der freien Hand schlug er weiter um sich, und gleichzeitig versuchte er, die gefesselte Hand zu befreien. Mit aller Kraft zerrte er an dem Klebeband, bis etwas in seinem Gelenk brach oder riss und es jedes Mal einen heftigen Schmerz gab, wenn er sie bewegte, und etwas später konnte er sie nicht mehr bewegen, sie war nur noch da und sorgte dafür, dass er nicht erstickte.
Er spürte, wie ihm übel wurde. Die Hitze, die in seinem Kopf gewesen war, ballte sich jetzt hinter seinem Zwerchfell zusammen. Mit der freien Hand schlug er noch immer um sich, doch er traf nur noch den Betonboden, auf dem er lag. Er lag auf dem Boden, und er war allein. Die Tüte über seinem Kopf war noch immer beschlagen. Er konnte nur das feuchte Plastik sehen und einige weit entfernte milchige Lichter. Das Plastik flatterte und knisterte unter seinen Atemstößen, und er hatte Angst, dass er sich erbrechen könnte, in die Tüte, und dann vielleicht doch noch erstickte. Er rollte sich auf die Seite. Ruhig, sagte er sich, du musst ruhig atmen.
Er lag auf der Seite, und sein Kopf ruhte auf dem Beton, und nach einigen Minuten versuchte er, das Klebeband zu lösen. Er fühlte sich leer, völlig leer. Sein Herz schien zu flackern wie die Glühbirne der Taschenlampe. In seinen Ohren rauschte es noch immer, wie das Meer in einer Muschel. Er hatte ein taubes Gefühl im Mund, aber sein Hals und seine Lunge schmerzten, und als er das Klebeband entfernt und die Tüte abgestreift hatte, merkte er, dass auch seine rechte Hand schmerzte, wenn er sie zu bewegen versuchte.
Er wusste nicht, wie lange er so liegen blieb, als hätte er sich zu lange und zu tief unter Wasser aufgehalten, wo er einem unerträglichen Druck ausgesetzt gewesen wäre, bevor der Ozean ihn an den Strand gespült hätte. In seinem Kopf war etwas geplatzt und zerbrochen, und die kleinen Teilchen trieben lose durcheinander und stießen dabei immer wieder aneinander, und jedes Mal tat es weh.
Er lag da, bis er die Kraft hatte aufzustehen. Es regnete noch immer, und als er in den Überwachungsradius der Videokamera trat, zeigten die kleinen Zahlen rechts unten auf dem Monitor 21:56 Uhr.