28
Kornelis Jacobszoon saß hinter einem schlichten Metallschreibtisch in einem kleinen Studio mit schwarzen Wänden, das nur von der Tischlampe erhellt wurde. Es gab noch eine rote Lampe über der gepolsterten Tür und einen Scheinwerfer an der Kamera vor dem Schreibtisch, aber beide waren aus, und der Lichtkreis der Tischlampe reichte kaum bis zu den Stapeln von Videokassetten auf einem Hocker neben Jacobszoons Stuhl. Der Commissaris suchte nach einem Platz, wo er seinen Trenchcoat ablegen konnte. Er fand keinen. Also behielt er den Mantel in den Händen und bemerkte: »Nach unseren Erkenntnissen hat Heleen Soeteman kurz vor ihrem Tod noch einmal versucht, Sie zu erreichen. Können Sie mir sagen, was sie wollte?«
»Heleen hat darum gebeten, in meiner Sendung auftreten zu dürfen«, antwortete Jacobszoon. »Wir haben ihr erklärt, dass ich nur auf Anrufe antworte. Sie war sehr enttäuscht, sehr hartnäckig. Schließlich hat sie sich damit abgefunden. Sie wollte in der nächsten Sendung anrufen, aber dazu kam es dann ja nicht mehr.«
Während er sprach, nahm er eine Kassette nach der anderen von dem Stapel neben seinem Stuhl, las die Beschriftung und legte die Kassette wieder weg. Er hatte schlanke weiße Hände mit kleinen Knöcheln. Finger, die im Lichtkreis an dünne, geschälte Zweige erinnerten. Alles andere an ihm hob sich kaum von der Umgebung ab: schwarze Schnürschuhe aus solidem Leder, eine weiche schwarze Breitcordhose und ein schwarzer Rollkragenpullover. Zu all dem Schwarz passte auch das gletschergraue Haar des Moderators. Es war leicht gelockt, aber nicht zu lang, der perfekte Rahmen für das von den hellblauen Augen beherrschte Gesicht, das trotz der Bestimmtheit, mit der er sprach, mehr Fragen als Antworten zu haben schien.
»Sie sagten, Sie wären Heleen Soeteman ein Mal begegnet. Bei welcher Gelegenheit war das?«, erkundigte sich der Commissaris.
Jacobszoon zögerte einen Moment, entschloss sich dann aber zu antworten. »Sie hat in einer Klinik nach Euthanasie verlangt, und der behandelnde Arzt hat mich um meine Meinung gebeten.«
»Die Klinik von Klaas van der Meer?«
»Ja«, bestätigte der Moderator. »Er wollte wissen, wie ernst es ihr war. Das Prozedere in solchen Fällen verlangt, dass ein Patient, der den Wunsch hat zu sterben, von mehreren Fachleuten angesehen wird. Ich war einer davon.«
»Und waren Sie auch dafür, Mevrouw Soeteman Sterbehilfe zu gewähren?«, fragte der Commissaris.
»Ja.«
»Warum?«
»Der Tod war eine Erlösung für sie. Es war der einzige Ausweg, der ihr noch blieb. Sie hatte ihn verdient.«
Der Commissaris dachte an seinen Besuch in Van der Meers Klinik und daran, dass der Arzt dasselbe gesagt hatte. Der Tod war eine Erlösung für sie.
Der Moderator nahm die nächste Kassette zur Hand, hielt auch ihre Rückseite ins Licht und legte sie ebenfalls zur Seite. »Ich will Ihnen etwas zeigen«, murmelte er. Er griff zum Telefonhörer, wählte eine Nummer und lauschte, aber am anderen Ende hob niemand ab. Er legte den Hörer zurück und zog eine Schublade auf, in der weitere Kassetten lagen. Die oberste schien endlich die gesuchte zu sein, denn er stand auf, ging um seinen Schreibtisch herum und schob sie in den Videorekorder, der auf einem Bang & Olufsen-Fernsehapparat an der Wand neben der Kamera stand. Er schaltete den Fernseher ein. Auf dem Bildschirm erschien in Rot und Schwarz das Emblem des Senders.
»Sind Sie häufiger als Gutachter in Euthanasiefällen tätig?«, wollte der Commissaris wissen.
»Nein, nicht sehr oft«, antwortete Jacobszoon. Der Widerschein des Standbildes verlieh seinen Locken einen rötlichen Schimmer, und es lag wahrscheinlich an diesem Schimmer, dass Van Leeuwen plötzlich das Gefühl hatte, weniger mit einem Menschen zu reden als mit der fast perfekten Nachbildung eines Menschen, einer interaktiven Figur, die sich auf jeden Gesprächspartner einstellen und gleichzeitig bei Bedarf von einem Punkt außerhalb des eigenen Selbst beobachten, steuern und korrigieren konnte.
»Und in welchem Verhältnis stehen Sie zu Doktor van der Meer?«, fragte der Commissaris. »Offenbar gehören Sie ja zu seinem think tank. Sind Sie oft in der Klinik?«
Jacobszoon zögerte wieder, aber diesmal antwortete er ausweichend: »Ich weiß nicht, ob Sie meine Kolumne oder meine Sendung kennen, Mijnheer van Leeuwen …«
»Nur die Kolumne.«
»Dann haben Sie ja vielleicht eine Ahnung davon, was für Menschen mir schreiben oder mich anrufen, welche Probleme sie bedrücken, wie viel von meiner Antwort für sie abhängt.« Jacobszoon nahm die Fernbedienung, die auf dem Videorekorder lag, und richtete sie auf den TV-Apparat wie eine Laser-Pistole. »Wenn man diese Männer und Frauen und ihre Nöte ernst nimmt, bleibt nicht viel Zeit für anderes.«
Das Emblem des Senders verschwand. Stattdessen ertönte klassische Musik aus den Stereo-Lautsprechern, vielleicht ein Stück von Schubert. Dazu erschien, wie von einer unsichtbaren Hand in rotem Neon gemalt, der Schriftzug samariter.nl auf dem schwarzen Bildschirm, bevor die Kamera auf Kornelis Jacobszoon zufuhr, der vor dem schwarzen Hintergrund der Studiowand an seinem Schreibtisch saß. Er trug Kopfhörer, an denen ein kleines Mikro befestigt war. Er richtete seine hellblauen Augen auf die Kamera und sagte: »Hallo, wo immer ihr gerade seid da draußen …«
»Das ist die Sendung von letzter Woche.« Der Moderator trat vom Fernseher zurück. Er drückte auf den Schnellvorlauf, und was sein Ebenbild im Fernsehen sagte, ging im Surren des Bandes unter. Gleichzeitig liefen zwei zappelnde Längsstreifen durch das Bild, sodass sein Oberkörper in mehrere flackernde, verwischte Teile zu zerfallen schien. Ein weiterer Knopfdruck ließ das Band wieder langsamer laufen. Die Streifen verschwanden, und der Samariter im Fernsehen hörte auf, an seinem Schreibtisch zu ruckeln und zu zittern. »… und wie heißt du?«, fragte er gerade, als der Ton zurückkehrte.
»Ja, also, Emma«, hörte man die Stimme einer unsichtbaren jungen Anruferin.
»Wie alt bist du, Emma?«, fragte der Samariter.
»Ja, also, vierzehn«, antwortete die junge Frau, die eigentlich noch ein Mädchen war, »aber bald werde ich fünfzehn.«
»Und du bist schwanger?«
»Ja, stimmt, also, ich krieg Zwillinge, eineiige …«
»Das ist doch schön.«
»Aber es lebt nur eins. Also, eins ist jetzt tot.«
»In welchem Monat bist du denn, Emma?«, fragte Jacobszoon. Im Fernsehen wirkten seine Augen, als könnte man ihm alles anvertrauen, alles würde bei ihm Verständnis finden. Er hatte schon so viel gesehen, dass er immer und in jeder Lage wusste, was zu tun war. Wenn es etwas gab, das einem helfen konnte, wenn eine Lösung für ein Problem existierte, dann fand er sie. Auch Van Leeuwen gelang es kaum, sich diesen Augen zu entziehen. Sie waren groß, fast übernatürlich geweitet und schmerzhaft aufrichtig: ein Schmerz aus hellem Blau, eine Aufrichtigkeit, die sich aus Anteilnahme, Erfahrung und Wissen zu speisen schien.
Emma sagte: »Ja, also, im achten, ich bin im achten Monat.«
»Woran ist denn der eine Zwilling gestorben?«
»Sie … also, es ist ein Mädchen – sie wurde getötet. Ich hab da eine Spritze durch die Bauchdecke gekriegt, weil die Ärzte … Also, die haben festgestellt, dass Sarah so was hat, das heißt Down-Syndrom. Ich habe mich informiert, ich hätte das Kind trotzdem haben wollen, aber dann haben sie bei Sarah auch noch einen schweren Herzfehler entdeckt und gesagt, sie wird das erste Jahr nicht überleben.«
Jacobszoon sagte nichts, er sah nur in die Kamera und hörte zu.
»Der Arzt meinte, ich könnte beide abtreiben, doch das wollte ich nicht.« Die Stimme der jungen Frau, die eigentlich ein Mädchen war, zitterte, und sie schluckte. »Er hat aber auch gesagt, dass ich beide bekommen könnte, also, Sarah und ihre Schwester, Delfin. Nur wär die Gefahr dann sehr groß, dass beide sterben, bei der Geburt, meine ich. Die dritte Möglichkeit, sagte der Arzt, ist, nur eins auszutragen, das gesunde, und das andere abzutreiben, aber das ging jetzt erst, weil das gesunde Kind vorher nicht lebensfähig gewesen wär. Ich hab total viel geweint, die ganze Zeit, weil ich eigentlich beide haben wollte, und jetzt sind auch noch beide da, in derselben Fruchtblase, aber eins ist eben tot. Sarah ist tot.«
»Und Delfin lebt«, sagte Jacobszoon. »Das ist doch auch wichtig, oder? Das ist das Wichtigste, oder nicht? Delfin lebt und wird leben. Wann ist denn die Geburt?«
»Ja, also, in drei Wochen, glaub ich. Aber ich muss jetzt andauernd zur Untersuchung. Vielleicht krieg ich auch bald einen Kaiserschnitt.« Die Stimme der jungen Frau, die eigentlich ein Mädchen war, brach. »Ich zwinge mich einfach, nicht daran zu denken, dass ich … also, dass ich ein totes Kind in mir trage. Früher habe ich mit beiden geredet, mit Sarah und mit Delfin, aber jetzt rede ich nur noch mit Delfin.« Sie begann zu weinen, leise, in kleinen Schüben. »Und warum ich anrufe – ich wollte fragen, ob ich das Richtige getan habe. Soll ich denn weiter mit Sarah reden, obwohl sie jetzt tot ist?«
Einige Sekunden lang sah es so aus, als würde auch Jacobszoon zu weinen beginnen, in der aufgezeichneten Sendung und sogar hier im Studio, denn er gab ein merkwürdiges Geräusch von sich, und als der Commissaris ihm einen Seitenblick zuwarf, sah er, dass seine Augen feucht glitzerten, und seine Mundwinkel zuckten.
»Was soll ich denn nur tun?«, rief das Mädchen, das jetzt keine junge Frau mehr war, ins Telefon.
Jacobszoon schwieg, und auch das Mädchen schwieg, und es war fast so still, dass man das Gefühl hatte, die unsichtbaren Tränen fließen zu hören, bis Jacobszoon endlich sagte: »Da, wo Sarah jetzt ist, geht es ihr gut, Emma. Sie weiß, dass du das Richtige getan hast, damit ihre Schwester leben kann. Was du in dir trägst, ist ihr Echo auf dieser Erde, damit leistet sie Delfin noch Gesellschaft bis zur Geburt. Ich fände es eine gute Idee, wenn sie danach eine Beerdigung bekäme, ein Grab und einen kleinen Stein. Bestimmt möchte Delfin eines Tages wissen, dass sie eine Schwester hatte, die zu krank war, um zu leben.«
Jacobszoon hob die Fernbedienung und drückte auf fast forward. Wieder dachte der Commissaris an Klaas van der Meer und den Besuch in dessen Klinik, bei dem ihm ebenfalls ein Video als Illustration menschlichen Elends im elektronischen Zeitalter vorgeführt worden war. Es kam ihm vor, als läge eine Absicht in dieser zufälligen Wiederholung, ein tieferer Sinn, vielleicht sogar ein Hinweis.
Der Samariter auf dem Bildschirm zuckte über und unter den Bildstörungsstreifen, stabilisierte sich eine Zeit lang und verschob sich dann wieder, als Jacobszoon den Knopf losließ. »Wie lange sind Sie schon verheiratet?«, fragte der Samariter jetzt einen Mann, der schwer und langsam und in großen Abständen ins Telefon atmete.
»Fünfunddreißig Jahre«, sagte der Mann in der Telefonleitung, »aber jetzt will ich nur noch, dass sie tot ist. Tot, das wünsche ich mir am meisten.«
Van Leeuwen merkte, wie sein Herz aus dem Takt geriet, als wären auch bei ihm mit einer Fernbedienung die Geschwindigkeit und Richtung geändert worden, rückwärts statt vorwärts, schnell rückwärts.
»Lieben Sie Ihre Frau nicht mehr?«, fragte der Samariter. Er hatte sich ein wenig der Kamera zugeneigt.
»Nein«, antwortete der Anrufer. »Ich weiß noch, wie es war, als ich sie geliebt habe, aber ich kann es nicht mehr. Ich weiß nicht mehr … ich weiß nicht, was ich noch tun soll … Wir haben doch kein Geld … Unsere Wohnung ist zu klein für den Rollstuhl, und wenn sie … wenn sie sich …«
»Weiter«, sagte der Commissaris. Er fragte sich, woran es lag, dass er nie auf den Gedanken gekommen war, jemandem zu schreiben oder jemanden anzurufen, als Sim noch gelebt hatte. Warum hatte er sich nicht an einen Mann mit hypnotischen Augen gewandt, einen Ratgeber, einen Guru vielleicht; an jemanden, der Hilfe versprach, während er in einer halbdunklen Höhle saß – allein mit einem Telefon und einer Kamera – und wie aus einem unterirdischen Bunker heraus Trost spendete.
Der Psychologe drückte den Fast-forward-Knopf, es gab den Ruck im Bild, der Samariter löste sich auf und setzte sich wieder zusammen, und die nächste Anruferin sagte gerade: »Er will meinen Körper, das weiß ich genau. Er braucht ihn, um weiterleben zu können. Damit er weiter seine Verbrechen begehen kann.«
»Können Sie den Mann beschreiben, Doris?«, fragte der Samariter, ohne dass sein Gesicht irgendetwas anderes verriet als Anteilnahme.
»Er ist doch tot«, erwiderte die Anruferin. »Ich weiß nicht, wie er aussieht, weil er ja keinen Körper mehr hat. Ich glaube, er sieht aus wie die ganzen Terroristen auf den Fahndungsplakaten, wie Osama bin Laden oder Abu Nissan oder wie die alle heißen mit ihren Turbanen und den Bärten und der dunklen Haut, und wenn er erst mal meinen Körper übernommen hat, dann kann ihn niemand mehr erkennen, und er kann wieder Bomben legen und Flugzeuge abstürzen lassen, weil er dann … er ist dann ja ich, und er hat meinen …«
Jacobszoon hob die Fernbedienung und drückte den Aus-Knopf. »So geht das weiter und weiter – Sendung für Sendung die gleichen Anrufe«, erklärte er, »der gleiche Kummer, die gleiche Verzweiflung, der gleiche Schmerz oder die gleichen Hirngespinste.«
Das Bild verschwand, der Monitor wurde schwarz, und für einen Moment wirkte die Dunkelheit im Studio fast hell gegen das, was der Commissaris auf der Kassette gesehen und gehört hatte. Er fuhr in seinen Trenchcoat, denn ihm war auf einmal kalt. »Ach, da wir gerade von Schmerz und Verzweiflung reden«, meinte er, »sagt Ihnen der Name Gerrit Zuiker etwas, Mijnheer Jacobszoon?«
»Nein, sollte er das?«
»Er wurde auch ermordet. In de wallen.«
»Ach ja, davon habe ich gelesen. Jetzt erinnere ich mich.«
»Es könnte sein, dass er Sie ebenfalls angerufen hat. Genauer, in der Redaktion von De Avond! oder bei Ihrer Sendung hier auf Veronica.«
»Woher wissen Sie das?«
»Es ist bis jetzt nur eine Vermutung«, bekannte der Commissaris, »ein Gedanke, der mir gekommen ist. Ich lasse es gerade überprüfen. Zuiker war zwar nicht krank, aber auch völlig verzweifelt. Er wollte nicht mehr leben, genau wie Heleen Soeteman. Zu Hause hörte er immer ein Lied, Help me if you can, I’m feeling down, von morgens bis abends dasselbe Lied. Er hatte das Gefühl zu ersticken. Vielleicht erinnern Sie sich an so einen Brief oder Anruf?«
Jacobszoon schüttelte den Kopf. »Nein, der Name sagt mir gar nichts. Die meisten der Menschen, die uns anrufen oder schreiben, dringen nicht bis zu mir vor, und nur ein Bruchteil schafft es in die Kolumne oder die Sendung. Früher, am Anfang meiner Arbeit, hat jeder dieser Briefe, jeder Anruf mich tief berührt. Sie berühren mich auch heute noch, aber nicht mehr so wie am Anfang. Damals war es fast so, als gingen die Probleme, Sorgen und Qualen der Anrufer und Briefschreiber auf mich über. Sie verbrannten mich. Ich konnte nicht mehr schlafen und nicht mehr essen, es war wie ein Fegefeuer, aus dem ich nicht mehr entkam. Ich habe mich sogar mit einigen der Absender getroffen, weil ich das Gefühl hatte, ihnen eine persönliche Begegnung zu schulden. Ich wollte sehen, ob ich nicht mehr für sie tun konnte, als ihnen nur ein paar tröstende Zeilen zu schreiben oder nachts im Fernsehen einen Rat zu geben.«
Er warf einen Blick auf seine Armbanduhr, dann auf sein Telefon, als wünschte er sich, es möge klingeln und ihn erlösen. »Und wissen Sie, was ich dabei herausgefunden habe? Viele dieser Leute, die so aufwühlende Briefe schrieben oder am Telefon so verzweifelt klangen, waren Heuchler, Lügner, geltungssüchtige Hypochonder. Andere hatten jeden Maßstab für echtes Leid verloren. Sie hatten einfach zugelassen, dass ihr bisschen Elend wuchs und wuchs; sie hatten es gegossen und genährt, bis es ihnen riesig erschien, unerträglich.«
Er rieb sich die Augen mit Daumen und Zeigefinger, und Van Leeuwen fragte sich plötzlich, ob die Intensität seines Blicks nicht reine Müdigkeit war. »Psychologie, hat mal jemand gesagt, ist wie ein Radio – man kann das ganze Universum einstellen. Auf allen Wellenlängen wird gesendet, jeder Mensch ist mein Hörfunk- und Fernsehprogramm, nur dass ich die Sender nicht auswählen kann und sie auch nicht zu meinem Vergnügen einschalte. Hirngespinste oder echtes Leid, sobald ich hier sitze, sobald ich die Post lese, habe ich es mit der Dunkelheit des Universums zu tun. Und ich versuche, nicht mehr hinzuschauen, denn sie ist endlos. Die Dunkelheit ist so endlos und so tief, dass man nie wieder zurückfindet, wenn man nicht achtgibt.«
»Lassen Sie uns noch einmal auf Heleen Soeteman kommen«, unterbrach ihn der Commissaris. »Live in der Sendung haben Sie also nicht mit ihr gesprochen, wie Sie sagen. Aber wie war das bei den Telefonaten außerhalb der Sendung? Hat jemand anders mit ihr geredet, bevor sie zu Ihnen durchgestellt worden ist? Oder die Briefe, die sie Ihnen geschrieben hat, was ist aus denen geworden? Haben Sie den Fall in Ihrer Kolumne behandelt?«
»Nein. Worauf wollen Sie hinaus?«
»Ich dachte, dass vielleicht jemand durch diese Briefe oder Anrufe auf Heleen Soeteman aufmerksam geworden sein könnte.«
»Jemand?«
»Der Mörder.«
Irgendwo hinter der gepolsterten Studiotür klingelte ein Telefon. Es war das erste Geräusch, das in die erstickende Dunkelheit des Studios drang. Jacobszoon schien dem Klingeln zu lauschen, bis es aufhörte, aber auch danach lauschte er noch weiter, und der Commissaris begriff, dass er auf etwas hörte, das in ihm erklang oder geschah. »Sie meinen, jemand könnte sie aus Mitleid getötet haben? Um sie zu erlösen?«, fragte er.
»Ja.« Van Leeuwen schob die Hände in die Manteltaschen. Jetzt wusste er wieder, dass genau das der Gedanke war, den er gestern Nacht kurz vor dem Einschlafen gehabt und sofort wieder vergessen hatte. »Wie gut kennen Sie die Leute, mit denen Sie arbeiten? Ihre Kollegen, das Redaktionsteam hier und bei De Avond! ?«
Der Moderator schüttelte unwillig den Kopf. Das Geräusch, das er in sich hörte, schien leiser zu werden, zu verklingen. »Sie denken doch nicht, dass einer von denen etwas mit der Tat zu tun haben könnte?«
Der Commissaris sagte: »Heleen Soeteman und Gerrit Zuiker wurden beide auf dieselbe Weise ermordet – mit einer Plastiktüte, die ihnen jemand über den Kopf gestülpt und dann mit Klebeband verschlossen hat, bis sie erstickt sind. Was für ein Mensch könnte das Ihrer Meinung nach gewesen sein? Wie würden Sie ihn charakterisieren?«
Jacobszoon überlegte. »Er wollte ihnen nicht wehtun – kein Messer, keine Pistole, kein Knüppel, nichts, das spitze oder stumpfe Verletzungen zufügt. Das bedeutet, er empfand etwas für sie, Mitleid, Anteilnahme, Verständnis. Jemand, der sich wahrscheinlich für einen guten Menschen hält.«
»Aber der trotzdem ein Mörder ist«, entgegnete der Commissaris. Er ging zur Tür. »Ich brauche eine Liste von allen Personen, die mit den Briefen und Anrufen an samariter.nl zu tun haben. Ach, was wird eigentlich nach der Sendung mit Anrufern wie dieser jungen Frau – Emma – vorhin? Oder der Mann mit der kranken Frau im Rollstuhl, was wird aus dem?«
Jacobszoon verschränkte die Arme vor der Brust. »Natürlich versuchen wir, denen, die echte Hilfe brauchen, auch außerhalb der Sendung zu helfen. Das ist vielleicht der einzige Unterschied zwischen Ihrer Arbeit und meiner – wir sind fast immer vor Ihnen da, Mijnheer. Die Menschen, die uns schreiben, die mich anrufen, sind einsam. Sie sind so einsam, dass sie ihr Leben nicht mehr ertragen können. Eine mögliche Folge solcher Einsamkeit ist Gewalt: weil vorher niemand zugehört oder hingesehen hat, weil es nirgendwo Trost oder Hoffnung gab – der alte Mann tötet seine kranke Frau und dann sich selbst, das Mädchen tötet auch noch das gesunde Kind. Und Sie finden sie dann verwirrt bei den beiden kleinen Leichen. Ihnen als Polizeibeamten brauche ich nichts über die Mechanismen von Gewalt zu erzählen – wie sie entsteht, wer sie ausübt, wer sie erleidet, wie sie weitergegeben wird. Heleen Soeteman, derentwegen Sie hier sind – ich nenne Frauen wie sie Seelenschildkröten, Wesen, die ohne Panzer geboren werden.«
Die verschränkten Arme öffneten sich, und Jacobszoon legte die Hände mit den weißen, geschälten Fingern auf die Schreibtischkante. »Manche dieser Frauen spüren instinktiv, was das Schicksal ihnen zugedacht hat, und lassen sich erst gar nicht darauf ein. Keine Männer, keine Gewalt. Sie wenden sich Gott zu, dem Jenseits, verschwinden hinter Klostermauern, tarnen sich mit dem Nonnenhabit. Andere bezahlen mit Einsamkeit, versuchen, niemals aufzufallen, suchen höchstens die Gesellschaft eines Goldfischs oder einer Katze. Jede von denen handelt klüger, als Heleen es getan hat. Heleen fehlte dieses Gespür für ihre eigene Schutzlosigkeit. Sie hoffte immer wieder und wurde stets aufs Neue enttäuscht. Bis ihre tödliche Krankheit ihr keine andere Wahl mehr ließ, als der letzten Enttäuschung zuvorzukommen.«
»Sie meinen, sie hat ihren Tod selbst herbeigeführt?«, fragte der Commissaris. »Weil es sonst niemand mehr gab, der ihre Einsamkeit geteilt hätte, nur der Mörder?«
»Nein, niemand«, bestätigte Jacobszoon und sah ihn an. »Sie haben recht, Heleen war einsam. Ihre Einsamkeit verbindet die Opfer mit den Tätern. Eine solche Einsamkeit, Commissaris, das ist, als wäre man lebendig begraben. Als wäre man sein eigenes Grab.«
»Wenn ich wissen wollte, was Einsamkeit ist, hätte ich Sie danach gefragt«, sagte der Commissaris.