30
Doktor Feline Menardi bewohnte in einem alten, spitzgiebeligen Patrizierhaus am Amsteldijk das oberste Stockwerk mit Aussicht auf den Fluss und die Magere Brug. Es war ein sehr gut erhaltenes, fünfstöckiges Gebäude, verziert mit weißen Fensterrahmen, filigranen Türmchen und kleinen Balkonen. Eine steile Treppe führte aus dem von Schmiedeeisen eingezäunten Vorgarten zu der dunkelrot lackierten Eingangstür. Auf dem Giebeldach thronte eine Messingkugel, die einer herrisch wirkenden Möwe als Ausguck diente. Das erste schwache Licht der umgebauten Gaslaternen längs des Kais malte verschwommene Heiligenscheine aus Gelb und Rosa in die feuchte Luft.
Der Commissaris sah Doktor Menardi schon aus dem Haus treten, als er noch mitten auf der Brücke war. Eine pünktliche Frau, auf die Minute, das schätzte er. Sie trug einen weich fallenden, moosgrauen Kaschmirmantel, darunter Jeans und schlanke Stiefel aus Nappaleder. Ein rotes Filzbarett mit einem schwarzen Lederrand war mit frechem Schwung schräg zum linken Ohr heruntergezogen.
Trotz des Feierabendgedränges der Fußgänger und Radfahrer auf der Brücke erspähte sie ihn von der obersten Stufe der Treppe aus und hob die Hand zu einem kurzen Winken. »Danke, dass Sie mich abholen«, meinte sie, als er die andere Seite des belebten Amstelkais erreicht hatte. »Ich dachte, Sie fühlen sich vielleicht wohler, wenn wir uns nicht in meiner Praxis verabreden, sondern ein bisschen spazieren gehen und dabei reden.«
»Solange ich nicht über meine Frau reden muss«, erklärte der Commissaris, die Hände in den Taschen seines Trenchcoats, den er über die Uniform geworfen hatte.
»Sie müssen über gar nichts reden, wenn Sie nicht wollen, Mijnheer van Leeuwen«, sagte Doktor Menardi, passte eine Lücke im Strom der Skater und Radfahrer ab und überquerte rasch die gepflasterte Straße zum Flussufer.
»Gut, dann spendiere ich Ihnen einen Kaffee und gehe wieder an meine Arbeit«, sagte der Commissaris erleichtert, als auch er auf der anderen Seite angekommen war.
»Sehen Sie sich das an, der reinste Kitsch«, bemerkte die Psychologin und deutete auf den Fluss und die Brücke. Ein Lächeln von fast kindlicher Andacht trat auf ihr Gesicht. Die Sonne war gerade erst untergegangen, und die Glühbirnen an der Magere Brug bildeten ein bunt leuchtendes Spalier in der frühen Dämmerung. Himmel und Wasser teilten sich denselben Kupferton, garniert mit einem unvollendeten Mond. Hinter der Brücke ragte der schlanke Turm der Zuiderkerk grau in die blass nachglühenden Wolken. Durch die hohe Fensterfront der Stopera ganz am anderen Ende des Amstelbeckens fiel der Blick auf die strahlend hellen Gänge des Muziektheaters, in denen die ersten abendlichen Opernbesucher durchs Rampenlicht schlenderten.
»Wollen wir uns nicht noch einen Moment setzen?«, fragte Doktor Menardi. Ohne seine Antwort abzuwarten, ging sie zu einer Bank, die unter den ausladenden Ästen einer Platane stand. Mit einer Hand strich sie über die Sitzfläche. Kühl, aber trocken. Sie setzte sich und klopfte mit derselben Hand auf den Platz neben sich.
Der Commissaris blieb unentschlossen vor der Bank stehen.
»Ich bin nicht Ihre Feindin, Mijnheer van Leeuwen«, sagte die Psychologin. »Ich bin hier, um Ihnen zu helfen. Sie wissen, was passiert, wenn ich Hoofdcommissaris Joodenbreest sage, dass Sie es ablehnen, mit mir zu reden. Und sagen muss ich es ihm, das ist Ihnen doch klar.« Sie sah zu ihm auf, und in ihren dunklen Augen spiegelte sich der Himmel. Sie lächelte jetzt nicht mehr, aber ihr Gesicht war trotzdem offen. »Wenn Sie also nicht über Ihre Frau reden wollen, dann vielleicht über den Jungen in der Straßenbahn?«
»Über den auch nicht«, entgegnete Van Leeuwen.
»Oder über die Fälle, an denen Sie gerade arbeiten«, ergänzte Menardi. »Viele Ihrer Kollegen reden mit mir, wenn sie einen Verlust erlitten haben oder wenn Sie im Dienst jemand töten mussten, und manchmal auch nur, weil sie nicht mehr weiterwissen. Sie fühlen sich dann besser.«
»Ich fühle mich sehr gut, danke«, sagte Van Leeuwen.
»Ja, davon habe ich gehört, von Ihrer Dickköpfigkeit«, meinte Feline Menardi, und ihrer Stimme ließ sich nicht anhören, ob sie damit ein Urteil fällte. »Commissaris van Leeuwen, ganz der unabhängige Mann des neunzehnten Jahrhunderts, der nur seinem inneren Kompass folgt, egal, wohin der ihn führt, während sich alles um ihn herum mithilfe von Radar orientieren muss. Schlafen Sie deswegen nachts in der Centraal Station, weil Ihr innerer Kompass Sie dorthin führt?«
»Das ist ein schöner Name – Feline Menardi, Doktor«, sagte Van Leeuwen und stellte einen Fuß auf die Kante der Sitzfläche.
»Mein Vater war Portugiese, und mütterlicherseits gab es noch ein paar indonesische Zweige an meinem holländischen Stammbaum«, erklärte die Psychologin. »Deswegen der Name und das Aussehen. Und falls Sie sich fragen, wie ich an eine Wohnung in dieser Gegend komme, die habe ich von meinem geschiedenen Mann. Sie weichen mir aus, ist das Absicht?«
Van Leeuwen antwortete: »Ich habe im Bahnhof geschlafen, weil ich dort schlafen konnte, Frau Doktor. Inzwischen kann ich wieder zu Hause schlafen. Davon abgesehen gibt es viel zu viele von diesen Radartypen, die nichts als kreisende Schirme im Kopf haben, um bloß jedem Hindernis rechtzeitig ausweichen zu können und niemandem zu nahe zu kommen!«
»Sie können mich Feline nennen. Bitte, setzen Sie sich doch! Mein Hals fängt an, mir wehzutun.« Ihr Gesicht verschwand langsam in der zunehmenden Dunkelheit, nur das Weiß der Augen und der Zähne blieb. Er zögerte einen Moment, dann setzte er sich neben sie, ohne sie anzuschauen. Der Widerschein der bunten Glühbirnen auf der Amstel war wie ein Feuerwerk, das unter Wasser abbrannte. Etwas weiter von der Magere Brug entfernt blieb vom Fluss nur ein schwarzes Rauschen, das sich klatschend an den Kaimauern rieb, und noch weiter entfernt spielten die Wellen mit den Sternen und Splittern des Mondes Hasch mich.
»Ich arbeite jetzt seit fünf Jahren mit Polizisten«, sagte Feline Menardi, »und die Arbeit ist anders als mit allen anderen Patienten. Ich sage Ihnen bestimmt nichts Neues, wenn ich feststelle, dass Polizisten, und zwar manchmal gerade die jungen, die noch keine dreißig sind, fürchterlich zynisch und verbittert sein können. Das liegt natürlich an ihrem Job, an dem, was sie Tag für Tag erleben. Sie begegnen Mördern, Vergewaltigern, Dieben, Huren, Schlägern, Dealern, Drogensüchtigen, den schlimmsten Menschen. Aber es liegt nicht daran, dass sie so traurig oder zynisch sind, sondern daran, dass sie in normalen Menschen das Schlimmste sehen – das Böse. Von morgens bis abends kommen sie damit in Berührung, wohin sie auch schauen, vierundzwanzig Stunden am Tag, und irgendwann sagen sie sich: Menschen sind Abschaum, nicht besser als Tiere. Dann dauert es nicht mehr lange, bis sie sagen: Ich bin ein Mensch, also bin ich auch der letzte Dreck. Sie sehen die Menschen an, die sie lieben, mit denen sie befreundet sind, und sie sagen sich: Was kann jemand, der Abschaum liebt, selbst anderes sein als Abschaum? Also fangen Sie an, nach Anzeichen dafür zu suchen, bei ihren Freunden, ihren Frauen, ihren Kindern, sie zu beobachten, auf die Probe zu stellen, zu verdächtigen. Sie arbeiten nicht mehr in ihrem Job. Ihr Job arbeitet in ihnen. Er frisst sie von innen auf.«
»Wie die Würmer König Herodes in der Bibel«, kommentierte der Commissaris. »Aber das sind Einzelfälle. Es gibt sie, bloß sind es weniger, als Sie vielleicht denken, wenn Sie die Fälle in Ihrer Praxis hochrechnen.«
»Haben Sie nie an den Menschen gezweifelt?«
»Ich habe nie aufgehört, an ihnen zu zweifeln, aber nicht, weil ich Polizist bin. Höchstens, weil ich selbst ein Mensch bin. Trotzdem halte ich sie nicht für Abschaum, und ich halte mich selbst nicht für den letzten Dreck.«
»Nicht einmal gelegentlich, als Ihre Frau noch lebte?«
Die Frage traf den Commissaris unvorbereitet wie ein harter Schlag gegen die Brust. »Das müssen Sie mir erklären!«
Sie antwortete: »Es gibt bei Turgenjew, dem russischen Schriftsteller, eine Stelle in einem Roman oder einer Erzählung – der Titel fällt mir gerade nicht ein –, wo ein Mann, ein Bischof, am Bett seiner toten Frau kniet und zu Gott betet. Er betet, dass Gott ihn nicht für ihren Tod dankbar lassen sein möge. Ihre Frau war doch auch schwer krank. Ging es Ihnen nicht manchmal so, als sie noch lebte oder kurz danach, dass Sie dagegen ankämpfen mussten, sich ihren Tod zu wünschen?«
Van Leeuwen hatte ein Gefühl, als wiche ihm das Blut erst aus dem Kopf und dann aus dem Herzen. »Wenn ich jetzt Ja sage, kann ich dann sofort gehen?«
Sie wandte den Kopf und sah ihn von der Seite an, aber er blickte weiter nach vorn, und jetzt war es sein Hals, der schmerzte.
»Ich wollte damit sagen, es würde mich nicht stören, wenn Sie so gedacht hätten«, fuhr sie fort. »Wenn Sie für einen Moment oder auch für länger Erleichterung verspürt hätten. Denn wenn es so wäre, könnten Sie sich, ohne sich zu schämen, an dieses Gefühl erinnern und es als eine Möglichkeit betrachten, sich auch das Jetzt leichter zu machen.«
»Schon wieder jemand, der will, dass ich mir alles leichter mache«, gab er schroff zurück. »Wie leicht soll ich mir denn Ihrer Meinung nach den Verlust meiner Frau machen?«
»Das kommt darauf an, wie schwer Sie sich ihn zurzeit machen«, erwiderte sie gelassen. »Trauer ist auch bloß eine Form von Müßiggang, Mijnheer! Es ist okay, im Bahnhof zu schlafen, wenn es Ihnen hilft. Aber was darin zum Ausdruck kommt, ist, dass Sie ja schon versuchen, Erleichterung zu finden. Sie sollten vielleicht in Betracht ziehen, sich nach und nach von Dingen zu trennen, die Sie zu sehr an Ihre Frau erinnern, das gemeinsame Bett, möglicherweise sogar die Wohnung, was immer für Sie sehr stark mit Erinnerungen behaftet ist. Ein Umzug wirkt manchmal Wunder. Und gehen Sie nicht zu oft auf den Friedhof!«
Der Commissaris stand auf. Die Pflastersteine unter seinen Füßen glänzten nass, und hier und dort schimmerte eine Fischschuppe oder ein ganzer Kopf, der einem Reiher aus dem Schnabel gefallen war, als er seine aus dem Wasser geschnappte Beute durch die Luft davongetragen hatte. »Es wird kühl«, stellte Van Leeuwen fest; er fühlte sich, als wäre es sein Kopf, der da lag. »Sie sollten nach Hause gehen.«
»Jetzt sind Sie zornig«, bemerkte Doktor Menardi.
Er schwieg.
»Möchten Sie mit mir über Ihren Zorn reden?«
»Nein!«
Sie stand ebenfalls auf, doch statt zurück über die Straße ging sie auf den Fluss zu und blieb auf der Kaimauer stehen. »Es geht einem an die Nieren zu sehen, wie der Tod Ihrer Frau Ihnen zusetzt«, sagte sie.
»Sie haben keine Ahnung, wie sehr«, sagte er.
»Sie könnten es mir erzählen. Auch wenn Sie es nicht glauben – Reden hilft. Es erleichtert, wie eine Beichte.«
Zheng Wu hat es nicht geholfen, dachte er.
Feline Menardi drehte sich um, und als sie ihn jetzt ansah, stellte er fest, dass sie fast so groß war wie er. »Über irgendetwas müssen Sie mit mir reden, wenn ich dem Hoofdcommissaris sagen soll, dass er Sie nicht zu suspendieren braucht.«
Aus Richtung des weit draußen mit seinem verschwenderischen Lichterglanz prunkenden Amstel Hotel näherte sich ein Passagierschiff, eine schwarze Silhouette, in der lauter goldene Löcher schimmerten, wo in die Deckaufbauten Bullaugen und Kajütenfenster gestanzt waren.
»Also gut«, meinte der Commissaris, »Sie haben recht: Ich bin zornig und wütend, aber nicht – oder nicht nur –, weil meine Frau nicht mehr lebt. Ich wusste ja, dass es so kommen würde. Ich hatte Zeit, mich darauf vorzubereiten – soweit man sich auf den Tod des einzigen Menschen, den man liebt, wirklich vorbereiten kann. Es ist die Idee des Bösen, die mich wütend macht. Ich glaube, dass man anfängt, sich damit abzufinden, wenn es einen nicht mehr wütend und zornig macht.«
Er trat dicht an den Rand der Kaimauer, gegen den die ersten Ausläufer des von dem dunklen Passagierschiff verdrängten Wassers schwappten. Er sagte: »Heute Morgen war ich bei Gericht, wo gegen einen Chinesen, der seinen Cousin umgebracht hat, Anklage erhoben werden sollte. Er hatte die Tat gestanden, er hatte sogar selbst die Polizei gerufen.« In knappen Worten fasste er zusammen, was danach geschehen war, bis zu Ailings Aussage an diesem Vormittag. »Und auf einmal soll es nicht mehr Mord, sondern Notwehr gewesen sein, und das Rouletterad blieb bei Zero stehen. Und da soll ich nicht wütend sein?!«
»Woher wussten Sie denn, dass diese Frau lügt?«
Van Leeuwen antwortete: »Weil ihr Mann mir die Wahrheit gestanden hat, und ich wusste, als er es mir sagte, dass es die Wahrheit war. Ich habe ihn dazu gebracht, über das Motiv zu sprechen. Wissen Sie, manchmal liegt der Schlüssel zur Aufklärung eines Mordes nicht in dem Verbrechen selbst, nicht mal im Täter, sondern im Ermittler. Nur er kann diesen bestimmten Fall aufklären, weil die Lösung nur in ihm angelegt ist, so wie die Tat im Mörder angelegt war. Deswegen hat Zheng Wu sich mir letzten Endes anvertraut. In anderen Fällen dagegen liegt der Schlüssel zur Lösung in der Person des Mörders, und zwar nur in ihm. So ist es vermutlich bei einem Serientäter, hinter dem wir gerade her sind.«
Der Passagierliner war inzwischen so nah, dass seine Turbinen die Luft beben ließen, und der Wind wehte Musikfetzen heran, das Klappern von Geschirr aus der Kombüse, das helle Lachen einer Frau. Die Bugwellen klatschten härter an die Kaimauer, und bald waren sie so laut, dass der Commissaris schreien musste. Das Schiff war jetzt nicht mehr schwarz, sondern weiß mit einem gelben Streifen an der Bordwand, und es hielt direkt auf die Magere Brug zu, die sich träge in der Mitte teilte. Ächzend und klirrend stiegen die beiden Holzflügel in die Nachtluft, bestückt mit roten und violetten Lämpchen.
»Wissen Sie schon etwas über das Motiv des Serientäters?«, rief die Psychologin.
»Mitleid!«, brüllte der Commissaris.
»Mitleid? Mit wem?«
»Mit seinen Opfern!«
Der Passagierliner drosselte das Tempo immer mehr und schob sich langsam zwischen den eng stehenden Brückenpfeilern hindurch. An der Reling zeigten sich Frauen in Abendkleidern und Männer in weißen Jacketts, einige mit Champagnergläsern in den Händen. Die Turbinen übertönten jeden anderen Laut. Der Commissaris und Doktor Menardi sahen zu, wie der Liner majestätisch davonglitt und zwischen den Häusern der Stadt verschwand.
»Er hat seine Opfer aus Mitleid getötet?«, fragte die Psychologin. »Weil er es nicht mehr ertragen konnte, sie leiden zu sehen?«
»Das nehmen wir an«, sagte Van Leeuwen und verschwieg, dass er bisher der Einzige war, der zu dieser Annahme neigte.
Die Psychologin zeichnete mit der Schuhspitze ein unsichtbares Muster auf die Steine, bedächtig, nachdenklich. Schließlich meinte sie: »Wenn wir davon ausgehen, dass Sie recht haben, dann handelt es sich um eine Form von Mitleid, die jede normale menschliche Empathie sprengt. Ein monströses, quälendes Mitleid!«
»Und wie entsteht ein derartiges Mitleid?«
»Wahrscheinlich durch etwas, das der Täter miterlebt hat oder das ihm widerfahren ist, vielleicht … nein, ganz sicher ein Akt von Gewalt. Dieser Akt von Gewalt muss ein tiefes Gefühl von Mitleid ausgelöst haben, das dann in ihm weiter und weiter gewachsen ist, bis er es in einem unerträglichen Ausmaß empfunden hat, einem Ausmaß, das ihn zum Handeln zwang.«
»Er ist also auch ein Opfer?«
Feline Menardi nickte. »Es könnte sein, dass er in seiner Kindheit fortgesetzter Gewalt oder einem einzigen schrecklichen Erlebnis ausgesetzt war, und deshalb hat er sich später in einem Beruf versucht, in dem er anderen Menschen helfen konnte – als Arzt, Krankenpfleger, Priester oder im sozialen Bereich –, bis er eines Tages merkte, dass Hilfe in manchen Fällen eben nicht hilft, nicht ausreicht.«
»Und als er das merkte, ist in ihm die Idee entstanden, die Menschen, für die er ein derartiges Mitleid empfand, zu töten?«, fragte der Commissaris. »Sie gewissermaßen aus ihrer in seinen Augen gleichfalls unerträglichen Lebenssituation zu erlösen?«
»Davor muss allerdings einige Zeit vergangen sein, in der sich der Druck auf ihn stetig erhöht hat«, pflichtete die Psychologin ihm bei. Sie sprach jetzt schneller, als finge sie an, sich für das Thema zu erwärmen. Eine Art Jagdfieber schien sie zu packen, und in ihre Augen trat ein neuer Glanz, der sie noch attraktiver machte. »Als er diesen Druck nicht mehr ertragen konnte, hat er dann jemanden getötet, zum ersten Mal. Aber das hat er nicht als Mord empfunden, sondern als Akt der Nächstenliebe. Danach dürfte dann wieder einige Zeit vergangen sein, bis er zum zweiten Mal getötet hat – so wie vermutlich am Anfang ohnehin längere Pausen zwischen seinen Morden verstrichen sind. Mit der Zeit, das liegt in der Natur dieser Serien, sind die Pausen dann kürzer geworden.«
»Wie kann es sein, dass so jemand jahrelang tötet, ohne auch nur das geringste Aufsehen zu erregen?«, hakte der Commissaris nach. »Selbst wenn seine Opfer bei einer oberflächlichen Untersuchung keine Auffälligkeiten aufweisen, was die Todesursache betrifft, müsste ein Mensch mit einer solchen Veranlagung doch auffallen!«
»Dass er bis jetzt unbemerkt getötet hat, könnte daran liegen, dass er seinen Tätigkeitsbereich ausgeweitet oder verlegt hat«, sagte Doktor Menardi. »Er reist – wenn nötig, weit. Denn es ergeht ihm wie uns allen: Je mehr er weiß, desto klarer wird ihm, wie wenig er weiß. Das Dilemma des modernen Menschen. Auf ihn angewandt, bedeutet das, je mehr er tötet, desto mehr weitet sich sein Blick, und er sieht, wie viele Menschen noch leiden, wie viele noch der Erlösung bedürfen, an wie vielen Orten. Dabei gibt er aber nur sein eigenes Leid weiter, die Gewalt, die er einmal erlitten hat. Er hat eine verkümmerte Seele, die sich von anderen verkümmerten Seelen angezogen fühlt. Und wenn er sie auslöscht, empfindet er für einen kurzen Moment Erleichterung von seiner eigenen Qual, sogar Freude oder eine Art Glück.«
Die beiden Holzflügel der Magere Brug senkten sich wieder über den Fluss und vereinigten sich in der Mitte zu dem Sternbild einer kleinen bunten Brücke.
Der Commissaris drehte sich um und suchte die Gesichter der Passanten auf dem Amsteldijk ab, als könnte der Erlöser unter ihnen sein, auf der Suche nach Opfern. Plötzlich geschah es wieder: Er sah eine Frau, blond, in einem hellen Staubmantel, die ein Fahrrad über das Pflaster schob. Auf dem Gepäckträger des Fiets klemmte eine Tüte, aus der eine Gouda-Kruste hervorlugte. Es war ein alltäglicher Anblick, aber er packte den Commissaris und riss ihn mit sich, fast rewind. Im einen Moment war er hier am Ufer der Amstel, im nächsten ging er eine Treppe hinunter zu einer massiven Holztür, die weit offen stand. Aus dem Halbdunkel dahinter drang der Geruch von Zigarrenrauch, Rotwein in alten Fässern und Käse der verschiedensten Reifestufen.
Er war ein junger Polizist, und Simone lebte noch nicht lange bei ihm in Amsterdam. Zu der Zeit war sie oft allein aufgebrochen, um die Stadt zu erkunden, und bei einem ihrer Streifzüge hatte sie im Souterrain eines Fachwerkhauses in einer schmalen Seitenstraße nahe der Universität ein Käsegeschäft entdeckt, dessen Besitzer halb Holländer und halb Katalane war, ein kleiner, drahtiger Mann mit Augen wie glasierte Kohlen und einem messerklingendünnen Schnurrbart. Er trug stets eine braune, speckige Lederweste über einem karierten Hemd, die Bauchbinde eines Stierkämpfers und eine Baskenmütze, die schon die Anfänge des Spanischen Bürgerkrieges miterlebt hatte und seitdem offenbar auch nicht mehr gewaschen worden war.
Simone hatte eine Nachricht auf dem Küchentisch hinterlassen, wo ihr junger stolzer agent sie finden konnte, und an diesem späten Nachmittag vor dreißig Jahren ging er in seiner blauen Uniform durch den dunklen Laden zu dem noch dunkleren Hinterzimmer, und es war, als durchquerte er ein Gemälde, das farbenprächtige Genrebild eines alten Meisters. Das Gemälde zeigte bauchige rote Käseräder aus Amstelveen, Edam und Voldendam und gelbe Stapel von Fabrikkäse. Es zeigte Boerenkaas aus Rohmilch, löchrigen Gatenkaas und bräunliche Berge von mild und sahnig schmeckendem Frühkäse. Weiter hinten zeigte es blassgrüne Pyramiden von Hartkäsestücken, die schon ein halbes oder ein ganzes Jahr gelagert worden waren und entsprechend würzig und scharf schmeckten, und Gewürzkäse mit dem Aroma von Nelken, Kümmel oder Schnittlauch.
Ganz im Hintergrund zeigte das Bild dann Säcke mit Nüssen auf großen Fässern mit Rotwein aus Italien, Spanien und Frankreich und Türme von Schokoladentafeln, und Bruno van Leeuwen, der junge agent in Uniform, schritt durch dieses alle Sinne betörende Gemälde zu einer Kammer am Ende des Raumes. Dort gab es eine Ebenholztheke, ein paar hochbeinige Hocker und noch mehr Fässer und Regale an den Wänden. Neben der Registrierkasse stand eine rußige Öllampe, deren Licht kaum bis zu den Knoblauchkränzen am Türrahmen reichte. Auf den Hockern saßen drei junge Männer, die hingerissen zusahen, wie der Katalane große, orangefarbene Stücke aus einer Kaaskugel schnitt, und gerade als Van Leeuwen über die Schwelle trat und sich fragte, was wohl an dem Vorgang des Käseschneidens diese Begeisterung auf die Gesichter der jungen Männer zauberte, entdeckte er Simone. Mit nackten, übereinandergeschlagenen Beinen saß sie in einem kurzen schwarzen Kleid auf einem der Fässer, ein Glas Wein in der Hand. Sie saß nur da, sonst nichts, aber sofort erkannte Van Leeuwen, dass die Studenten nicht das Messer des Katalanen oder den Käse betrachteten, sondern seine Frau, und dass jeder von ihnen bereits rettungslos in sie verliebt war, so wie er selbst, und ihm gehörte sie.
Jetzt wusste er wieder, wie stolz er gewesen war, stolz und dankbar, und er wusste auch noch, dass ihn dieses Gefühl nicht davon abgehalten hatte, einen Streit mit ihr zu beginnen, nachdem sie, ein paar Gläser Wein und einige Käsestücke später, den Laden wieder verlassen hatten. Denn damals war ihm die Stadt neu, wild und gefährlich vorgekommen; er hatte um seine unerfahrene Frau gefürchtet, und er war eifersüchtig gewesen. Auf den Straßen dieser Stadt, hatte er gedacht, musste jeder Schritt achtsam getan werden, weil er einen in die falsche Gegend, durch die falsche Tür führen konnte, hinter der ihrer beider Schicksal einschneidend verändert werden konnte oder zumindest unwiderruflich geprägt.
Sie hatten sich auf offener Straße gestritten, im beginnenden Abend, dessen Stimmung dem hier und jetzt ähnelte, und er sah Sim noch vor sich stehen, so deutlich, als bräuchte er bloß die Hand auszustrecken, um sie zu berühren: das blonde Haar, durch das der Wind fuhr, die zornig funkelnden Augen in dem zu ihm hochgereckten, von Leidenschaft und Wein geröteten Gesicht und darunter der schlanke, anmutige Hals, den er neben ihren Augen am meisten geliebt hatte. Er sah sie vor sich stehen und spürte wieder den Schmerz, der so tief ins Herz reichte, wenn man wirklich und aufrichtig liebte und sich keinen anderen Menschen vorstellen konnte.
Es war nur ein kleiner Streit gewesen, gerade heftig genug, um ihm eine Ahnung von Ende und Verlust zu geben, vom Unwiederbringlichen jeder jungen Liebe. Aber er entsann sich, dass er an jenem Abend, bei diesem Streit, den Entschluss gefasst hatte, jedem Abenteuer und aller unnötigen Gefahr abzuschwören. Und während sie sich endlich im Neongeflacker der Reklametafeln küssten, eine Versöhnung wie in einem Technicolor-Film, tat er dies in dem sicheren Gefühl, niemals mehr etwas bereuen zu müssen.
»Sie wollen wissen, ob ich mir manchmal den Tod meiner Frau gewünscht habe?«, fragte er heftig. »Natürlich habe ich das! Ich habe mir ihren Tod gewünscht, weil ich nicht genug von ihr kriegen konnte, von ihrer Zärtlichkeit und ihrer Liebe. Ich habe mir gewünscht, dass sie stirbt, weil ich ihr so gern zusah, wenn sie Zeitung las oder die Blumen goss oder an ihrer Unterlippe zupfte, während sie an ihrer Schreibmaschine saß und über den nächsten Satz für ihren Artikel nachdachte. Dann ihre dunkelbraunen Augen, mit denen sie reden und zuhören und lachen und streiten und weinen konnte. Oder die Art, wie sie ihren Kopf hielt, wenn sie telefonierte, oder wie ihr Hals sich ins Licht neigte, wenn sie sich über ein Buch beugte – das waren alles Gründe, sich ihren Tod zu wünschen.«
Van Leeuwen bohrte die Fäuste immer tiefer in die Taschen des Trenchcoats. »Ich legte gern meinen Arm um ihre Hüfte, und ich war immer glücklich, wenn ich ihre Hand hielt, sie war zart und schlank, und ich dachte, hoffentlich stirbt sie bald. Sie zog sich nicht besonders elegant an, aber das machte nichts, weil alles gut aussah an ihr, sogar die bunten Farben, für die sie eigentlich zu alt war. Wenn wir verreisten, packte sie regelmäßig zu viel ein, egal, ob wir nur für drei Tage nach Zandvoort wollten oder für zwei Wochen in die Toskana, aber sie in ihren bunten Pullovern unschlüssig vor den offenen Koffern stehen zu sehen war so schön, dass ich wusste, ich werde dankbar für ihren Tod sein. Sie liebte Gedichte. Sie schminkte sich immer genau richtig, nicht zu stark und nicht zu schwach. Sie war wie manche Gemälde, die bei jedem Licht wirken, weil sie aus sich heraus leuchten, aus einer inneren Klarheit und Kraft. Das war meine Frau, und es war eine Freude, sie um mich zu haben, die ganze Zeit, jeden Tag bis zum letzten, und natürlich hatte ich die ganze Zeit nichts anderes im Sinn, als mir ihren Tod zu wünschen!«
Doktor Menardi stand dicht vor ihm, und jetzt tat sie etwas Seltsames: Sie reichte ihm wortlos ein Taschentuch. Er schob ihre Hand weg. »Das sind bloß Wasserspritzer«, sagte er heiser, »von dem Passagierschiff eben!« Er wischte sich mit dem Ärmel über die Wangen und leckte sich das Salz von der Oberlippe.
Die Psychologin steckte das Taschentuch wieder ein. Leise meinte sie: »Wenn Sie sie wegen all dieser Dinge geliebt haben, dann muss es doch sehr schwer für Sie gewesen sein, sie weiter zu lieben, als sie … nachdem sie krank geworden war. Ein Alzheimer-Patient ist ja kein einfacher Fall für seine Angehörigen.«
»Wer sagt denn, dass alles immer einfach ist? Dass es einfach sein muss, eine Ehe zu führen? Oder jemanden zu lieben?«
»Können Sie mir etwas über Ihre Einstellung zur Ehe sagen?«
Nein, dachte er, plötzlich erschöpft, das kann ich nicht. Ich habe keine Einstellung mehr, weil ich keine Ehe mehr habe. Ich habe nur noch Erinnerungen. »Ich glaube an Liebe«, erwiderte er. »An Begehren und Zärtlichkeit. An Vertrauen. Ich glaube daran, dass man mit jemand zusammen sein will und gut zu ihm sein will und glücklich ist, wenn man ihn sieht und um sich hat, und das alles, weil man es so will. Ich glaube nicht mehr an Verbote und Tabus, an Du darfst nicht und Du musst. Ich glaube sogar, dass eine verheiratete Frau zwei Männer lieben kann und darf, auf verschiedene Weise oder auf dieselbe, weil es menschlich ist.«
»An all das glaube ich auch«, bekannte Feline Menardi nach einer Pause, »aber geschieden bin ich trotzdem. Es gibt eben nicht immer ein Happy End.«
»Doch«, entgegnete Van Leeuwen, »nur nicht immer an der richtigen Stelle. Was werden Sie nun dem Hoofdcommissaris sagen?«
Sie hob ihre Armbanduhr dicht an die Augen und drehte sich so, dass der Lichtschein einer Laterne auf das Zifferblatt fiel. »Oh Gott, ich muss los.« Sie nahm die Baskenmütze ab und fuhr sich durch das lange kastanienbraune Haar, das sie heute nicht zum Zopf geflochten trug. »Was ich dem Hoofdcommissaris sage? Lassen Sie sich überraschen, Sie werden auch das überleben! Haben Sie das nicht mal gesagt – ich bin ein Überlebender des Happy Ends?« Sie reichte Van Leeuwen die Hand. »Es hat mich sehr gefreut, Sie kennenzulernen, Commissaris.« Sie trat einen Schritt zurück, als wollte sie sich ihn noch einmal vom Scheitel bis zur Sohle einprägen. Dann setzte sie die Mütze wieder auf, drehte sich um und überquerte die Straße, begleitet von einem raschelnden Wirbel goldener und scharlachroter Blätter, die um ihre Beine kreisten, als gäbe es dort, wo sie ging, einen Sog aus Wind und Licht.
Woher weiß sie das?, dachte der Commissaris. Woher weiß sie, was ich vor einer Ewigkeit mal gesagt habe?