22
Das ist der Mann, den wir suchen müssen, dachte der Commissaris: der unbekannte Mann, dessentwegen Heleen Soeteman so aufgeregt war, weil er ihr helfen konnte. Aber wo hat sie ihn kennengelernt? Er stellte sich vor, wie der Mann aus dem Birkenwäldchen trat und über den Acker auf das Gewächshaus zuging, an den Füßen Gummistiefel der Größe dreiundvierzig. Er sah einen Mann ohne Gesicht in einem durchsichtigen Regenmantel mit einer Baseballkappe, und er fragte sich: Hat auch Gerrit Zuiker diesen Mann kennengelernt?
Sie fuhren schweigend zurück nach Haarlem. Zu beiden Seiten der Landstraße stand der Mais hoch, und die vom Wind zerzausten Felder waren rostrot im Licht der Nachmittagssonne. Über den Spitzen der großen Blätter konnte Van Leeuwen eine Pappelreihe sehen und dann einen Kirchturm, um den weiße Seevögel kreisten. Die Sonne schien von der Seite in den Wagen, ihr Licht wechselte sich mit dem Schatten der Maisstauden ab. Ein Wohnmobil mit deutschem Kennzeichen blockierte die Sicht auf die nächste Kurve, und Gallo setzte mehrmals zum Überholen an, aber die an den Seiten unbefestigte Fahrbahn bot nicht genug Platz.
Der Commissaris dachte an die tote Frau und an das, was der junge Tankwart über sie erzählt hatte. Es war keine ungewöhnliche Geschichte. Van Leeuwen hatte sie schon oft gehört, und er war nicht der Einzige. Jeder Polizist kannte sie, kannte Frauen wie Heleen Soeteman und Kinder wie Pim Verhoeven, und natürlich kannte auch jeder Polizist Männer wie Alex Carlsen, und niemand wunderte sich mehr darüber, wie viele es waren. Die Frauen liefen weg und kamen zurück und liefen erneut weg. Die Männer schlugen und bereuten und schlugen wieder, und alles war vergessen, sobald die blauen Flecken verblassten, die Brüche heilten, die ausgerissenen Haare nachwuchsen. Denn zwischen den Mauern aus Leiden und Schweigen blühte stets aufs Neue die Hoffnung; sie war wie Unkraut, das sich nicht ausrotten ließ. Und selbst wenn es weit und breit keine Hoffnung mehr gab, nicht das geringste Fünkchen, selbst dann kam immer noch auf jeden Mann, der schlagen, terrorisieren und beherrschen wollte, eine Frau, die nicht anders konnte, als die Unterwerfung zu suchen, das Elend und die Schläge.
Van Leeuwen drehte sich zu Inspecteur Vreeling und Brigadier Tambur um. Die Stiefel standen in einer Plastiktüte zwischen ihnen auf dem Boden. Julika saß in dem schnellen Flackern von Sonnenschein und Schatten über einen Pappbecher mit Kaffee gebeugt, den sie sich in der Tankstelle an einem Automaten gezogen hatte. Sie hielt den Becher in beiden Händen dicht an ihr Gesicht, trank aber nicht, sondern starrte über den Rand des Bechers hinweg ins Leere.
»Alles in Ordnung, Brigadier Tambur?«, erkundigte sich der Commissaris.
»Ja«, antwortete sie, »natürlich, keine Sorge.« Der Dampf des heißen Kaffees stieg ihr in die Nasenlöcher und kroch gleich darauf wieder heraus, als handelte es sich um eine Sackgasse. Sie setzte den Becher an die Lippen, trank aber nicht. »Ich glaube nicht, dass der Junge etwas mit Heleens Tod zu tun hat.«
»Warten wir die Untersuchung der Stiefel ab – der Erde und der DNS-Spuren –, dann wissen wir, ob er die Wahrheit gesagt hat«, meinte der Commissaris. »Auf alle Fälle sollen Hoofdagent Brugmans Männer sich noch mal in de wallen umhören, ob da jemand in der Nacht von Gerrit Zuikers Tod ein Motorrad gesehen hat, eine Motoguzzi mit einer Geweih-Lenkstange und einem Fahrer, dessen Helm die Aufschrift Easy Rider trug.«
»Dieser Doktor van der Meer«, fragte Inspecteur Vreeling, »wieso wird der eigentlich in den Zeitungen Doktor Death genannt? Er bewegt sich doch innerhalb der Euthanasiegesetze, oder nicht?«
»Der Name stammt noch aus der Zeit davor«, erklärte der Commissaris, »als Euthanasie geduldet, aber nicht erlaubt war. In den Neunzigerjahren gab es in Amerika einen Arzt, der in einem weißen VW-Bus durchs Land fuhr und an sterbenskranken Patienten Tötungen auf Verlangen durchführte. Er ließ sie Kohlenmonoxid einatmen oder verabreichte ihnen Kaliumchlorid-Injektionen. Die amerikanischen Medien haben ihm den Spitznamen Doctor Death gegeben, und weil unsere Zeitungen alles nachmachen, was aus Amerika kommt, hatte plötzlich auch Van der Meer diesen Namen weg. Außerdem stimmt das nicht, was du sagst, Remco: Ein Kind unter vierzehn – auch ein sterbenskrankes – gegen den Willen der Eltern zu töten und ohne einen zweiten Arzt hinzuzuziehen, ist durch kein Gesetz gedeckt, egal, wie sehr dieses Kind nach der Erlösung verlangt. Und Van der Meer bewegt sich auch nicht innerhalb der Gesetze, wenn er Lebensmüden, die weder krank sind noch sonst an irgendwelchen Schmerzen leiden, mit einer Kaliumspritze hilft, Selbstmord zu begehen – das hat mit Sterbehilfe nichts zu tun, und es ist auch bei uns verboten!«
»Es gibt aber Leute, die ihn für einen Heiligen halten«, wandte Vreeling ein, »oder wenigstens für einen Märtyrer …«
»Natürlich gibt es die«, sagte der Commissaris, »und es gibt auch Leute, die glauben, dass Außeridische Leute wie dich und mich in fliegenden Untertassen entführen und auf ihren Planeten schreckliche Experimente mit ihnen veranstalten. Damals, nachdem ich Van der Meer verhaftet hatte, war ich ein paar Mal im Gericht bei den Verhandlungen, aber ich bin nicht wirklich schlau aus diesem Mann geworden. Sein Verteidiger hat immer wieder auf die Tränendrüsen gedrückt und behauptet, nicht Klaas van der Meer stünde da unter Anklage, sondern die Idee der Menschlichkeit, des Mitleids selbst – er ließ es aussehen wie einen Schauprozess gegen den guten Hirten, der einer von Doppelmoral geprägten Gesellschaft die Maske vom Gesicht reißt. Die Richter, sagte er, entschieden in Wirklichkeit nicht über einen Arzt, der seine Patienten von ihrem Leid erlöste, sondern darüber, wie viel Leid jeder von uns zu ertragen hätte – du und ich und die Richter und alle anderen –, wie viele Qualen und Schmerzen, bevor wir endlich sterben dürften. Van der Meer sagte, er gebe den Todkranken ihre Würde zurück. Der Staatsanwalt dagegen sagte im Grunde nur: Zieht dem Mann den weißen Kittel und die ganzen Sentimentalitäten aus, dann habt ihr nichts anderes als einen Serienmörder.«
»Und du?«, fragte Gallo. »Was sagst du?«
Van Leeuwen sah aus dem Fenster, auf den vorbeifliegenden Mais. »Ich habe damals mit einigen Angehörigen gesprochen«, erzählte er, »Angehörigen seiner Patienten, einfach um mir selbst ein Bild zu machen. Die meisten waren ihm unendlich dankbar, sie haben ihn verehrt, weil sie ohne seine Hilfe die Qualen ihrer Verwandten nicht mehr ertragen hätten, von Menschen, deren Körper von Krebs oder Multipler Sklerose zerfressen und entstellt waren, die grauenhafte Schmerzen litten. Aber ein paar waren dabei, da konnte ich spüren, dass sie logen – es waren Heuchler, die einfach nur ihre unbequem gewordenen Angehörigen aus dem Weg haben wollten. Wusste Van der Meer das? Hatte er wirklich alle Chancen auf Heilung oder Linderung des Leids ausgeschöpft? Oder hielt er sich für unfehlbar, für Gott, war er im Grunde nur ein eitler und größenwahnsinniger Mörder?«
Der Commissaris erinnerte sich daran, wie an einem der Verhandlungstage in dem abgedunkelten Gerichtssaal ein Video von dem elfjährigen Tom gezeigt worden war, der sterben wollte. Er erinnerte sich an das eingefallene Gesicht des Jungen, die großen, strahlenden Augen wie zwei Sterne kurz vor dem Erlöschen und die Knochen, von denen die Haut nicht zu unterscheiden war, als wäre sie mit einer Spraydose aufgetragen worden. Er erinnerte sich an das atemlose Schweigen im Raum, als der Junge in die Kamera geflüstert hatte: Bitte, bitte, ich will nicht mehr leben! Es tut so weh … tut so weh. Bitte hilf mir! Und er erinnerte sich an das unterdrückte Schluchzen im Publikum, als Van der Meers Hand die dünne Hand des Jungen festhielt und mit tränenerstickter Stimme raunte: Hab keine Angst, ich bin bei dir, ich helfe dir. Es ist bald vorbei. Und wie der Junge zu lächeln versuchte. Ich bin Mama nicht böse, Papa auch nicht, aber … tut so weh …
»Was sagst du?«, wiederholte Gallo seine Frage. Er setzte den Blinker und beschleunigte, um das Wohnmobil zu überholen, doch als er einen Wagen auf der Gegenfahrbahn bemerkte, drosselte er das Tempo wieder und blieb in der Spur.
Der Commissaris antwortete nicht, sondern dachte an einen anderen Tag im Gericht, an dem Klaas van der Meer im Zeugenstand gesessen hatte: ein großer, hagerer Mann mit kurz geschorenen weißen Haaren und einem grauen Bartschatten um das straffe Kinn, der seine Schultern in einem zu weiten Pullover nach vorn hängen ließ, während der Staatsanwalt in scharfem, selbstgerechtem Ton verkündete, dass es nur ein kleiner Schritt sei, der den Arzt von Auschwitz trenne, ein winziger Schritt, Doktor Mengele, und wir sprechen wieder von lebensunwertem Leben, ein winziger Schritt, bis wir nicht nur unheilbar Kranken die Spritze geben, sondern auch Behinderten und geistig Verwirrten und schließlich jedem, der anders ist als wir.
Plötzlich sprang jemand im Publikum auf, eine Frau in einem schwarzen Kostüm, die Van der Meer mit schriller Stimme und verzerrtem Gesicht anschrie: Du bist kein Mensch, du bist ein Mörder! Gott wird dich mit der Hölle strafen! Und der Arzt saß da wie erstarrt, nichts an ihm bewegte sich, nur seine Augen. Die Pupillen zuckten hin und her, und die Lider blinzelten, ein rasendes Flattern. Seine Augen sahen aus wie wahnsinnige Vögel, die sich aus ihren Höhlen auf die Frau stürzen wollten.
»Ich kann ihn nicht verurteilen«, bekannte der Commissaris, »aber mir stehen die Haare zu Berge.«
Gallo sagte: »Heleen Soeteman war von ihrer Krankheit so geschwächt, dass es sogar einem alten Mann wie Van der Meer möglich gewesen wäre, sie mit einer Plastiktüte zu ersticken, unerkannt, weil er die Spritze nicht mehr benutzen durfte. Aber Gerrit Zuiker?«
Er scherte erneut aus, um zum Überholen anzusetzen. Ein durchdringendes Hupen erklang, so laut und nah, dass Van Leeuwen es bis in den Herzmuskeln spürte. Gallo riss das Steuer zurück und blickte in den Innenspiegel. »Was ist denn mit dem los?«
Van Leeuwen sah in den Außenspiegel und entdeckte einen Tanklastwagen, der sich schnell näherte. Die Scheinwerferbatterie über der Stoßstange des Sattelschleppers flammte auf. Das Gesicht des Fahrers war nicht zu sehen, nur die Stoßstange und die Scheinwerfer und der Kühlergrill im Rückfenster. Das dumpfe Dröhnen des Fünfhundert-Ps-Motors mischte sich mit dem polyfonen Tuten der Presslufthörner des Trucks. Statt abzubremsen, schwenkte der Lastzug auf die Gegenfahrbahn, um zu überholen, aber die Straße war dafür zu schmal. Der Aluminiumkessel hinter dem Sattelschlepper glänzte im blendenden Licht der tief stehenden Sonne, und jetzt schwenkte der Truck wieder hinter den Golf und fuhr noch dichter auf.
Julika rief, »Hat der sie noch alle?!«, und dann brüllte auch Vreeling: »Pass doch auf!«, denn Julika hatte ihm den Kaffee auf den Oberschenkel gekippt. Der Fahrer des Trucks hörte nicht auf zu hupen, und das Dröhnen des Motors hing wie eine Glocke über dem Golf. Van Leeuwen spürte, wie er ganz ruhig wurde und alles wie in Zeitlupe sah, Julika und Gallo und Remco und die Stoßstange des Trucks und dann die Plakatwand einer Immobilienfirma am Straßenrand, weiß vor dem rotgoldenen Mais.
Plötzlich war die Stoßstange nicht mehr im Rückfenster; es war leer bis auf die Straße und die Felder, dafür tauchten die mächtigen Vollgummireifen des Sattelschleppers neben Vreeling auf. Sie schoben sich dicht an dem Golf vorbei, die Hupe blökte weiter, und der Motorenlärm verschluckte jedes Wort. Van Leeuwen sah, dass Gallo versuchte, sich scharf rechts zu halten, so scharf rechts wie möglich, und gleichzeitig nach dem Blaulicht griff, um es aufs Dach zu heften, während vom Asphalt und den Seitenstreifen Staub gegen die Scheiben wallte. Van Leeuwen rief: »Achtung, Ton!«, aber dann waren die Reifen vorbei, und die Stoßstange und die Rücklichter und der gleißende Aluminiumkessel schwenkten vor dem Golf auf die Straße. Nur der aufgeworfene Staub wirbelte noch wie Rauch von einem Brand durch die Luft, und Van Leeuwen dachte: Das war knapp. Gerade noch mal gut gegangen.
Gallo streckte jetzt den linken Arm mit dem Rundumlicht in der Hand aus dem Fenster. Da rief Julika wieder: »Pass auf, Ton!«, und griff nach seiner Schulter. Der Tankzug bremste plötzlich, mitten in einer Kurve. Mit einer Hand am Lenkrad versuchte Gallo, den Golf zum Stehen zu bringen. Aber die Reifen fassten nicht, das Heck brach aus, und der Wagen schoss über den unbefestigten Seitenstreifen die Böschung hinunter. Das Bild kippte. Julika schrie.
Der Wagen raste in den Mais und mähte mit kaum gedrosseltem Tempo Reihe um Reihe der hohen Halme nieder. Die großen braunen Blätter klatschten gegen die Scheiben, und Körner und Schoten und ganze Kolben prasselten auf das Dach und die Motorhaube, sie wurden durch das offene Fenster geschleudert, während eine Staubwolke den Wagen einhüllte und Vögel aus dem Feld aufstoben. Und dann schrie niemand mehr, weil der Golf endlich stehen blieb, im Schatten zwischen den Maishalmen.
Der Motor erstarb.
Und Ruhe.
Gallo starrte durch die Windschutzscheibe, beide Hände auf dem Lenkrad und das Blaulicht im Schoß. Der Commissaris nahm das Blaulicht und befestigte es wieder in seiner Halterung. Vreeling klopfte sich Erde und Maiskörner von der Hose. Julika zitterte. Sie zitterte so stark, dass es ihr erst nicht gelang, die Tür zu öffnen, aber dann schaffte sie es doch und stieg aus und ging, weiter zitternd, von dem Wagen weg und in den Mais hinein.
»Ich habe einen Traum«, sagte Inspecteur Vreeling endlich in die Stille hinein. »Ich sehe einen neuen Tag dämmern, an dem keine Öltankwagen mehr auf unseren Straßen unterwegs sind und alle Verkehrsteilnehmer rücksichtsvoll miteinander umgehen. Ich sehe einen Tag, an dem Polizeibeamte stolz und mit hocherhobenem Haupt in ihren kleinen Dienstwagen über Hollands Straßen fahren, statt sich von dröhnenden Trucks in den Straßengraben drängen zu lassen. Und ich sehe einen Tag, an dem die Polizeibeamten wenigstens ihre Kollegen von der Verkehrsüberwachung informieren, damit sie den Rowdy von der Straße holen, der sie gerade beinahe umgebracht hätte. Ja, diesen Traum habe ich.«
»Er steht unter Schock«, meinte Hoofdinspecteur Gallo zum Commissaris. »Er hält sich für Martin Luther King.«
»Ich habe einen Traum«, wiederholte Vreeling störrisch.
»Träum weiter«, sagte Gallo. »Nicht mal Doktor King hätte davon geträumt, dass die holländische Verkehrspolizei einer so einfachen Aufgabe gewachsen sein könnte.«
Der Commissaris sah Brigadier Tambur nach, die immer tiefer in den Mais hineinging. Reglos hing der Staub zwischen den hohen Halmen, trieb sacht durch die Strahlen der allmählich sinkenden Sonne. Julika blieb stehen, beugte sich vor und stemmte die Hände gegen die Oberschenkel, den Kopf gesenkt, als hätte sie etwas zu ihren Füßen entdeckt, das ihre volle Aufmerksamkeit verlangte. Ihre Beine und Schultern zitterten noch immer.
Der Commissaris stieg aus und stapfte durch den Mais auf Julika zu. Als er sie erreicht hatte, fragte er: »Was ist los mit dir?«
»Feige«, keuchte Julika fast schluchzend, »alle sind so feige. So unendlich feige!« Sie war blass, und eine Gänsehaut überzog ihren Hals und das Brustbein über dem T-Shirt-Ausschnitt.
»Wer ist feige?«
Julika sah Van Leeuwen nicht an. »Die Männer. Wir alle. Ich!« Die Sonne schien sie zu blenden, aber sie achtete nicht darauf. »Dieses Schwein, dieser Alex Carlsen. Mein Vater. Und ich, vor allem ich. Haben Sie das nicht mitgekriegt eben, was für eine Angst ich hatte?!«
»Es war eine gefährliche Situation«, antwortete der Commissaris. »Wir haben Glück gehabt, dass es gut gegangen ist! Und du bist aufgewühlt, es hat dich an den Unfall erinnert …«
»Aber diese Frau, Heleen, die hatte keine Angst«, Julika schüttelte den Kopf, »die ist immer wieder zurückgekehrt, die hat sich diesem Arschloch gestellt, mit dem sie verheiratet war, hat die Prügel auf sich genommen und nicht gekniffen. Und dann ist sie gegangen, als sie so weit war. Das verlangt auch Mut, jemanden für immer hinter sich zu lassen und allein zu leben, mit einer qualvollen Krankheit …« Sie rieb sich die Augen mit dem Handballen.
»Dass sie immer wieder zurückgekehrt ist, war Dummheit«, widersprach der Commissaris schroff, »und dass sie dann endlich gegangen ist, war vernünftig, mehr nicht! Es war keine Heldentat, und vielleicht wäre sie gar nicht krank geworden, wenn sie diesen Schritt ein bisschen früher getan hätte.«
Er griff nach Julikas Arm und ging ein paar Schritte, führte sie mit sich, fort von dem Wagen. Als er stehen blieb, entzog sie ihm ihren Arm, nicht mit einem Ruck, aber entschieden. Sie brauchte ihn, um sich selbst zu umarmen und ihr Zittern zu verbergen.
»Jetzt hör mir mal zu, Brigadier Tambur«, sagte Van Leeuwen. »Es besteht ein großer Unterschied zwischen Feigheit und Angst. Es gibt Menschen, die ihr ganzes Leben lang niemals feige sind, mit sechs nicht und mit sechzehn nicht. Sie sind mit dreißig nicht feige und auch nicht mit sechzig. Manche sind niemals feige bis zu ihrem Tod. Andere sind nie feige, bis sie dreißig oder sechzig werden, aber dann für den Rest ihres Lebens, weil sie plötzlich merken, dass sie sich verändern – dass das, was ihnen bisher die Kraft gegeben hat, tapfer zu sein, nachlässt und weiter nachlassen wird. Wieder andere sind als Kinder mutig und auch als Teenager tapfer und keine Spur von feige, bis ihnen irgendetwas widerfährt, das ihnen die Augen für das Leben öffnet, und plötzlich, vielleicht schon mit zwanzig oder dreißig, ist der ganze Mumm weg, und sie sind von da an feige, weil ihnen klar geworden ist, dass sie nicht unverwundbar sind. Dass niemand seine Hand über sie hält. Und dann gibt es noch welche, die nur in manchen Situationen feige sind, in anderen dagegen überraschend tapfer. Das sind die meisten.«
Er blickte auf die Maisblätter, über denen noch immer die aufgescheuchten Vögel kreisten. »Ein paar nur, ganz wenige«, fuhr er fort, »sind von Anfang an ängstlich, schon als Kind, und sie bleiben so ihr ganzes Leben, ängstlich und vorsichtig, aber sie sind nicht feige. Das Einzige, was zählt, ist der Unterschied: Mit Angst kann man leben, und manchmal muss man es sogar, weil sie ein guter Ratgeber ist. Mit Feigheit zu leben ist schwer. Es geht, doch es ist so schwer, weil es das ganze Leben verändert. So betrachtet, ist es besser, tapfer zu sein, aber nicht immer leichter. Und genau das stellst du gerade fest – dass du tapfer zu sein versuchst, doch dass es nicht immer leicht ist, vor allem, wenn man das erlebt hat, was du mit deinem Vater erlebt hast.«
Julika hörte langsam auf zu zittern. Gallo und Vreeling hatten den Wagen verlassen und betrachteten die Schneise, die er in den Mais geschlagen hatte. Van Leeuwen pflückte einen der reifen Kolben, roch daran und biss hinein. Julika sah ihn feindselig an, wie ein zorniger Schwan. »Manchmal sind Sie einfach unglaublich!«, sagte sie.
»Ich weiß«, sagte er, milde gestimmt von einem Mund voll süßer Maiskörner.