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Die Häuser auf dieser Seite der De Beerstraat standen halb verborgen hinter einer Reihe von hohen Akazien, deren Blätter sich bereits gelb färbten. Es war eine schmale Straße mit kleinen Obst- und Gemüseläden, Galerien, Cafés und Ateliers, und auch die Häuser waren schmal, und nur ihre verzierten Giebel ragten über die Bäume hinaus. In den bleigrauen Mauern saßen kleine, weiß umrahmte Fenster, in deren Scheiben sich der Nachmittagshimmel und die Sonne und die Kronen der Akazien spiegelten. An den Türen gab es Klingelschilder aus Messing, in die mit geschwungenen Buchstaben die Namen der Wohnungseigentümer geprägt waren. Der Commissaris drückte auf den Knopf neben den Namen G. & M. Zuiker. Er hörte das Klingeln hinter der Tür, einen gedämpften Dreiklang. Ein schönes Haus für einen Lehrer, dachte er; eine stille, gepflegte Straße.
Aus einem offenen Fenster drang leise Barockmusik auf das Trottoir. Neben einem Fahrradständer schlief ein Labrador, seine Ohren zuckten. Bunte Schmetterlinge tanzten zwischen den handtuchgroßen Straßengärten, die aus dem Pflaster zu wachsen schienen. Unter der Markise eines Restaurants einige Häuser weiter beendeten zwei junge Männer und eine Frau mit leuchtend blondem Haar ein spätes Mittagessen. Eine halb volle Flasche Olivenöl auf dem Tisch zwischen ihnen glomm wie mit flüssigem Gold gefüllt.
Mevrouw Zuiker, mein Name ist Van Leeuwen. Ich bin von der Polizei, es geht um Ihren Mann, Gerrit. Darf ich bitte eintreten?
Vielleicht ist sie ja nicht da, dachte der Commissaris. Dann musste er wiederkommen. Er wollte es nicht am Telefon erledigen. Er musste so oft wiederkommen, bis sie wusste, dass ihr Mann nicht mehr am Leben war. Sie verdiente es, dass er selbst es ihr sagte, kein Beamter in Zivil oder Uniform, niemand, dem die Erfahrung mit dem Gefühl des Verlustes fehlte. Er wollte behutsam sein. In seinen Augen stellte der Tod ein Band zwischen den Lebenden her, zwischen denen, die hinterblieben waren.
Es hatte fast den ganzen Vormittag gedauert, bis Hoofdagent Jan Brugman und seine Mannschaft bestätigen konnten, dass es sich bei dem Toten wirklich um den Gerrit Zuiker des Bibliotheksausweises in der Aktentasche handelte: dreiunddreißig Jahre alt, geboren in Zandvoort, verheiratet mit Margriet Zuiker, geborene Margriet Linda Brouwers. Gemeldet in Amsterdam, Lehrer an einer allgemeinbildenden Sekundarschule in Oost, keine Kinder, kein Waffenschein, keine Vorstrafen. Besitzer eines Bibliotheksausweises und einer Walther P 38, die allerdings nicht geladen gewesen war, wie die Untersuchung ergeben hatte.
Der Commissaris drückte noch einmal auf den Messingknopf neben dem Namensschild der Zuikers. Wieder hörte er den gedämpften Dreiklang, und diesmal wurde die Tür geöffnet. Im Schatten des Treppenhauses stand eine schlanke junge Frau mit haselnussfarbenem Haar und schmal geschnittenem Gesicht. Sie trug einen leichten, ärmellosen Hausmantel aus verspielt gegeneinandergesetzten Stoffstreifen und Lederflicken in gedeckten Farben, der fast bis zu den Fußknöcheln reichte. Unter dem Mantel hatte sie eine weiße Bluse mit einem überlangen, ungestärkten Kragen an, dazu eine hellblaue, verwaschene Jeans. Die Bluse war vor dem Bauchnabel verknotet, und über dem Nabel formte ein straff sitzender bh aus dunkelroter Seide zwei kleine Brüste zu elfenbeinweißen Halbkugeln. Weiße Riemchensandaletten gaben den Blick auf winzige Füße frei. Es waren zarte Füße, auch ihre Hände waren zart, und der Elfenbeinton fand sich auf den nackten Armen wieder, deren rechter sich so glatt und hell vom Türknopf zur Schulter der jungen Frau hinaufschwang wie der Stoßzahn eines jungen Elefanten.
»Mevrouw Zuiker?«
Die junge Frau sagte nichts. Sie betrachtete ihn mit großen graublauen Augen, neugierig und ängstlich zugleich. Den Kopf hielt sie leicht zur Seite geneigt, und das haselnussbraune Haar fiel glänzend auf die nackte Schulterbeuge hinab, wo die Verletzungen begannen.
Der Commissaris erkannte nicht sofort, dass es sich bei den winzigen roten Strichen auf den Schultern um Verletzungen handelte, Striemen, Kratzer und Schnitte. Erst als die junge Frau einen Schritt auf die Tür zutrat und er auch im Gesicht auf Stirn und Wangenknochen kleine blaue Flecken bemerkte – überschminkt, aber im Sonnenlicht kaum zu übersehen –, begriff er. »Mein Name ist Bruno van Leeuwen, Hoofdbureau van Politie. Dürfte ich wohl einen Moment eintreten?«
»Geht es um Gerrit?« Ihre Stimme war hell, fast eine Mädchenstimme.
»Ist Gerrit der Name Ihres Mannes?«
»Ja.« Die Stimme wurde etwas dunkler, nur ein wenig, aber nun klang sie nicht mehr wie die eines Mädchens. »Ist er tot?«
»Lassen Sie mich bitte eintreten«, sagte der Commissaris. Er spähte an ihr vorbei in das enge Treppenhaus, das sie im gleichen Moment freigab, um ihn vorbeizulassen. Von der Diele führte ein kurzer Flur in einen großen Raum. Der Raum war mit dunklem Parkett ausgelegt und so groß, als hätte er früher einmal als Laden oder Werkstatt gedient. Jetzt beherbergte er ein Blumenmeer.
Rote und gelbe Rosen, Tulpen in allen Farben, weiße Nelken, Lilien und Orchideen, Veilchen, Hyazinthen, Trompetennarzissen und Tausendschön wuchsen und blühten kunterbunt durcheinander in Töpfen und Kästen. Die Blätter und Knospen glänzten wie poliert. Zwischen den Fenstern zur Straße standen Gummibäume und kleine Palmen. Auf der anderen Seite, wo eine Glasfront den Blick auf den Hof eines Fahrradverleihs freigab, filterten mehrere große Farne und Schilfsträucher das Tageslicht. Kein Wohnzimmer, auch kein Arbeitsraum, trotz der beiden überladenen Schreibtische in der Mitte – ein Gewächshaus.
Außer den Schreibtischen gab es in dem von süßem, schwerem Blumenduft erfüllten Gewächshaus noch zwei Holzschränke mit Rolljalousien, eine weiße Leinencouch, einen Polstersessel und eine Stereoanlage. An einer Wand zeigten sich die Umrisse eines offenbar erst kürzlich abgehängten großen Bilderrahmens. Die hellbraunen Vorhänge an den Fenstern zur Straße waren halb zugezogen, aber in der Glasfront zum Hof des Fahrradverleihs stand ein Flügel offen. Der Commissaris konnte einen jungen Mann und eine Frau vor dem in der Sonne schimmernden Durcheinander aus Metallrahmen, Rädern, Felgen und Sätteln hin und her gehen sehen, beide mit Luftpumpen in den Händen.
»Bitte, was ist mit Gerrit?« Margriet war dem Commissaris gefolgt und in der Mitte des Raumes stehen geblieben, die schlanken Arme jetzt vor der Brust verschränkt. Ihre Stimmlage konnte sich nicht für eine Höhe entscheiden.
Der Commissaris fragte: »Warum halten Sie es für möglich, dass Ihr Mann tot sein könnte?«
»Er ist gestern Nacht nicht nach Hause gekommen.« Sie sah zu dem offenen Fensterflügel hinüber. Ihre Kehle bewegte sich, aber ihr Gesicht nicht. Es war starr vor Angst, als hätte man es gegen eine genauso hübsche, nur leicht von schlecht gekitteten Sprüngen gezeichnete Porzellanmaske ausgetauscht. »Wenn ein Mann – wenn jemand nachts nicht nach Hause kommt, und am nächsten Tag steht ein Polizist vor der Tür, muss man dann nicht annehmen …? Es ist doch so … er ist tot?«
»Sie haben recht«, sagte der Commissaris und stellte fest, dass er vergessen hatte, wie man behutsam vorging. »Aber wir kennen die genauen Umstände seines Todes noch nicht.«
Margriet nickte. Ihr Blick schien plötzlich viel weiter zu reichen als nur bis zu dem offenen Fenster und dem Hof des Fahrradverleihs. In den Augenwinkeln zeigten sich Tränen, die sie nicht fortwischte. Sie streckte eine Hand aus, als wollte sie sich festhalten, und als sie ins Leere griff, schien sie es sich anders zu überlegen und schloss beide Arme fest um ihren Oberkörper.
»Kann ich etwas tun, Mevrouw Zuiker?«, fragte der Commissaris. »Soll ich Ihnen ein Glas Wasser holen? Oder möchten Sie allein sein?«
»Nein, nein … bitte, gehen Sie nicht!« Ihre Stimme klang jetzt wie ein ersticktes Schluchzen, während ihr Gesicht noch immer nicht die geringste Regung zeigte. »Ich glaube – ich hätte jetzt sehr gern eine Zigarette.« Sie nickte wieder und ging wie in Trance zu einem der beiden mit Büchern, Zeitungen, Heften, Aktenmappen und Bleistiften bedeckten Schreibtische, den sie mit blind tastenden Fingern nach Zigaretten und einem Feuerzeug absuchte. Als sie beides gefunden hatte, versuchte sie, sich eine Zigarette anzuzünden, aber ihre Hand zitterte zu sehr. Sie legte die Zigarette und das Feuerzeug wieder hin; sie schien vergessen zu haben, wozu beides diente. Kurz schloss sie die Augen. Als sie die Lider wieder öffnete, schimmerten die Wimpern feucht, aber die Augen selbst waren wieder trocken. »War es ein Unfall?«, fragte sie.
»Für ein Verbrechen gibt es bis jetzt keinen Anhaltspunkt«, antwortete der Commissaris und dachte: außer der Pistole. Auf dem Parkett hinter dem Tisch stach ihm ein Glimmen ins Auge, das fast im selben Moment wieder erlosch.
»Sie sehen nicht aus, als wären Sie bei der Verkehrspolizei, Mijnheer … Mijnheer …«
»Van Leeuwen«, sagte der Commissaris noch einmal. Er überlegte, welchen Weg er einschlagen sollte bei diesem Gespräch, das keine Vernehmung war. Es hing davon ab, woran ihm lag, wie tief sein Interesse an dem Toten wirklich reichte. »In seiner Aktentasche haben wir eine Pistole gefunden«, fügte er hinzu.
»Gerrit hatte eine Pistole?« Margriets Stimme wurde noch heller. Sie sah Van Leeuwen ungläubig an, ehe sie ihm jäh den Rücken zuwandte und anfing, von Blumentopf zu Blumentopf zu gehen, wobei sie bei jeder Pflanze kurz stehen blieb, als inspizierte sie eine zum Appell angetretene Armee. Er betrachtete ihren Rücken; sie hielt sich sehr gerade, wie man sich vielleicht eine Soldatenwitwe in einem Roman vorstellte, gerade, beherrscht, tapfer.
»Sie war nicht geladen«, erklärte Van Leeuwen. »Sie lag in seiner Aktentasche, zusammen mit einer Brotdose aus blauem Plastik, einer Zeitung, einem Apfel und einem Bibliotheksausweis, der uns seinen Namen verraten hat.«
Das Glimmen fiel ihm jetzt auch unter dem Polstersessel auf, ebenso überraschend und kurz wie zuvor, wie ein scheues, blitzendes Insekt, das sich zeigte und wieder verschwand, ehe es woanders erneut hervorkam, im Teppich, zwischen den Blumentöpfen, neben der Couch. »Wann haben Sie Ihren Mann zum letzten Mal gesehen?«, hakte er nach.
»Gestern Morgen.« Die junge Frau wandte ihm weiter den Rücken zu und ging mit kleinen ruckartigen Schritten von Pflanze zu Pflanze. »Als er zur Schule fuhr. Er ist – er war Lehrer, müssen Sie wissen.« Sie schien zu überlegen. »Hat er … hat er sich … könnte es sein, dass er sich umgebracht hat?«
Der Commissaris spürte ein Flimmern in der Brust, als baute sich hinter seinem Zwerchfell ein elektrisches Spannungsfeld auf. »Hat er davon gesprochen? Hat er Ihnen gegenüber je die Absicht geäußert, sich umzubringen?«
»Er hat viel gesagt«, antwortete Margriet. »Er hat in letzter Zeit sehr viel gesagt … merkwürdige Dinge. Er hatte Angst, und ich hatte auch Angst. Er hat mir Angst gemacht. Er dachte … er dachte, dass ich ihn … ich weiß nicht, was er wirklich dachte.« Sie drehte sich um, sah Van Leeuwen mit unverhüllter Direktheit in die Augen. »Es war alles so durcheinander, so furchtbar durcheinander.«
Er entdeckte zwei, dann drei weitere gleißende Punkte, die nicht wieder verschwanden, dicht bei einer kleinen Stechpalme. »Wissen Sie, was Gerrit gestern Abend auf den Wallen gesucht haben könnte?«, fragte er und dachte: Behutsam, du musst behutsamer vorgehen.
»De wallen – Gerrit? Du meine Güte, nein! Ist er etwa dabei – ist er … also, bei einer dieser Frauen … ist er gestorben, als er gerade … Wollen Sie mir das sagen?« Ihr Blick war auf einmal fast flehend, und ihre Stimme überschlug sich. »Ich verstehe Sie nicht. Ich verstehe Sie einfach nicht!«
Der Commissaris beobachtete jede Regung in ihrem Gesicht, und unter der scheinbar undurchdringlichen Oberfläche erkannte er, wie sich langsam die Erkenntnis Bahn brach, das Begreifen des Verlustes. Immer deutlicher traten die ersten Anzeichen von Entsetzen, Zorn und Trauer hervor, und er wusste, dass sie nicht mehr rückgängig zu machen waren; dass sie dieses Gesicht für immer verändern würden.
»Er lag auf der Straße, nicht in den Armen einer Frau«, sagte er unwirsch. Plötzlich spürte er wieder das Gewicht in seiner Brust, ein fast schmerzhaftes Ziehen, das neu in seinem eigenen Leben war. Etwas weniger schroff fragte er: »Können Sie mir etwas über Gerrit erzählen? Was war er für ein Mensch? Hatte er Probleme? Hat er mit Ihnen darüber gesprochen, ob ihn etwas belastet hat?«
»Alles!«, rief sie. »Alles hat ihn belastet.« Sie fing an, mit verschränkten Armen auf und ab zu gehen. »Jetzt verstehe ich – jetzt verstehe ich Sie! Sie suchen nach etwas, nicht? Nach einem Grund! Einem Grund dafür, warum er nicht mehr lebt! Alles war der Grund – seine Arbeit, die Schüler, seine Kollegen, ich und er, ja, er selbst!«
Sie sprach immer schneller, während sie in dem großen Raum auf und ab ging. Der Commissaris folgte ihr mit den Augen und entdeckte noch einen der glimmenden Punkte. Er bückte sich, und von Nahem konnte er sehen, dass es sich um winzige Glassplitter handelte, Glas und Quecksilber: die Scherben eines Spiegels, der vielleicht an der Wand gehangen hatte, wo jetzt die leere Stelle darauf wartete nachzudunkeln. Also kein Gemälde, sondern ein Spiegel, zersprungen als Vorzeichen kommenden Unheils.
Margriet sagte: »Die Schüler waren sein Ein und Alles, er hatte überhaupt nichts anderes im Kopf: von morgens bis abends die Schule, die Kinder, ihre Probleme, ihr Elternhaus, ihre Zukunft, nichts anderes. Das hat er den ganzen Tag mit sich herumgeschleppt. Damit ist er am Morgen aus dem Haus gegangen und am Abend zurückgekommen, und nicht mal in der Nacht hat er es abgestellt, dieses Gewicht. Es waren ja nicht nur die Hefte mit den Arbeiten oder die Vorbereitungen auf den Unterricht oder die Beurteilungen, die er schreiben musste – es waren auch die Spannungen, die Gewalt, das Mobbing, der soziale Druck, die Grausamkeit und Rücksichtslosigkeit. Er hat sich um sie gekümmert, um jeden Einzelnen, aber sie wollten das gar nicht, sie wollten ihn nicht, für sie war das Schwäche, er war schwach. Und das haben sie ihn spüren lassen, und dann saß er hier an seinem Schreibtisch und wusste nicht weiter. Manchmal hat er stundenlang am Fenster gestanden und hinausgeschaut, weil er Angst hatte – er dachte, sie beobachten ihn, sie verfolgen ihn, vor allem seit sie diesen Film ins Internet gestellt haben, diesen widerlichen Film …!«
Ihre Worte überstürzten sich. Mit schnellen kleinen Schritten durchmaß sie den Raum, blieb dann abrupt vor einer gelben Rose stehen und riss eins der Knospenblätter aus. Sie starrte die Rose an und riss erst ein Blatt aus, danach noch eins und dann das dritte.
»Welchen Film?«, hakte der Commissaris nach.
Sie schien ihn nicht zu hören, wirkte ganz in Anspruch genommen von der Aufgabe, der Rosenknospe die Blätter auszureißen. »Und dann das Lied«, stieß sie hervor. »Stundenlang verkroch er sich in unserer Dachkammer und hörte das Lied, immer und immer wieder, und ich – ich saß hier und hatte ein Gefühl, als drehte sich eine eiserne Faust in meinem Bauch.«
»Was war das für ein Lied?«
»Help me, heißt es, glaube ich – help me if you can, I’m feeling down –, aber ich konnte ihm nicht mehr helfen … niemand konnte ihm mehr helfen … Es gibt Menschen, denen einfach nicht mehr zu helfen ist, nicht?«
»Davon ist mir nichts bekannt«, erwiderte der Commissaris. Er spürte, wie das elektrische Spannungsfeld hinter seinem Zwerchfell zu flackern begann, als sich allmählich ein Bild von dem Toten zusammensetzte – der tote junge Mann und seine Frau und wie sie hier miteinander gelebt hatten. Er merkte, dass er eine Weggabelung erreicht hatte, und änderte vorübergehend die Richtung. »Sind Sie auch Lehrerin, Mevrouw Zuiker?«
»Nein, nein.« Sie schüttelte den Kopf. »Ich weiß nicht mehr so genau, was ich bin. Zurzeit … also, ich arbeite auf dem Blumenmarkt an der Singel, aber eigentlich wollte ich … ich wollte aufhören zu arbeiten und Kinder haben, ja, Kinder?« Sie beendete den Satz mit einem fragenden Unterton, als wäre sie nicht ganz sicher, ob er wusste, was Kinder waren. »Im Grunde«, sagte sie, »im Grunde ist es so am besten. Es ist so am besten für ihn. Und für die Kinder auch.«
»Welche Kinder?«, fragte der Commissaris.
»Unsere Kinder«, antwortete sie. »Die ungeborenen … Mit einem Vater wie Gerrit, der den Boden unter den Füßen verliert, jeden Tag ein bisschen mehr – help me get my feet back on the ground –, inzwischen kann ich das ganze Lied auswendig. Und das Manifest auch …«
»Welches Manifest?«
»Etwas, das er im Internet gefunden hat – irgendetwas Widerliches, Morbides, die letzte Botschaft von einem Massenmörder, jemand, der ein Massaker an einer Universität in Amerika angerichtet hat …« Sie begann, das Zeug zu durchwühlen, das sich auf einem der beiden Schreibtische stapelte. »Irgendwo hier muss es sein – da, das ist es!« Sie schwenkte ein Blatt Papier und hielt es dann mit beiden Händen fest, und ihre Hände zitterten jetzt wieder, als sie vorzulesen begann: »Ihr habt mein Herz zerstört, meine Seele vergewaltigt und mein Gewissen in Brand gesetzt. Ihr habt geglaubt, es war nur das Leben eines erbärmlichen Wesens, das ihr auslöscht. Dank euch sterbe ich wie Jesus Christus, um alle schwachen und schutzlosen Menschen zu inspirieren.« Sie schnappte nach Luft. »Wer schreibt denn so was? Das hat er gelesen, das hat er abgeschrieben, vervielfältigt, die Worte dieses Massenmörders: Ihr habt es toll gefunden, mich zu kreuzigen. Ihr habt es toll gefunden, Krebs in meinem Kopf zu erzeugen und Schrecken in meinem Herzen und dabei meine Seele zu zerreißen.«
Der Commissaris hörte, wie ihre Stimme jetzt mehrmals in einem Satz die Tonlage änderte, wie sie abwechselnd hell und dunkel, laut und leise, schrill und tief klang, während sie las, und er fragte sich, woran ihn dieser jähe Wechsel erinnerte. Sie ließ das Blatt sinken und kam zu ihm, um es ihm in die Hand zu drücken. »Hier, nehmen Sie das mit, bitte! Ich will es hier nicht mehr haben!«
Er nahm das beidseitig bedruckte Papier, faltete es zusammen und schob es in die Innentasche seines Jacketts. Er hatte das Gefühl, Margriet Zuiker hätte ihn soeben an eine Tür geführt, genauer, an das Schlüsselloch in dieser Tür – das Schlüsselloch zur Hölle. »Gab es in letzter Zeit noch weitere Anzeichen einer Veränderung im Wesen Ihres Mannes?«
»Er stand am Fenster«, sagte sie.
Der Commissaris schwieg.
»Er stand stundenlang am Fenster«, fuhr sie fort. »Sie wollten es wissen, ja? Stundenlang stand er da, zwischen den Blumen, hinter halb zugezogenen Vorhängen, und starrte auf die Straße. Allein vorgestern Abend bestimmt vier Stunden – vier Stunden! Da steht jemand, hat er gesagt, sie verfolgen mich, sie beobachten mich, schon seit Tagen! Ich hab nachgesehen, und da war überhaupt niemand, kein Mensch, und das habe ich ihm auch erklärt: Da ist niemand, Gerrit. Aber er hat weiter hinausgesehen und gesagt: Er wartet auf mich, siehst du nicht? Sie sind hinter mir her, ich habe Angst. Ich habe solche Angst! Ich habe noch mal nachgeschaut, um ihm einen Gefallen zu tun, und diesmal war da tatsächlich jemand, ein Mann, der zu uns herübergeschaut hat, wenigstens wirkte es so, aber nur kurz, dann ist er weitergegangen und nicht zurückgekommen.«
»Wissen Sie noch, wie der Mann ausgesehen hat?«, fragte der Commissaris. Das elektrische Spannungsfeld in seiner Brust schien sich immer mehr aufzuladen.
»Nein, es war doch nur Zufall, irgendein Passant, der gar nicht Gerrit gemeint hat, der nur die Vorhänge gesehen hat und sonst nichts!«, entgegnete Margriet unwillig. »Aber Gerrit … Gerrit hat weiter nach draußen gestarrt und gewartet, dass der Mann zurückkommt. Wie ein Jagdhund, der ein Beutetier entdeckt hat«, sie schluckte, »wie ein Hund, ein Hund … Und dann hat er mich angesehen, so wie ein Hund einen auch nur ganz kurz anschaut, um sich zu vergewissern, dass man ihn versteht, dass alles seine Richtigkeit hat. Aber die hatte es nicht, ich habe ihn nicht verstanden, und da hat er gesagt: Du verachtest mich, nicht? Warum verachtest du mich denn so? Siehst du denn nicht, dass ich ersticke?! Ich ersticke!«
Der Commissaris schaute zu dem Fenster hinüber. Jetzt sah auch er den toten Mann aus dem Rotlichtviertel dort stehen, zwischen den Blumen, hinter den halb zugezogenen Vorhängen, mit müden, verängstigten Augen hinter der geflickten Brille und der Aktentasche in der Hand, und in der Aktentasche eine Brotdose aus blauem Plastik, ein Bibliotheksausweis, ein Exemplar von De Avond!, ein Apfel mit braunen Stellen und eine Pistole der Marke Walther P 38.
Help me if you can.
»Haben Sie ihn denn verachtet?«, wollte er wissen.
Sie schwieg überrascht, als erstaunte es sie, aus seinem Mund eine Frage zu hören, die sie sich selbst seit Längerem stellte. »Ich weiß es nicht«, antwortete sie. »Ich weiß nicht, wie sich Verachtung anfühlt. Ich war doch hier und wollte ihm helfen, doch ich konnte es nicht. Er wollte nicht mehr reden, jedenfalls nicht mit mir. Vielleicht redete er mit seinen Schülern. Oder mit Pieter, das ist einer seiner Kollegen, sein einziger Freund. Aber nicht mit mir. Er hatte angefangen zu trinken, heimlich. Er dachte, ich merke es nicht, er könnte es vor mir verbergen, vor seiner eigenen Frau. Den Genever, den er sich in den Orangensaft gekippt hat, in den Kaffee, in alles. Er hat sich nicht mehr gewaschen und kaum noch die Sachen gewechselt. Das Hemd, die Unterwäsche – alles roch, als hätte er darin geschlafen. Als wäre er ein einsamer, alleinstehender Mann, ein Witwer vielleicht, der nicht mit dem Verlust seiner Frau fertig wird.«
Van Leeuwen sagte nichts. Sie sah seine Miene und redete hastig weiter. »Ich wusste, dass er nachts wach lag und getrunken hat, bis zur Bewusstlosigkeit, bis er in Ohnmacht fiel und in seinen Kleidern eingeschlafen ist. Und morgens hat er einfach weitergeschlafen, den ganzen Vormittag, an den Tagen, an denen er nicht in die Schule musste. Und wenn er dann endlich auf war, konnte er kaum noch still sitzen. Immer ist er herumgelaufen, auf und ab, hin und her, und dabei hat er angefangen, vor sich hin zu reden, unzusammenhängendes Zeug über Sünden und Erlösung und Gott. Ich habe ihn im Dunkeln weinen gehört, und manchmal hat er telefoniert, mitten in der Nacht, und geschrien: Ich ersticke, ich ersticke!, und ich konnte ihn hören und dachte: Tu es doch, tu es doch, erstick endlich!«
Sie wandte Van Leeuwen erneut den Rücken zu, stürzte fast zu den Blumen und beugte sich über eine rote Tulpe, riss auch ihr die Blütenblätter aus, eins und eins und noch eins. Mit jedem Wort öffnete sie das Schlüsselloch zur Hölle weiter. »Wie konnte er mir das antun?! Wie konnte er das sich selbst antun?! Wie konnte er zulassen, dass andere ihm das angetan haben, seine Schüler, das Leben, was weiß ich?« Sie hielt kurz den Atem an, bevor es aus ihr hervorbrach: »Er war so ein Feigling, so eine Niete, so ein Versager, und jetzt ist er tot!«
»Haben Sie ihn deswegen geheiratet?«, fragte Van Leeuwen, »weil er ein Feigling und eine Niete war?«
Sie ließ das letzte Blütenblatt zu Boden fallen und redete weiter, als hätte sie ihn nicht gehört, nur dass ihre Stimme jetzt leise klang, leise und tief. »Vorgestern war es dann so weit – ich habe ihm gesagt, er soll gehen. Ich habe ihm gesagt, dass er unser Haus verlassen soll, dass er sich rausscheren soll! Ich habe es nicht so ruhig gesagt wie jetzt, müssen Sie wissen. Ich habe ihn angeschrien, dass ich diesen Wahnsinn nicht länger mitmache. Ich kann dich nicht mehr sehen, habe ich geschrien, ich ertrage dich nicht mehr, geh weg, verschwinde! Es war, als hätte keiner von uns mehr gewusst, wer er ist und was er tut. Ich glaube, ich habe ihn sogar geschlagen. Ich bin auf ihn losgegangen, und er hat meine Gelenke gepackt; seine Augen waren ganz flach wie die von einem Tier in höchster Angst. Er hat mich festgehalten, aber ich habe mich losgerissen, und dabei habe ich dann das Gleichgewicht verloren und bin in den Spiegel gestürzt, der da an der Wand hing, da, wo nun die helle Stelle ist. Sieben Jahre Pech, sagt man doch, oder?
Sie holte tief Luft. »Der Spiegel ist heruntergefallen und in tausend Stücke zersprungen. Wie ein Bienenschwarm sind die Splitter und Scherben herumgeflogen, ich hatte überall Schnitte und Stiche, im Gesicht und auf den Schultern und sogar im Haar, und geblutet habe ich auch, aber wenigstens war es raus. Was gesagt werden musste, war raus. Und deswegen war ich auch nicht sehr traurig, als er gestern nicht nach Hause gekommen ist. Ich war wirklich nicht sehr traurig. Endlich hat er ’s begriffen, dachte ich. Endlich.«
Help me if you can, I’m feeling down.
»Wissen Sie noch, wann Sie das letzte Mal glücklich waren, Sie und Gerrit?«, fragte der Commissaris.
Margriet drehte sich wieder um, sah Van Leeuwen aber nicht an. »Er ist doch tot.« Ihre Stimme verlor sich, als würde Gerrit bereits jetzt in ihrer Erinnerung kleiner und kleiner und stünde kurz davor, völlig zu verblassen. Sie versuchte, dieses merkwürdige Wort nachzusprechen: »Glücklich?« Nachsichtig schüttelte sie den Kopf. »Vor ein paar Tagen, im Park, da war ein Baum, ich weiß nicht mehr, was für einer – irgend so ein Baum eben, mit roter Rinde und Nadeln an den Ästen und vielen braunen und schwarzen Rissen im Stamm. Und wenn man ganz dicht an den Baum ranging, konnte man das getrocknete Harz auf der Rinde sehen und lauter kleine gelbliche Insekten, die tot waren. Ihre Köpfe zeigten nach oben, als hätten sie versucht, an dem Baum hochzuklettern, bis zum Wipfel. Aber keines von ihnen war angekommen, keines von ihnen hatte es bis ganz hinauf geschafft, alle waren auf dem Weg an die Spitze vertrocknet und kleben geblieben, einige ganz weit unten, andere in der Mitte und ein paar sogar ziemlich weit oben. Alle tot, alle vertrocknet. Aber als sie noch lebten, als sie unbedingt da hochkrabbeln wollten, als sie kletterten und kletterten, was meinen Sie: Waren sie da glücklich oder unglücklich?«
Ihr habt geglaubt, es war nur das Leben eines erbärmlichen Wesens, das ihr auslöscht.
»Wann können Sie vorbeikommen, um die Leiche zu identifizieren?«, erkundigte sich der Commissaris.
»Muss ich das?«
»Ja, das müssen Sie.« Er ging zur Tür, ohne dass sie ihm folgte, und dort drehte er sich noch einmal um. »Ach, etwas interessiert mich noch: Was ist für Sie eigentlich eine Ehe?«
Er hatte keine Antwort erwartet, aber so schnell, als hätte sie sich genau darüber schon seit Längerem ausgiebig Gedanken gemacht, erklärte sie: »Etwas, das zu schnell verblüht. Etwas, dem die Blätter ausgerissen werden.« Margriet stand da und sah ihn an, und um sie herum lagen glimmend und schimmernd die winzigen Splitter wie übrig gebliebene Reste des Materials, aus dem sie gemacht worden war. »Und für Sie?«
»Vergangenheit«, antwortete der Commissaris.
Won’t you please, please help me!