40

Die Beamten des Einsatzkommandos hatten die Zufahrt zur Scheeps-Timmermanstraat abgeriegelt, und jetzt warteten sie in Mannschaftsbussen im Regen und sahen zum Eingang des letzten Hauses am Kai von Borneo Eiland hinüber, wo das Wasser begann. Die schmalen Straßen der Halbinsel im alten Hafen von Amsterdam lagen menschenleer zwischen den niedrigen, vielfarbig verkleideten Gebäuden. Es war eine teure, begehrte Wohngegend – eine moderne Festungsmauer aus niedrigen, rechteckigen Häusern, deren Fenster auf das IJ hinausgingen. Die breiten Wedel der Palmen auf den Dachterrassen troffen vor Nässe. Verschachtelte Fassaden in Grau, Schilfgrün und Nussbraun zeigten, was man alles mit Holz, Glas, Beton und Eisen anstellen konnte, aber der Commissaris dachte in diesem Moment ausschließlich daran, was vielleicht gerade im Inneren des Hauses von Kornelis Jacobszoon mit einer Zellophantüte angestellt wurde.

Alle Vorhänge und Jalousien hinter den Panoramafenstern waren geschlossen. Van Leeuwen stand vor der eisenbeschlagenen Tür und drückte auf den Klingelknopf mit dem geschwungenen Namenszug Jacobszoon darunter. Während er wartete, blickte er in das elektronische Auge über der Klingel, und als niemand öffnete, drückte er den Knopf immer wieder, bis eine durch die Gegensprechanlage verzerrte Stimme fragte: »Wer ist da?«

»Commissaris van Leeuwen.«

Die Stimme schwieg einige Sekunden, dann fragte sie: »Was wollen Sie?«

»Ich will reinkommen.«

»Warum?«

Der Commissaris antwortete nicht, was sich als richtig herausstellte, denn einige Sekunden später sagte die Stimme:

»Kommen Sie, aber allein!« Dann summte der Türöffner. Der Commissaris gab Inspecteur Vreeling und den Männern des Einsatzkommandos ein Zeichen, ich gehe allein, ihr wartet auf weitere Anordnungen, bevor er die Tür aufstieß. Rasch schritt er durch die elegant mit Holz und Marmor dekorierte Diele zur Treppe des schmalen Hauses. Seine linke Hand steckte in der Tasche des fast völlig aufgeweichten, schwer an seinen Beinen klebenden Trenchcoats. Inspecteur Vreelings Sig Sauer, die er in der Tasche umklammerte, machte ihn nicht leichter.

Das Erdgeschoss und die Treppe lagen im Dunkeln. Als Van Leeuwen die Stufen hinaufstieg, verspürte er wieder einen stechenden Schmerz im Gelenk der eingegipsten Hand. Auf dem Treppenabsatz sah er sich um. Er bemerkte die angelehnte Tür gleich vorn im Gang des ersten Stocks und ging darauf zu. »Doktor Jacobszoon?«, sagte er. Er bekam keine Antwort und ging weiter, bis er die Tür erreicht hatte. »Doktor Jacobszoon? Doktor van der Meer?« Er stieß die Tür auf. Der Raum dahinter war ebenfalls von Halbdunkel erfüllt, dem Zwielicht, das durch die herabgelassenen Jalousien fiel.

»Ich bin hier«, hörte er wieder die Stimme. Sie gehörte Jacobszoon, wirkte aber merkwürdig hohl, fast körperlos. Es klang weniger wie ein Hinweis, sondern eher, als wollte sie sich ihres eigenen Klangs versichern. Van Leeuwen trat ein, die Hand in der Tasche fester um den Griff der Pistole geschlossen. Er entdeckte eine Gestalt, nur eine, links, eine Silhouette vor einer heruntergelassenen Jalousie. Sonst sah er nicht viel, den matt glänzenden Parkettboden eines schlauchartigen Raumes, der ohne Teppiche, Zierpflanzen oder Bilder an den Wänden auskommen musste; einen gläsernen Schreibtisch, deckenhohe Bücherregale und einen Fernsehapparat, umgeben von ein paar schwarzen Lederkissen, das war die ganze Einrichtung.

»Sind Sie allein?«, fragte der Commissaris.

»Sie sind hier«, sagte die Gestalt zögernd, als probierte sie eine Variation ihres letzten Satzes aus.

»Ich bin auch allein«, erklärte der Commissaris.

»Dann sind wir wohl beide allein«, antwortete die Gestalt.

»War Doktor van der Meer bei Ihnen?«, wollte Van Leeuwen wissen und ging langsam durch den Raum auf die Gestalt zu, bis er sehen konnte, dass es sich tatsächlich um Jacobszoon handelte, auch wenn die Stimme anders klang.

Der Samariter war nackt bis auf dunkelrote Shorts, aber er schien nicht zu frieren. In dem schwachen Licht, das durch die Ritzen in der Jalousie hereinfiel, wirkte seine Haut am ganzen Körper so weiß wie seine Hände. Er stand völlig still, reglos, doch Van Leeuwen konnte sehen, dass alle seine Muskeln angespannt waren. »Ja, er war hier, aber nur kurz«, antwortete Jacobszoon und fügte hinzu: »Er hat mich aus dem Bett geholt …«

Der Commissaris spürte die Erleichterung wie eine Welle, die unter ihm durchlief, ihn kurz hochhob und sacht wieder absetzte. Er zog die Hand aus der Tasche, ohne die Pistole. »Wo ist er jetzt?«, fragte er. »Was ist passiert?«

»Was passiert ist?«, fragte Jacobszoon. »Ich weiß nicht, was passiert ist … alles ging so schnell.« Er begann, vor der heruntergelassenen Jalousie hin und her zu gehen, barfuß auf dem kalten Parkettboden. »Er war mein Lehrer, wissen Sie. Er hat mir geholfen, mich zurechtzufinden. Er hat mir gezeigt, wie man zwischen ihnen geht, ohne aufzufallen.«

»Zwischen wem?«, fragte Van Leeuwen vorsichtig.

»Den Lebenden.«

»Fängt man damit an, dass man seinen Namen ändert?«

Jacobszoon rieb die Hände gegeneinander, wie jemand, der ein gutes Geschäft gemacht hat. »Sie haben es also herausgefunden, natürlich … Aber das hat nichts damit zu tun. Es fängt mit etwas ganz anderem an. Es fängt damit an, dass man aufhört, dauernd an die Toten zu denken.«

»Welche Toten meinen Sie?«

»Die, die nie wirklich geboren wurden.« Er hörte nicht auf, die Hände gegeneinanderzureiben, als klebte etwas an ihnen, Erde vielleicht. »Die in der Dunkelheit bleiben mussten. Die nicht erlöst wurden.«

»Reden Sie von Ihren Geschwistern?«

Abrupt hörte die Bewegung auf, und Jacobszoon legte lauschend den Kopf auf die Seite, wie Van Leeuwen es ihn schon in seinem Studio hatte tun sehen. Die Wohnung war so ruhig, wie eine Wohnung nur sein konnte, als gäbe die Stille sich besondere Mühe, Stille zu sein, Totenstille, in der man Schnee fallen gehört hätte. In die Stille hinein sagte der Moderator: »Ist es nicht unvorstellbar – man wird geboren, die Mutter schenkt einem das Leben, unter Einsatz ihres eigenen. Man kann noch kaum sehen, man kann nicht hören oder sprechen, gerade atmen kann man und schreien, und dann – dann stopft sie einen zurück in die Dunkelheit, in die Erde, in einen Blumentopf, wie ein Samenkorn, wie Saatgut, aber nicht, damit man aufgeht, sondern damit man stirbt. In der Finsternis wird man lebendig begraben, man kann nicht mehr atmen, und wenn man schreit, füllt sich der Mund mit Erde, der kleine, feuchte Mund füllt sich mit Erde, und man erstickt … Ist das nicht unvorstellbar? Sieben Babys, sieben kleine Jungen und Mädchen, erstickt in der Dunkelheit. Und ich war das achte.«

»Nein, das waren Sie nicht«, widersprach der Commissaris. »Ihnen ist bloß das Unvorstellbare gelungen.« Er schwieg, nicht sicher, ob es gut war weiterzureden. Aber Jacobszoon stand wie erstarrt, eine weiße Skulptur aus nackter Haut und Muskelsträngen, als wartete er nur darauf, dass es endlich ausgesprochen wurde, und deswegen fuhr Van Leeuwen fort: »Sie haben nämlich keine Geschwister. Sie haben das alles gar nicht selbst erlebt. Sie haben es sich vorgestellt, sie haben sich das alles nur vorgestellt – das verlorene Licht, die Erde im Mund, das Um-Atem-Ringen, bis Sie geglaubt haben, Sie wären wirklich dort gewesen.«

»Nein, nein, nein!« Jacobszoons Augen waren so groß, dass sie selbst im Halbdunkel schimmerten. »Ich war da, ich war …«

»Sie waren nicht da, Sie sind nicht Maurits Scheffer. Maurits Scheffer ist tot, er hat sich umgebracht.«

Jacobszoon schüttelte den Kopf. »Nein – nein. Meine – meine Mutter …«

»Sie sind nicht Sara Scheffers Sohn«, wiederholte der Commissaris. »Sie sind nicht der Junge, der von Conrad Mueller vor dem Ersticken gerettet wurde. Sie sind der Junge, dem Conrad Mueller davon erzählt hat, immer wieder, Nacht für Nacht. Sie sind Conrad Muellers Sohn Roelof. Sara Scheffers Sohn hat nichts mit dieser Situation zu tun, nichts damit, weswegen ich hier bin. Nachdem Ihr Vater ihn gerettet hatte, kam Sara Scheffers Junge in die Obhut von entfernten Verwandten, die ihm den Namen Maurits gaben – Maurits Rommel, so hieß er dann. Später, als er zwölf war, steckten sie ihn in ein Internat in Groningen, und dort hat er eines Tages erfahren, wer seine Mutter war und was sie mit ihm und seinen Geschwistern gemacht hatte. Mitschüler fanden es heraus, und grausam, wie Kinder sind, fingen sie an, ihn zu hänseln. Eine Zeit lang hat er versucht, damit zu leben – erinnern Sie sich? –, und als das nicht mehr ging, hat er sich umgebracht. Er hat sich mit einer Plastiktüte erstickt, an einem sechsundzwanzigsten September, dem Tag seiner Geburt.«

Jacobszoon stand unverändert still, reglos, lauschend.

»Sie haben auch versucht, damit zu leben«, fuhr der Commissaris fort, »nur dass Sie es schon viel früher wussten als er. Ihr Vater hat es Ihnen jede Nacht erzählt, als Sie ein kleiner Junge waren. Er hat Sie geweckt, weil er mit jemandem darüber reden musste und seine Frau es nicht mehr hören wollte. Sie haben genauso wie Maurits versucht, damit zu leben, und Ihnen gelang es genauso wenig. Bloß, dass Sie nicht sich umgebracht haben, Sie haben andere umgebracht, und Ihr Vater war der Erste. Sie haben ihn aus Mitleid getötet, weil er seine Erinnerungen nicht ertragen konnte, weil er nicht mehr mit ihnen leben wollte, aber selbst nicht die Kraft besaß, sich zu töten. Sie haben ihn auf dieselbe Weise umgebracht, wie Maurits sich das Leben genommen hatte, bei einem Besuch in den Ferien, und niemand ist auf den Gedanken gekommen, dass es sich um Fremdeinwirken gehandelt haben könnte. Das war Ihr erster Mord, begangen an einem dritten Oktober, dem Tag, an dem Ihr Vater Maurits gerettet hatte, dem Tag seiner zweiten Geburt.«

Bei dem Wort Mord zuckte Jacobszoon zusammen und wölbte die Schultern vor, ganz leicht nur, als fürchtete er, geschlagen zu werden. Sein Blick flog zu der einen Spaltbreit offen stehenden Tür des angrenzenden Raumes hinüber. Plötzlich hatte der Commissaris das Gefühl, dass sie doch nicht allein waren; dass noch jemand da war, hinter der angelehnten Tür. Van der Meer, dachte er, van der Meer ist nebenan und wartet. Er schob die gesunde Hand in die Tasche und umfasste den Griff der Sig Sauer.

»Sie haben sich so sehr in Maurits Scheffer hineinversetzt«, sagte er, »haben solchen Anteil an seinem Schicksal genommen, dass Sie glaubten, es müsse sich um Schicksal handeln, als der Zufall Sie damals tatsächlich zusammenführte. Dabei war es gar nicht so abwegig – es gab ja nur ein Internat in der Gegend, und dort war Ihre Mutter Köchin geworden, nachdem sie Ihren Vater verlassen hatte, mit Ihnen. Zu der Zeit wurde Maurits schon psychologisch betreut, und als Sie einmal mitbekamen, wie nah er und der Psychologe einander waren, fassten Sie den Wunsch, genau diesen Beruf eines Tages zu ergreifen – Sie wollten Psychologe werden, um anderen helfen zu können.«

Mit beiläufigen, unauffälligen Schritten bewegte Van Leeuwen sich auf die angelehnte Tür zu. »Nach der Trennung von Ihrem Vater hatte Ihre Mutter wieder ihren Mädchennamen angenommen, Jacobszoon. Und auch Sie wollten nicht mehr Mueller heißen. Nach dem Abitur fingen Sie an, Psychologie zu studieren, und wie wir herausgefunden haben, lernten Sie an der Universität bei einem Gastvortrag Klaas van der Meer kennen. Er nahm sich Ihrer an. Für ihn wurden Sie die Blumenerde, in die er sich selbst hineinpflanzte. Er hörte Ihnen zu, er spürte Ihre Verwirrung und wusste, dass er Sie eines Tages brauchen könnte, als sein Werkzeug. Er war wie ein Ersatzvater für Sie, nicht?«

»Ich gehörte nirgendwo dazu«, bekannte Jacobszoon stockend. »Es war, als wüsste ich nicht, wie man lebt.« Seine Stimme klang wie aus weiter Ferne, und es schien ihm große Mühe zu bereiten, die Worte in einen geordneten Zusammenhang zu bringen. »Ein Fremder bin ich auf dieser Welt und unter denen, die Menschen sind.« Er rieb sich die Schläfen mit den Handballen. »Maurits war genauso, aber dann … dann hat er mich ja im Stich gelassen … Sein Leben – mein Leben fand irgendwie im Dunkeln statt, in einer Dunkelheit, aus der ich nicht herausfand. Ich beneidete die anderen Jungen, die so laut waren, die alles taten, um Aufmerksamkeit zu erregen. Sie verhielten sich wie … wie Neonfische, die leuchtendes Plankton um sich verstreuen und unter Wasser bunte Lichträder schlagen, die nach Belieben Form und Aussehen verändern. Und manchmal dachte ich, dass ich gerne wäre wie sie, so auffällig und sorglos. Bis mir klar wurde, dass es auch bei ihnen ums Überleben ging, um Nahrung. Bei den Jungen. Bei den Fischen. Sie taten all das ja nur, um Beute anzuziehen. Und dann traf ich Klaas van der Meer.« Jacobszoon hielt für einen Moment inne, und es schien ihm schwerzufallen, nicht wieder zu der Tür hinüberzuschauen. »Mit ihm konnte ich reden. Er hat mir zugehört. Ich habe ihm von Maurits erzählt, von mir, von meinem Vater. Er hatte Verständnis.«

Nur noch ein paar Schritte, dachte Van Leeuwen, nur drei oder vier Schritte. Mit dem Daumen entsicherte er die Sig Sauer. Er hoffte, nicht schießen zu müssen, aber falls doch, hatte er nur einen Schuss, nur die Kugel, die im Lauf steckte. Mit der gesunden Hand konnte er die Kugel abfeuern, aber es war unmöglich, den Schlitten zurückzuziehen, um eine neue Patrone aus dem Magazin in den Lauf zu befördern.

»Klaas erzählte mir von anderen Menschen, die lebendig begraben wären, die an ihrem Leben erstickten«, fuhr Jacobszoon fort. »Menschen, die sich nichts sehnlicher wünschten als den Tod. Sie kamen zu ihm, weil sie sterben wollten. Er zeigte sie mir. Er hatte damals noch keine Klinik. Hinterher sagte er immer: Wir haben nur einen Wunsch erfüllt.«

»Mit einer Plastiktüte.«

»Er sagte, es macht sie glücklich. Sie sterben glücklich.«

»Hat er Sie gedrängt?«, fragte Van Leeuwen. »Hat er gesagt, es wären zu viele für ihn allein?«

Jacobszoon lächelte, als stünde er Modell für ein Devotionalienbild von Jesus Christus. »Ich brauchte ihnen bloß zuzuhören. Oder ihre Briefe zu lesen. Ihre Gesichter zu sehen.«

»Dann ist das, was Sie mir in Ihrem Studio vorgeführt haben, wohl eine Wunschsendung gewesen«, sagte Van Leeuwen ruppig. »Und immer am sechsundzwanzigsten September war Bescherung – am sechsundzwanzigsten September und am dritten Oktober, jedes Jahr. Van der Meer schenkte Ihnen Menschen, denen Sie den Tod schenkten, war es so? Menschen, von denen jeder einzelne Sara Scheffers Sohn hätte sein können. Menschen, für die es besser gewesen wäre, sie hätten nie das Licht der Welt erblickt. Die sterben mussten, um wirklich leben zu können, von Ihrer Hand. Und als Euthanasie legalisiert wurde, eröffnete Van der Meer seine Sterbeklinik, und Sie versuchten noch einmal, ihnen anders zu helfen, erst mit der Kolumne samariter.nl, dann als Fernsehmoderator.«

»Wie das klingt …« Ein Ton von Bitterkeit schlich sich in Jacobszoons Stimme. »Sie wissen ja gar nicht, was für eine Qual es jedes Mal für mich war, im Studio zu sitzen, im Licht der Scheinwerfer, vor dem Auge der Kamera. Es war der Preis, den ich bezahlen musste, wenn ich unter den Menschen die entdecken wollte, die mich mehr als alle anderen brauchten, um Erlösung zu finden.«

»Wie Jesus?«, fragte Van Leeuwen und dachte, noch ein Schritt. »Wie Gottes Sohn, der unter Qualen sterben musste, damit wir alle erlöst werden konnten?«

»Ja«, antwortete Jacobszoon leise. »Ja, warum nicht so ähnlich? Es waren doch Nächte auf dem Ölberg – all die Stimmen der Menschen, die in der Sendung anriefen und von ihrer Einsamkeit, ihren Verletzungen oder Qualen erzählten, verwandelten sich in einen einzigen Sorgenstrom, den Schmerzen und Qualen der ganzen Welt, dem kein Damm mehr standhalten konnte.« Eine Gänsehaut bildete sich auf seinen Armen. »Es kommt mir so vor, als hätte ich mein ganzes Leben mit Zuhören verbracht. Mir sein Herz auszuschütten scheint niemandem schwerzufallen. Mein Leben ist ein Flussbett, das von Stimmen gegraben wurde. Manchmal hatte ich Angst, darin zu ertrinken, in einem See aus Mitleid. Aber am schlimmsten war, dass ich merkte, wie wenigen ich mit Worten wirklich helfen konnte. Wenn Sie mich einen Mörder nennen und wenn Sie dann fragen, wie ich dazu geworden bin, lautet die Antwort: durch Zuhören. Was machen Sie denn?«

Der Commissaris hatte die Pistole aus der Tasche gerissen und sich gegen die angelehnte Tür geworfen, aber etwas auf der anderen Seite leistete Widerstand. Sie gab nur wenige Zentimeter nach. Van Leeuwen stemmte sich dagegen, nahm nicht noch einmal Anlauf, sondern drückte mit der rechten Schulter gegen die Füllung, die Sig Sauer schussbereit erhoben. Er hörte ein Schurren, und dann ging es leichter. Er zwängte sich durch den größer werdenden Spalt, bis er die Füße auf dem Boden sah, Füße in Halbschuhen aus Leder. Er dachte daran, dass er Gerrit Zuiker auch so gefunden hatte: Bei ihm hatte er auch zuerst die Füße gesehen. Er drückte die Tür ganz auf, und nach den Füßen sah er das Blut und zuletzt die Wunde, aus der es geflossen war: einen tiefen Riss im Knochen über Klaas van der Meers rechter Schläfe.

Der Arzt lag auf dem Rücken, ein Bein angewinkelt, beide Arme über den Kopf geworfen. Er trug eine helle Leinenhose, einen gelben Pullover und ein blaues Hemd, diesmal ohne Ansteckschlips, aber mit einem Button-down-Kragen, von dem nur noch eine Hälfte geknöpft war. Das Blut hatte einen dunklen Kranz um seinen Kopf gebildet, und einige Strähnen des im Nacken länger gewordenen grauen Haares schimmerten darin wie gespreizte Pfauenfedern. Knapp außerhalb der Reichweite seiner rechten Hand lag eine zerknüllte Zellophantüte über einer Rolle mit hautfarbenem Klebeband.

Der Commissaris schob die Pistole wieder in die Tasche und bückte sich, um an Van der Meers Halsschlagader nach einem Puls zu tasten, der schon lange nicht mehr da war. Er hörte barfüßige Schritte hinter sich, hörte Jacobszoons Atem. Hörte, wie die Tür noch ein Stück weiter geöffnet wurde. Hörte, wie Jacobszoon fragte:

»Warum hat er das getan? Er wollte – er wollte mich … Aber ich weiß nicht, warum.«

Das Blut war nicht bis zu der Zellophantüte geflossen, doch ein paar Spritzer verdunkelten das Parkett, und an der scharfen Kante des Bettgestells klebten sogar noch ein paar Haare.

»Er wollte Sie mit der Tüte ersticken, weil es wie Selbstmord aussehen sollte«, sagte der Commissaris.

»Aber warum? Ich weiß nicht, warum …«

»Das würden Sie nicht verstehen«, erwiderte Van Leeuwen und richtete sich wieder auf. Er hätte Jacobszoon erklären können, dass es für Van der Meer keine große Sache mehr war, einen Menschen umzubringen, vor allem dann nicht, wenn der ihn daran hinderte, noch mehr und immer mehr Menschen zu töten, alte und kranke, junge und verwirrte, Männer und Frauen und alle, die vor Schmerzen und Verzweiflung von Sinnen waren. »Er hat entschieden, dass Sie nicht mehr leben sollen. So wie er vorher entschieden hatte, dass ich nicht mehr leben soll. So wie Sie ja immer wieder entschieden haben, wer leben soll oder darf und wer nicht … Die Macht der Gewohnheit, gewissermaßen.«

Jacobszoon trat leise durch die Tür in das Schlafzimmer, in dem sich langsam der Geruch des Todes ausbreitete. »Aber wir haben diese Entscheidung doch immer nur bei denen getroffen, die sich an uns gewandt haben. Die uns anrufen oder schreiben. Die am Ende ihrer Kräfte sind und sich deshalb nicht einmal mehr selbst das Leben nehmen können.«

»Ihr Freund Klaas hat einfach den nächsten Schritt getan«, sagte der Commissaris ungehalten. »Er ist zu denen übergegangen, die Sie oder ihn nicht anrufen oder Ihnen nicht schreiben, denen Sie nicht erst zuhören müssen. Das wäre übrigens auch etwas, was mich brennend interessiert hätte: Wann, Mijnheer Jacobszoon, wären Sie so weit gewesen, von sich aus zu entscheiden, einfach so, nach Ihrem persönlichen Geschmack, wer leben will oder soll oder darf und wer nicht? Warum darauf warten, dass jemand sich an seinen Computer setzt oder zum Telefon greift? Vielleicht will da ja jemand sterben, der noch nie von Ihnen gehört hat oder Ihre Adresse nicht kennt? Vielleicht kann er gar nicht schreiben oder sprechen, oder vielleicht ist er noch gar nicht geboren, aber Sie können schon erkennen, dass dieses arme Geschöpf schrecklich leiden wird, so schrecklich, dass es sich einmal wünschen wird, nie geboren worden zu sein? Weil es schwach ist, behindert, nicht lebenswert, statt zu der Rasse der Stärksten, Reinsten und Schönsten mit dem perfekt geformten Schädel und einer titangehärteten Seele zu gehören? Wie wäre es, Doktor Jacobszoon, wenn Sie rosa Wimpel und gelbe Sterne verteilen würden? Wie wäre es mit ein bisschen vorgezogener Selektion, ein bisschen Zyklon-B-Gas, einer Rampe vor Zügen mit Viehwaggons?!«

Im Raum herrschte tiefe Stille, nur der Regen, der gegen die Fenster schlug, war zu hören. Jacobszoon stand wie gebannt an der Tür, so reglos wie der Tote auf dem Boden. Dann schüttelte er leicht den Kopf und hob eine Hand, eine vergeblich wirkende Geste, als wollte er etwas aufhalten, das sich nicht aufhalten ließ. Als sähe er Fetzen von seiner Seele lautlos davonfliegen wie Konfetti.

»Ich wusste immer, dass dieser Moment eines Tages kommen würde«, sagte er. »Ich wusste, selbst wenn ich genau erklären kann, warum ich so handeln musste – genau so und nicht anders –, würde man mich trotzdem für einen Wahnsinnigen halten. Aber ich bin nicht wahnsinnig, falls Sie das denken. Ich gehe nicht in den Park, um einem Schwan den Kopf abzubeißen und sein Blut zu trinken. Ich bin keiner von denen, die den Menschen auf Fotos die Augen ausstechen oder Geige spielend auf einem Berg von Leichen sitzen. Immer wenn ich jemand seinen Wunsch erfüllt hatte, wenn ich die Tüte von seinem Kopf entfernt habe, um den Frieden seines Anblicks nicht zu stören … wenn ich noch einen letzten Blick auf sein lebloses, friedliches Gesicht warf, empfand ich eine tiefe Trauer, als wäre gerade jemand gestorben, der mir sehr nahestand. Manchmal fragte ich mich nämlich, ob außer mir überhaupt noch irgendjemand auf der ganzen Welt um ihn oder sie trauerte. Maurits Scheffer, wer außer mir trauerte um ihn? Conrad Mueller, wer außer mir trauerte um ihn? Heleen Soeteman, wer trauerte um sie, außer mir? Um ihr Leben, nicht um ihren Tod? Ich sah sie an und dachte, das könntest du sein, der da liegt.«

Er ließ die Hand wieder sinken. Jetzt schien er doch zu frösteln. »Ich brauchte mich bloß an meinen Vater zu erinnern, wie er nachts auf meiner Bettkante saß. Da waren nur wir beide, im Dunkeln, und ich konnte ihn über mir aufragen sehen, die große Gestalt mit einem bleichen Gespenstergesicht, seine weit aufgerissenen Augen in den schwarzen Höhlen, mit denen er mich ansah … mit denen er durch mich hindurchsah auf das Baby, auf Maurits … Es war so schrecklich, so entsetzlich, ihn so zu erleben. Ich musste etwas tun, ich musste dem ein Ende bereiten – es kam einfach über mich. So war es damals gewesen, und so war es immer wieder.«

Sein Gesicht war selbst zu einem Gespenstergesicht geworden, gleichzeitig aber auch zu dem eines Kindes, eines verwirrten, frierenden Kindes, das sich verlaufen hatte und auf seinem Irrweg dem Tod begegnet war. »Er hat mich geliebt«, sagte er. »Sie haben mich alle geliebt.«

»Aber Sie konnten nicht alle lieben«, erwiderte der Commissaris. »Sie erstickten ihre Babys, weil Sie sie nicht alle lieben konnten, genau wie Sara Scheffer«, fügte er hinzu.

Jacobszoon zuckte zusammen, als hätte er einen Stoß erhalten, plötzlich und unerwartet. Er griff nach der Wand und suchte Halt. Langsam rutschte er daran herunter und kauerte sich zusammen, die Arme um die Knie geschlungen. Für eine Sekunde schien er sein eigenes Leben so zu sehen, wie es wirklich gewesen war, im grellen Licht jäher Erleuchtung. Aber nur für einen Augenblick. Ein Ächzen entfuhr ihm. Sein Körper war plötzlich schweißbedeckt. Er starrte auf Klaas van der Meers Leiche vor seinen nackten Füßen. Auf die Zellophantüte, das Klebeband.

»Manchmal – manchmal prasseln Millionen kleiner Körner auf mein Gesicht«, murmelte er, »Millionen und Milliarden schwarzer, feuchter, winziger Krumen drücken auf mein Gesicht, pressen es nach innen. Sie dringen in meine Ohren, unter die Lider meiner Augen, in die Nase. Sie rieseln auf mich herab, es wird immer dunkler, ich kann nichts mehr sehen, ich kriege keine Luft! Ich reiße den Mund auf, und die Erde presst mir die Zunge an den Gaumen, tief in die Kehle. Bis in die Brust hinunter schlucke und atme ich Erde, und dann passiert etwas Merkwürdiges: Mein Kopf zieht sich zusammen, die Haut, die Augen, die Wangen, die Lippen – alles stülpt sich nach innen, ballt sich wie eine Faust, die in meine Lunge hinabfährt und sie herausreißt, sie reißt die Lungenflügel aus meiner Brust und lässt nichts zurück als ein riesiges schwarzes Loch mit zerfetzten Rändern.«

»Und das geschieht an Ihren Geburtstagen, am sechsundzwanzigsten September und am dritten Oktober, immer wenn etwas in Ihnen Maurits Scheffer wird«, soufflierte der Commissaris und dachte daran, was Doktor Menardi gesagt hatte: Wenn es so weit ist, werden Sie nicht glauben können, dass darin der Schlüssel zu all seinen Taten liegt, so verstiegen wird es Ihnen vorkommen. Für ihn jedoch ist es vollkommen zwangsläufig, denn in seinem Kopf ist das Verstiegene das Logische. »Was ich aber immer noch nicht verstehe«, fuhr Van Leeuwen fort, »ist Folgendes: Für einige der Morde haben Sie ein Alibi, die können Sie gar nicht begangen haben, vor allem einige der weiter zurückliegenden nicht. Sie waren nicht einmal in der Nähe der Tatorte. Das haben unsere Ermittlungen ergeben, und das bringt uns zu Doktor van der Meer als Täter. Aber wenn es angeblich so viele Menschen gab, die Ihrer und seiner Hilfe bedurften – wieso hat auch er sich auf den sechsundzwanzigsten September und den dritten Oktober beschränkt?«

Jacobszoon beugte sich vor; er wippte auf den Zehenballen, ohne seine Knie loszulassen. Er sah in Van der Meers Gesicht hinab. »Klaas hat sich nicht beschränkt«, sagte er und blinzelte, als tauchte er gerade wieder aus der Erde auf. »Er wusste gar nicht, wie man das macht. Erst jetzt, als es um seine Klinik ging …«

Van Leeuwen spürte sein Handy in der Brusttasche vibrieren, holte es jedoch nicht heraus. »Unsere Ermittlungen haben aber ergeben, dass die Opfer des Plastiktütenmörders immer an diesen beiden Tagen getötet wurden.«

»Dann haben Sie einen Fehler gemacht bei Ihren Ermittlungen«, erwiderte Jacobszoon ernsthaft. »Vielleicht lag es daran, dass Sie die ganze Zeit über dachten, es gäbe nur einen. Und als Sie bei dem einen ein Muster erkannt hatten, haben sie nur noch nach diesem Muster geschaut, nur noch Fälle aufgenommen, die da hineinpassten, und alle anderen ignoriert.«

Man übersieht immer etwas.

»Das heißt, neben den Fällen, die wir schon kennen, neben all den Menschen, die jedes Jahr an diesen beiden Tagen starben, gibt es da draußen vielleicht noch mehr? Noch mehr Leichen, noch mehr unentdeckte Morde?«

»Ich weiß nicht, wie viele Sie kennen«, erklärte Jacobszoon. »Ich kann mich selbst nicht an alle erinnern. Aber wahrscheinlich haben Sie recht. Ja, wahrscheinlich gibt es noch mehr. Noch viel, viel mehr.«

Das Handy hörte auf zu vibrieren, und Van Leeuwen dachte, dass er Jacobszoon nun über seine Rechte belehren, ihm Handschellen anlegen und die anderen rufen sollte, damit den Vorschriften Genüge getan wurde und weil er müde war. Er fragte: »Sie wissen wahrscheinlich, was jetzt passiert?«

»Ja«, sagte Jacobszoon. »Wissen Sie es auch?«

Ehe der Commissaris erfasste, was geschah, griff Jacobszoon nach der Zellophantüte neben Van der Meers Hand, und mit einer schnellen Bewegung streifte er sie sich über den Kopf, und während diese Bewegung noch schemenhafte, verrissene Streifen über Van Leeuwens Netzhaut zog, hatte Jacobszoon schon die Rolle Klebeband gepackt, hatte einen Streifen von der Rolle gelöst, hatte den Streifen gegen den Rand der Tüte gepresst und hielt ihn dort mit einer Hand fest, während die andere die Rolle mit einer weiteren schnellen Bewegung im Kreis um seinen Kopf herumführte, immer wieder um den Kopf, bis das Plastikband, die Tüte und sein Hals wie fest miteinander verschmolzen waren.

Der Commissaris sah Jacobszoons Gesicht unter der Tüte. Er sah, während die Hand die Rolle noch um den Kopf führte, wie das Zellophan sich erst blähte und dann nach innen gesogen wurde, wie es knitterte und von innen beschlug. Er hörte es rascheln und knistern und das reißende Geräusch, mit dem sich das Klebeband von der Rolle löste, und durch die Tüte vernahm er das hohle Geräusch von Jacobszoons schnellen, keuchenden Atemstößen. Er sah die Hände, die Muskeln, die sich unter der Haut spannten, und er sah die weit aufgerissenen Augen, die Lippen, an denen das Zellophan hing, die Zähne, die Nase unter dem schimmernden Material, die Haare, die an den Schädel gepresst wurden.

Van Leeuwens Finger glitten ab. Sie rutschten immer wieder ab. Sie fanden keinen Halt an der glatten Tüte und dem Klebeband. Er konnte Jacobszoon nicht festhalten. Er brauchte zwei Hände, aber er hatte nur eine. Er sah das Gesicht unter der glänzenden zweiten Haut, es lächelte verzerrt, eine zuckende Grimasse. Er packte Jacobszoons Hals, versuchte, ein Loch in das Zellophan zu beißen und die Tüte mit den Zähnen vom Kopf des Erstickenden zu reißen.

Ächzend lag er auf dem halb nackten Körper, der sich zuckend unter ihm aufbäumte, während Jacobszoons Hände seinen Kopf mit ungeheurer Kraft festhielten und dann langsam zurückdrängten.

»Bitte!«

Hohl und dumpf drang das Wort durch die glitzernde Haut auf Jacobszoons Gesicht. Aus nächster Nähe starrte Van Leeuwen in seine flehenden Augen. Er hielt den Atem an und spürte sein Herz rasen; er spürte es gegen seine Rippen hämmern, während keiner von ihnen sich bewegte. Langsam sanken Jacobszoons Lider herab, das Zellophan bildete eine Höhle in seinem offenen Mund, seine Muskeln gaben nach, sein Körper entspannte sich, und der Commissaris ließ ihn los. Er hielt ihn nur wie einen Sterbenden, hielt einen Sterbenden in seinen Armen, als könnte er ihn trösten. Oder sich selbst.

 

Er blieb noch eine Zeit lang neben Jacobszoon liegen. Er versuchte wieder, die Tüte vom Kopf des Toten zu lösen, aber es gelang ihm auch diesmal nicht. Er stand auf und ging zum Fenster, um die Jalousien hochzuziehen. Aus dem Panoramafenster konnte man weit über den alten Hafen und das IJ schauen, von einer Seite des Stroms zur anderen, wo sich jenseits des Wassers die Wiesen von Amsterdam Noord erstreckten. Es hatte aufgehört zu regnen, und der Himmel über der Stadt war jetzt schon hell. Auf den Wellen schimmerte das Licht der noch hinter dem Dunst verborgenen Sonne. Es würde ein schöner Tag werden.