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De wallen, das Amüsierviertel von Amsterdam, hatte zwei Arten von Bewohnern, die sich wie Wettermännchen nie zur selben Zeit zeigten. Früh am Morgen, wenn die roten Lichter ausgeschaltet waren und weiße Klöppelvorhänge an den Fenstern die Kabinen der window girls vor den Blicken verbargen, nahmen die Wagen der Straßenreinigung ihre Arbeit auf und sammelten den Dreck der vergangenen Nacht ein. Adrett gekleidete Kinder verließen fröhlich wie die Lerchen mit Rucksäcken und Schulranzen die Häuser zwischen Oudezijds Voorburgwal und Oudezijds Achterburgwal und rannten an den Kanälen entlang, um pünktlich zum Unterricht in der Schule zu sein. Ältere Frauen und Männer mit Einkaufsnetzen erledigten noch vor dem Frühstück die ersten Besorgungen in den kleinen Krämerläden, während die Kirchgänger von den Frühmessen nach Hause schlenderten.

Die Handwerker schoben die Jalousien ihrer Werkstätten hoch, und die Obsthändler stellten Kisten mit Äpfeln, Melonen, Tomaten und Apfelsinen unter die Markisen vor ihren Schaufenstern. Aus den Türen der Läden drang der saubere Geruch von fangfrischem Fisch auf zerstoßenem Eis, der Duft von gerade fertig gebackenem Brot, das Aroma von heißem Kaffee. Noch bevor die Angestellten auf dem Weg zur Arbeit schnell ein Hörnchen und einen Espresso zu sich nahmen und später die selbstständigen Architekten, Journalisten und Werbetexter an denselben Cafétischen im Freien die Morgenzeitungen lasen, hallte aus den Höfen und Garagen schon das Geräusch von Hämmern auf Eisen, Holz oder Leder, Motorsägen und Drillbohrern, das sich mit dem Zwitschern der Vögel in den Kronen der Bäume auf den Kanalmauern vermischte.

Die Straßen waren noch kühl, auch wenn auf dem Wasser in den Grachten schon das Sonnenlicht glänzte. Die Blumen in den Kästen auf den Fensterbänken und in den Tonnen neben den Eingangstreppen strotzten vor Farben, und auf den Ziegeldächern und den Fassaden der Häuser mit ihren vorspringenden Giebeln trockneten die letzten Spuren der nächtlichen Regengüsse. Die erloschenen Glühbirnen zwischen den Ufern schaukelten an ihren Ketten sacht im Wind, der vom IJ landeinwärts wehte und mit trockenem Rascheln durch die silbernen Blätter der Ulmen und Platanen strich. Die Möwen mähten wie weiße Sicheln den blauen Himmel. Fischreiher stießen kopfüber ins Wasser, um nach Nahrung zu tauchen, und ein paar Straßen weiter am Zeedijk spießten chinesische Restaurantbesitzer die ersten halb aufgetauten Enten auf eiserne Grillstangen.

Später am Vormittag öffneten hier und dort bereits wieder die Sexshops und Live-Cabarets. In einigen Fenstern verschwanden die weißen Vorhänge, und die roten Neonröhren warfen ihr lockendes Licht auf die Frühschicht der window girls. Gegen Mittag erschienen vereinzelte Bummler: Touristen, Seeleute, Soldaten auf Urlaub, junge Tramper und schließlich die Reisegruppen. Der Geruch von brennendem Gras aus den Coffeeshops erfüllte die Luft und vermengte sich mit dem fast greifbar in der Luft hängenden Geschmack deftig gewürzter Speisen, und die angestaubte Hitparadenmusik, die aus den Türen der Kneipen und Cafés schallte, wurde lauter.

Mit Anbruch der Dunkelheit, lange nachdem die Schulkinder heimgekommen waren, bevölkerten Biker, Taschendiebe, Trickbetrüger und Heroindealer die Straßen. Farbige Zuhälter begannen ihre Runden, begrüßten sich mit Handschlag und lehnten zu dritt oder viert an den verschnörkelten Eisengeländern der kleinen Brücken. In den Erdgeschossfenstern zeigten Frauen aller Altersstufen mit ausdruckslosen Gesichtern ihre blassen oder dunklen Körper vor dem Hintergrund der abwaschbaren weiß gekachelten Kabinenwände. Immer mehr Touristen strömten in Pulks über die Uferstraßen. Minderjährige Jugendliche versuchten, durch die offenen Türen einen Blick ins Innere der Striptease-Lokale zu erhaschen. An den Mauern der Oude Kerk lehnten flachbrüstige Transvestiten in Glitzerkleidern und schnalzten mit den Zungen wie mit gezuckerten Peitschen.

Seit den frühen Morgenstunden waren die Wijkagenten des zweiten Distrikts hier von Tür zu Tür gegangen und hatten jedem Bewohner, soweit sie ihn zu Hause antrafen, das Bild des toten Gerrit Zuiker gezeigt und nach seinen Beobachtungen in der vergangenen Nacht befragt. Der Anruf, dass es tatsächlich eine Zeugin gab, die Zuiker kurz vor seinem Tod lebend gesehen hatte, erreichte den Commissaris, als er sich gerade von der Frau des Lehrers verabschiedete. Der Name der Zeugin lautete Cherry.

Inzwischen hatten sich die Schulkinder längst zu Hause eingefunden, und die Wagen der Straßenreinigung waren in die Depots zurückgekehrt. Denn de wallen, das Amüsierviertel von Amsterdam, hatte zwei Arten von Bewohnern, die sich wie Wettermännchen nie zur selben Zeit zeigten. Es gab nur wenige Ausnahmen. Eine davon war Commissaris van Leeuwen. Er kannte das Viertel zu jeder Stunde, bei jedem Wetter und jedem Licht, im Sommer und im Winter. Er wusste, zu welcher sozialen Klimazone Cherry gehörte, als er sie sah, und er hätte es auch gewusst, wenn er ihr in einer anderen Gegend unter weniger eindeutigen Umständen begegnet wäre.

Sie hatte das Gesicht eines Engels auf einem Renaissance-Gemälde, genauer, sie hätte es gehabt, wenn es den Malern jener Epoche gestattet gewesen wäre, Engel zu malen, die nur ein kleines bisschen gefallen waren. Engel, die außer der Tugend auch das Laster kannten und zumindest hin und wieder einen Zeh in das trübe Gewässer der Sünde tauchten, um seine Temperatur zu fühlen. Sie war schön auf die reine Weise eines solchen Gemäldes, mit lockigem, goldblondem Haar, einem schmalen Gesicht und ausgeprägten, hohen Wangenknochen. Aber was den eigentlichen Reiz ihrer Schönheit ausmachte, war der Umstand, dass vielleicht das Gemälde rein sein mochte, sie dagegen nicht. Ihre Augen, grünbraun, waren misstrauisch, kühl und traurig, und nur etwas ganz vorn darin spielte Fröhlichkeit vor, den guten Kumpel, jemand, mit dem man Spaß haben konnte. Die zierliche Nase lief in dünnen Flügeln aus, dafür war der Mund groß und voll, und man brauchte nicht viel Erfahrung, um zu wissen, dass es dieser Mund war, der die Männer nach dem Preis fragen ließ.

Mit richtigem Namen hieß sie Gretjen Mol. Sie stand in der offenen Tür ihrer Kabine gegenüber der Oude Kerk und sprach leise, aber eindringlich in ihr Handy. An ihrem linken Ohr blinkte ein Kupferring mit einem grünen Stein. Ihre langen Beine waren nackt bis auf Stilettos aus schwarzem Lackleder, und auch sonst hatte sie nicht viel an, nur ein Höschen aus schwarzer Spitze und einen schwarzen Büstenhalter, der die Brüste stützte, aber frei ließ. Die Brustwarzen waren steif und dunkelrot wie kleine Kirschen.

»Ach, du beschützt mich also?!«, meinte sie. »Wo warst du denn gestern Nacht, als mich irgend so ein verrückter Mistkerl beinahe umgebracht hätte? Ich kann von Glück sagen, dass ich noch am Leben bin, so wie es auf den Straßen hier zugeht. Schau dir die Typen doch mal an, die heutzutage unterwegs sind – Verrückte, Perverse, Killer mit bunten Tätowierungen am ganzen Körper. Da vergeht einem jede Lust, mit diesem Job weiterzumachen, ich habe jedenfalls keine mehr. Jeder Mann meint, er kann meinen Körper in ein Schlachtfeld verwandeln und dann wie ein Gockel auf den Trümmern herumstolzieren und krähen, bloß weil er ein paar Scheine hingelegt hat. Ich verrate dir was, Léon, damit ist jetzt Schluss – niemand feiert mehr mit mir sein kleines Fest, kein Italiener, Belgier oder Engländer, und keiner verschafft sich mehr auf meine Kosten mal eben so im Vorbeigehen Erleichterung …«

Der Commissaris blieb vor ihr stehen, holte seinen Ausweis heraus und hielt ihn so, dass sie ihn sehen musste. »Bist du Gretjen Mol? Cherry? Ich bin Commissaris van Leeuwen vom Hoofdbureau. Du hast den Wijkagenten aus der Warmoesstraat gesagt, dass du den Mann, dessen Tod wir untersuchen, gestern Abend hier gesehen hast?«

Cherry nickte, sagte »Ich ruf später noch mal an!« ins Handy und unterbrach die Verbindung. »Wollen Sie reinkommen, oder sollen wir uns hier draußen unterhalten?«

»Drinnen«, entschied der Commissaris und folgte ihr in die kleine, überhitzte Kabine, in der sie saß, kniete oder lag, wenn sie arbeitete. Sie schloss die Tür, zog den Vorhang zu und setzte sich auf einen Plastikhocker neben dem Fenster. Der Boden aus schwarzem Linoleum knarrte unter ihren Schritten. Eine Wolke eines schweren, süßlichen Parfums umgab sie, halb Sandelholz, halb Schokolade. Sie schlug ihre langen Beine übereinander, eine einstudierte Pose; sie wusste um die Wirkung dieser Haltung. Einer der Lacklederschuhe rutschte von der Ferse und hing nur noch am Spann.

»Könntest du dir bitte etwas anziehen«, sagte der Commissaris. »Nur obenrum, wenn es dich nicht stört.«

Cherry verzog den Mund zu einem schiefen Lächeln, stand auf und griff nach einer dunkelbraunen Lederjacke, die an einem Haken an der Wand hing. Die Jacke roch neu, und das Leder glänzte und floss so weich, dass man es fast für essbar halten konnte. Cherry fuhr hinein, ohne den Reißverschluss zuzuziehen, kehrte aber nicht auf den Hocker zurück, sondern ließ sich im Schneidersitz auf dem überbreiten Bett nieder. Neben dem Bett befand sich ein Schemel, auf dem eine Schachtel mit Papiertüchern stand, außerdem eine Schale mit bunten Präservativen und Penisringen aus Hartgummi. In einem verchromten Metallständer steckten Dildos in verschiedener Größe und Ausführung wie ein Messerset in einer gut ausgestatteten Küche. In einem offenen Regal hinter dem Schemel stapelten sich sorgfältig gefaltete Handtücher. An der Tür zur Toilette hing über dem Griff eine schwarze Lederpeitsche und an einem Bügel ein mit Noppen besetztes Lederkorsett. Rechts und links von dem Bett warfen Spiegel Cherrys Anblick zurück und wieder zurück.

Auch über dem Kopfende hing ein Spiegel, in dem der Commissaris sich selbst vor dem Bett stehen sah, gebadet in rotes Licht. Außer dem Furcht einflößenden Bett, dem Hocker am Fenster, einem schmalen Kleiderschrank mit angelehnter Tür und einer billigen Musikanlage gab es in der kleinen Kabine nur noch einen niedrigen Sessel, und in den setzte Van Leeuwen sich jetzt, denn im Spiegel sah er so aus, als wartete er nur darauf, dass Cherry ihm die Hose öffnete, und darauf wartete er nicht.

Der Sessel war mit einem roten Kissen weich gepolstert. Der Commissaris sank so tief in dieses Kissen, dass sein Kopf sich fast auf gleicher Höhe mit Cherrys gekreuzten Beinen in der Mitte des Bettes befand. Die gebräunten Oberschenkel wiesen kaum sichtbare Dellen auf; das Gewebe begann bereits nachzugeben. Ohne genau zu wissen, warum, fand der Commissaris, dass es sich um einen tröstlichen Anblick handelte. »Wenn Léon dich nicht beschützt, tue ich es«, sagte er.

Cherry zuckte mit einer Schulter und beugte sich ein wenig vor. »Ach, das. Im Grunde beschütze ich ihn, nicht umgekehrt. Ich kann schon auf mich selbst aufpassen, glaube ich.«

»Gerrit Zuiker konnte das nicht.«

»Wer ist Gerrit Zuiker?«

»Der junge Mann, über den ich mit dir reden möchte«, antwortete der Commissaris. »Der gestern gegen Mitternacht hier gestorben ist.«

»Ist er ermordet worden?«

»Das wissen wir noch nicht. Wir versuchen gerade herauszufinden, was mit ihm geschehen ist.« Ich versuche es, dachte er; weil ich ihn gefunden habe. Er holte das Foto hervor, das Gerrit Zuiker zeigte, wie er auf dem Rücken in der Gasse lag. Er hielt es Cherry hin und fragte: »Das ist er doch, nicht? Das ist der Mann, den du gesehen hast?«

Cherry beugte sich noch weiter vor, sodass er im Schatten des Lederblousons ihre Brüste sehen konnte. Die Warzen waren jetzt nicht mehr steif, doch die Rundung war noch immer straff, und auch dieser Anblick war tröstlich. Die blonden Locken verdeckten das Gesicht und den Hals. »Ja, das ist er. Er ist draußen vorbeigegangen.« »Könntest du bitte mal den Vorhang aufmachen«, bat der Commissaris. »Da müssen doch den ganzen Abend Männer vorbeigehen, im Dunkeln – wie kannst du dich so genau an einen bestimmten erinnern?«

Geschmeidig stand Cherry auf, ging zum Fenster und zog den weißen Vorhang beiseite. Die wuchtigen Mauern der Oude Kerk waren nur wenige Meter von der Kabine entfernt, und in dem roten Schimmer, der nach draußen fiel, konnte der Commissaris die Passanten deutlich erkennen. Sie tauchten aus der Dunkelheit auf und schlenderten an den Fenstern vorbei, einige mit den Händen in den Hosentaschen, andere mit Bierflaschen in der Faust. Manche kauten Kaugummi, ein paar zogen hastig an ihren Zigaretten. Die meisten schauten scharf und schnell herein, aber einige taten, als kämen sie nur zufällig draußen vorbei, und alle waren erst blass, dann wurden sie dicht an der Scheibe kurz rot und wieder blass, wenn sie weitergingen. Sobald sie den Commissaris in seinem Sessel sahen, gingen alle weiter.

»Dieser Mann – Gerrit – ist mir sofort aufgefallen.« Cherry stand neben dem Fenster und folgte den Männern mit den Blicken. »Es ist ein Spiel«, erklärte sie, »sie taxieren uns, und wir taxieren sie. Ein Blick in ihre Gesichter, egal, wie cool sie tun – wenn sie einen ansehen, weiß ich, wie sie es gern haben, was sie auf Touren bringt. Der große Blonde, der da hinten stehen geblieben ist, mit der Bomberjacke und dem Vereinsschal von Ajax, sehen Sie den? Der nur aus den Augenwinkeln herschaut und nervös so tut, als müsste er unbedingt was von seinem Handydisplay ablesen – das ist einer von denen, die ich in den Mund nehmen muss, in Ihrem Sessel da, und gleichzeitig will er meine Fingernägel zwischen seinen Beinen spüren.«

Sie griff in die Jackentasche und holte ein in matt glänzendes Papier eingewickeltes Bonbon hervor. »Oder der da, der Tamile mit dem Rosenkorb: Er lächelt, während er nach dem Preis fragt, und er lächelt, wenn er reinkommt, und er lächelt, wenn er sich auf die Bettkante setzt, und dann will er erst mal nur reden. Und dabei lächelt er weiter, während er mir in schlechtem Englisch von zu Hause erzählt, von seinen Eltern und seinen Geschwistern. Nach jedem Satz macht er eine Pause und sitzt nur da und lächelt, weil er sich nicht traut, mich anzufassen.«

Sie packte das Bonbon aus und schob es in den Mund. »Haben Sie den gerade mitgekriegt, der hier so abwesend reingestarrt hat? Das war einer aus der Werbebranche, einer, der sich selbst am besten findet. Der ist schnell auf hundert und kann sich dann überhaupt nicht mehr zügeln, komm her, mach schon, der zieht sich selbst aus und will nur mit mir schlafen, sonst nichts. Keine Extras, keine absonderlichen Wünsche, nur auf mir liegen und fertig werden und dann wieder weg. Und draußen reut ihn das Geld …«

Vor dem Fenster schob ein uniformierter Streifenpolizist sein fiets vorbei. Der junge agent sah zur Kirche hinüber, wo zwei schlanke, aber muskulöse Thais mit langen schwarzen Haaren Stellung bezogen hatten, geschminkt wie für einen Auftritt im Zirkus, beide in eng anliegenden Kleidern aus roter und schwarzer Spitze und hohen Pumps. Sie fuchtelten mit langen Zigarettenspitzen herum, lachten schrill und riefen etwas, das Van Leeuwen nicht verstand. Der agent von der Fahrradstreife lachte auch und ging weiter, und Cherry sagte:

»Das war eben ein besonderer Fall, der Kollege von Ihnen mit dem Rad und den roten Bäckchen. Der ist unter Garantie erst vor Kurzem aus der Provinz hierher versetzt worden, aus Edam oder Leiden. Der kommt erst nach Mitternacht vorbei, und wenn ich dem seinen eng sitzenden schwarzen Netzslip ausziehe, muss ich ihn erst mal waschen. Und während er es mit mir macht, schnüffelt er an mir herum nach dem Geruch seines Vorgängers – wie ein Hund –, und sobald er fertig ist, würde er mich am liebsten verprügeln, weil ich ihn nackt gesehen habe, ohne seine schöne blaue Uniform.«

Und du, dachte der Commissaris, was ist mit dir, Gretjen Mol? Am Anfang bist du stolz gewesen, als du die Macht gespürt hast, die Cherry mit ihrem Körper über völlig fremde Männer ausüben kann – wie wenige Muskeln ausreichen, um sie willenlos werden zu lassen. Doch irgendwann, nicht viel später, hast du die Einsamkeit gespürt, aus der sie zu Cherry kommen, die Wut, die Qual, die Schuldgefühle, alles, was sie vor ihr niederlegen, um ein paar Momente hitzigen Wahnsinns in deinem Mund, deinen Händen oder zwischen deinen Schenkeln zu erleben. Und du hast gesehen, wie sie danach wieder unter ihr Joch zurückkehren, schuldbeladener, einsamer und zorniger als zuvor.

Inzwischen weißt du alles über Lust und wie man sie bereitet, aber Liebe – Liebe oder Hinwendung, Zuneigung, Leidenschaft –, das bekommt hier niemand von dir, wie viel er auch bezahlt. Kein Mann berührt dich wirklich, egal, wo er dich anfasst, egal, wie tief er in dich eindringt und welchen Eingang zu deinem Körper er wählt. Cherrys Kunden kommen als Fremde, und so gehen sie auch wieder, mit leeren Händen. Wie sie es haben wollen, weißt du. Was sie fühlen, kannst du nicht nachempfinden. Du wirst zum Werkzeug ihrer einsamen Begierden, bloß aus ihren Herzen bleibst du ausgeschlossen, und genauso willst du es haben. In Gedanken stellst du Einkaufslisten zusammen. Niemand bringt dir Befriedigung oder auch nur Zärtlichkeit, aber wenn man dich sticht, blutest du.

Cherry dachte, sie könnte auf sich selbst aufpassen, doch in der Welt, die Van Leeuwen kannte, konnte das niemand.

»Was war nun mit dem Mann von gestern Abend, mit Gerrit Zuiker?«, fragte er. »Was war an ihm besonders? Warum ist er dir sofort aufgefallen?«

»Wegen dem Jungen«, sagte Cherry. »Wegen der Aktentasche und dem Jungen. Und dann die Brille, die er trug! Sie war irgendwie zusammengeklebt, mit Leukoplast oder so was.«

»Was für ein Junge?«

Cherry drehte bedächtig das Bonbon in ihrem Mund um, als könnte sie sich dann besser erinnern. »Es sah so aus, als würde er ihm folgen.«

»Kannst du ihn beschreiben?«

»Es war ein ganz normaler Junge«, antwortete Cherry. »Er trug Jeans und Turnschuhe und so einen Blouson mit Kapuze, dunkelrot. Ach ja, und ein Skateboard, das hatte er sich unter den Arm geklemmt. Der Mann – Gerrit – wollte wohl nicht, dass der Junge ihn bemerkte, denn er blieb immer stehen, wenn der Junge stehen blieb, und wenn der Junge weiterging, ging er auch weiter, jedenfalls das kurze Stück hier, wo ich ihn sehen konnte. Er sah irgendwie … irgendwie kaputt aus, kaputt und verzweifelt, deswegen ist er mir am meisten aufgefallen. Er hatte diese Aktentasche, die er gegen seine Brust gepresst hielt, als wäre sie wahnsinnig kostbar.«

»Ist das alles?«, hakte der Commissaris gespannt nach. »Gibt es sonst noch etwas, woran du dich erinnerst?«

»Es hat geregnet«, sagte Cherry. »Ich hab’s gern, wenn es draußen regnet.« Sie winkte einem Mann mit einem Pepita-Hut zu, der vor dem Fenster stehen geblieben war. Der Mann tat, als hätte er sie gar nicht gesehen, und ging langsam weiter. Cherry meinte: »Der Junge hat auch so hereingeschaut, aber er war viel freundlicher, er hat sogar gelacht. Dann hat er sich umgedreht, und ich glaube, in dem Augenblick hat er den Mann mit der Aktentasche entdeckt. Jedenfalls hat er sein Handy herausgeholt und telefoniert, bevor er schnell weitergegangen ist. Der Mann mit der Aktentasche hat ein paar Sekunden gewartet, dann ist er ihm wieder gefolgt … und der andere Mann auch.«

»Welcher andere Mann?« Der Commissaris richtete sich auf. »Von einem anderen Mann hast du bis jetzt nichts gesagt!«

»Der ist mir gerade erst wieder eingefallen.«

»Was war das für ein Mann? Wo kam er plötzlich her?«

»Wo er herkam, weiß ich nicht. Ich habe ihn ja erst bemerkt, als er dem Mann mit der Aktentasche nachgegangen ist, und wenn es nicht geregnet hätte, wäre er mir gar nicht aufgefallen. Ich meine, weil nur so wenige Leute unterwegs waren.«

»Und du bist sicher, dass er Gerrit und dem Jungen gefolgt ist?«

Cherry zuckte mit der Schulter und biss sich auf die Unterlippe. »Sicher bin ich nicht … Warum ist das denn so wichtig? Es war dunkel, und es hat geregnet, und er wollte nicht gesehen werden, also … Es war nur so ein Gefühl, dass er ihnen nachgegangen ist, okay?

»Um wie viel Uhr war das?«

»So um halb zwölf, Viertel vor zwölf. Ich hatte gerade einen Italiener drangehabt und zog den Vorhang wieder auf, und vorher hab ich auf die Uhr geguckt.«

Der Commissaris wuchtete sich aus dem Sessel hoch. Er hatte sich nicht getäuscht; es war nicht irgendein Toter, kein zufälliger Tod. »Kannst du den Mann beschreiben?«

Cherry schüttelte den Kopf. »Er war ungefähr so groß wie Sie, aber schlanker, und er hatte einen durchsichtigen Regenmantel aus Plastik an, so eine Art Cape. Auf dem Kopf trug er eine Baseballkappe. Wegen dem Schirm konnte man sein Gesicht nicht erkennen. Sorry, okay?«

Der Commissaris holte sein Handy heraus, um im Präsidium anzurufen, doch bevor er die Nummer drücken konnte, klingelte es. Der Klingelton war leise, und er klang, wie die alten Telefone geklungen hatten, bevor alle möglichen akustischen Signale oder Schlagertakte Mode geworden waren. Van Leeuwen meldete sich.

Die Männerstimme am anderen Ende der Verbindung gehörte Hoofdinspecteur Ton Gallo, der für ihn im Präsidium die Stellung hielt. »Bruno, Ton hier. Bist du noch in der Nähe von Chinatown?«

»Ja.«

»Da hat gerade jemand einen Mord gemeldet. Die Adresse ist Zeedijk einhundertsiebzehn. Ich dachte, ehe wir jemand hinschicken …«

Der Commissaris spürte, wie die kleinen elektrischen Impulse in seiner Brust wieder zu flackern begannen, heftiger als am Nachmittag und sogar heftiger als in der vergangenen Nacht. »Es ist schon gestern Abend passiert. Warum meldet der Zeuge sich erst jetzt?«

»Danach habe ich ihn nicht gefragt. Er sagte, er …«

»Ja, ja, schon gut«, unterbrach Van Leeuwen den Hoofdinspecteur. »Wie lautet der Name des Zeugen?«

»Zheng Wu.«

»Ein Chinese?«

»Ein Chinese«, bestätigte Gallo. »Aber wenn ich ihn richtig verstanden habe, handelt es sich nicht um einen Zeugen.« Einen Moment lang herrschte in der Leitung nur ein Knistern und Rauschen, und plötzlich wusste der Commissaris, was der Hoofdinspecteur als Nächstes sagen wollte. Deswegen kam er ihm zuvor:

»Es handelt sich um den Mörder.«