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Die Menschen wie reife Früchte malen, hatte Renoir einmal als Losung ausgegeben; dazu waren Ölfarben erforderlich. Erinnerungen dagegen präsentierten sich nicht selten als Aquarelle, ungewisse, im Dunst über der Gischt der Jahre entstandene Skizzen, denen das Flüchtige der Wasserfarben etwas verführerisch Ungenaues gab. Bei Bruno van Leeuwen traf dieses Phänomen allerdings nicht zu. Wenn er sich erinnerte, stand die Vergangenheit scharf wie ein Foto vor ihm, jede Einzelheit an ihrem Platz und zum Anfassen nah, gleich, ob die verstrichene Zeit Jahre überbrückte oder nur eine Minute. Also kein Ölgemälde und auch kein Aquarell, eher ein fotorealistischer Prozess. Oder, da Renoir ohnehin nicht unbedingt sein Fall war, ein Kupferstich von Goya, seinem Lieblingsmaler.
Es hatte einmal eine Zeit gegeben, in der Van Leeuwen gern nach Hause gegangen war, voller Vorfreude auf den Abend mit Simone, den Anblick ihres Gesichts, den Klang ihrer Stimme. Den Geschmack des Glücks. Ihre braunen Augen, ihre lebhafte Intelligenz, der Schwung, mit dem sie beim Reden das lange blonde Haar zurückwarf, eine Kopfbewegung als pars pro toto. Die Währung der Liebe schien ihnen nie auszugehen – Abende mit Rotwein, lange Gespräche, gemeinsam ausgesuchte Schallplatten, zärtliche Umarmungen, leidenschaftliches Begehren.
Simones Augen: in ihre Wärme, ihre Tiefe hatte er sich sofort verliebt, schon bei ihrer allerersten Begegnung, und diese Augen waren dieselben geblieben über die Jahre und Jahrzehnte, auch noch, als die andere Zeit gekommen war. So nannte er es bei sich – die andere Zeit, in der er all seinen Mut zusammennehmen musste, Abend für Abend, um über die Schwelle seiner Wohnung zu treten, hinter der inzwischen auch eine andere Frau wartete. Sie hieß noch Simone, sie war weiter mit ihm verheiratet, aber sie erinnerte sich nicht mehr daran, wie er hieß, welche Rolle er in ihrem Leben spielte. Es hatte an seiner Liebe nichts geändert, dass sie ihn jeden Tag ein bisschen mehr zurückließ, nicht an der Tiefe, nur an der Art, wie er sie zeigen konnte.
Jetzt, nachdem sie gestorben war, lebte er in einer dritten Zeit. In dieser dritten Zeit bog er in seine Straße, er ging auf das Haus zu, er stieg die Treppe zu seiner Wohnung hinauf, er betrat die Wohnung, und einen Moment lang war ihm, als rutschte er von einer Welt in eine andere, von einer äußeren in eine innere. Es war eine Welt in ihm, in der es auch nur ihn und seine Frau gab. Er konnte in ihr umhergehen, und sie sah aus wie die, aus der er gekommen war, aber sie schien viel älter zu sein. Älter und trauriger. Sein Herz wurde klein; es zog sich zusammen, und sein Blut erbleichte in den Adern. Genauso kam es ihm vor – als hätte er kein Rot mehr im Blut.
Auf der Fußmatte vor der Wohnungstür fand er eine Zeitung. Er hob sie auf. Es handelte sich um ein Probeexemplar einer Tageszeitung, die er nicht abonniert hatte, De Avond! Er betrat die Diele und legte den Schlüsselbund in die Keramikschale auf der Kommode neben der Eingangstür und die Zeitung auf den Schirmständer. Er hatte in der Wohnung alles so gelassen, wie es an dem Tag gewesen war, an dem er Simone ins Heim bringen musste. Er hatte ein wenig aufgeräumt, regelmäßig geputzt, aber nichts verändert. Die Gemälde, die sie von Sims Onkel geerbt hatten, hingen noch an den Wänden. Ihr Lieblingssessel stand weiter dort, wo er immer gestanden hatte. Auf den Fensterbänken gab es die Schüsseln und Teller, in denen sich ihre Sammlung nutzloser Dinge befand: ein vertrockneter Seestern, Kastanien, Kieselsteine, Muscheln, ein Tannenzapfen – die Schätze, zu denen sie ihn Abend für Abend geführt hatte, wenn er heimgekommen war.
In der dritten Zeit gab es eine feste Regel: nicht mehr als eine Erinnerung pro Abend, wenn er hier war. Eine war gestattet, nur eine, dann musste er an etwas anderes denken.
Er hängte den Trenchcoat an den Garderobenständer und ging zu den Wohnzimmerfenstern, die auf die Egelantiersgracht schauten. Sein Kopf summte vor Müdigkeit. Er öffnete zwei der drei Fenster, denn die Luft roch muffig. Es war noch dunkel. Er sah hinunter auf die Ulmen und das schwarze Wasser der Gracht im schwachen Schein der Straßenlaternen.
Ohne das Licht einzuschalten, ging er ins Schlafzimmer, wo er sich auszog. Er legte die Sachen, die er getragen hatte, auf das gemachte Bett, dann ging er zum Kleiderschrank und suchte frische Unterwäsche, saubere Strümpfe und ein gebügeltes Hemd heraus. Er ging ins Badezimmer, wo er sich duschte und rasierte. Er sah sein Bild im Spiegel, aber so, als sähe er es gar nicht mit seinen eigenen Augen oder als wäre ihm der Mann, der seinen Blick erwiderte, nur vage vertraut: eine Phantomzeichnung.
Er kannte den Mann im Spiegel, er konnte ihn beschreiben: die grauen Augen; das Haar, ehemals braun, jetzt ebenfalls grau, an den Schläfen und im Nacken zumindest; das kräftige Kinn mit dem kleinen Grübchen und die Nase, die schon gebrochen gewirkt hatte, bevor sie wirklich gebrochen worden war – bei einem Sturz vom Fahrrad, nicht in Ausübung seines Dienstes. Aber während er diesen Mann im Spiegel betrachtete, verlor er selbst das vage Vertraute und wurde vor seinen Augen zu jemand, den er weniger und weniger kannte.
Er hatte gewusst, wer er war, wenn er Simone ansah.
Er schaltete das Licht im Bad aus und ging zurück ins Schlafzimmer, um sich anzuziehen. Es wurde schon Herbst, aber die Tage waren noch immer warm. Deswegen hatte er ein Hemd mit kurzen Ärmeln gewählt, hellblau, und dazu wieder den beigen Leinenanzug, den er am liebsten mochte. Er entschied sich für einen hellbraunen Gürtel und braune Halbschuhe, bequem, aber nicht ausgetreten. Es war wichtig, dass er auf sich achtete, sich nicht gehen ließ.
Mit der Wohnung sah es anders aus: Sie hatte sich gehen lassen, oder er hatte gestattet, dass sie sich gehen ließ, anfangs unbemerkt, weil sein Augenmerk immer Wichtigerem galt. In der Küche blätterte ein wenig Putz von den Wänden, im Bad kündeten ockerbraune Flecken an der Decke von lange zurückliegenden Rohrbrüchen. An den Türrahmen zum Flur zog man sich Splitter ein, wenn man nicht aufpasste. Die Fensterrahmen im Schlafzimmer saßen locker, sodass man die auf den Mauervorsprüngen gurrenden Tauben hören konnte, und nach dem letzten kräftigen Regenguss war die Nässe durch sämtliche Ritzen gekrochen. Die Stromspannung schwankte, und wenn er alle Lampen und den Fernseher gleichzeitig einschaltete, sprang die Sicherung heraus.
Früher war es nicht nötig gewesen, alle Lampen und den Fernseher gleichzeitig einzuschalten.
Van Leeuwen ging in die Küche. Im Kühlschrank fand er ein paar Dosen Ravioli, eine halbe Packung Butter, eine Tüte Mozzarella, geschnittenes Brot und eine Flasche Mineralwasser, aber keinen Wein. Im Licht des offenen Kühlschranks sah er den Pappkarton mit der Aufschrift Montepulciano unter der Spüle und entdeckte darin die letzte Flasche eines guten Jahrgangs. Früher hatte es immer eine angebrochene Flasche im Kühlschrank gegeben, in der ersten Zeit und vor allem in der zweiten, der anderen Zeit. In der dritten gab es keine angebrochene Flasche in der ganzen Wohnung, nur die letzte des guten Jahrgangs, ungeöffnet.
Plötzlich klingelte das Telefon. Der Apparat stand auf der Kommode im Flur, aber Van Leeuwen blieb, wo er war. Leise, als könnte der Anrufer ihn hören, schloss er die Kühlschranktür. Er verharrte neben dem Kühlschrank und wartete darauf, dass der Apparat zu klingeln aufhörte. Sein Herz schlug schneller. Unvermittelt spürte er eine Schwere in seinem Inneren, einen harten Sog, als hätte er statt eines Magens einen faustgroßen Magneten, der kein Metall anzog, sondern die Vergangenheit – etwas, das einstmals da gewesen und jetzt verloren war.
Mit einem unwilligen Kopfschütteln ging er zur Fenstertür und öffnete sie. Das Klingeln, viel zu hartnäckig schon, verfolgte ihn. Mit beiden Händen auf das hüfthohe Geländer aus rostigem Schmiedeeisen gestützt, betrachtete er den schwach geröteten Himmel. Endlich verstummte das Telefon. Erst jetzt merkte er, wie heftig er die Brüstung umklammerte; die Eisenbolzen knirschten in ihrer Verankerung. Als er das Geländer losließ, waren seine Finger einen Moment wie taub.
Der schlimmste Anruf kommt nicht mehr, sagte er sich. Den schlimmsten Anruf hast du schon erhalten, und dagegen ist alles andere nichts. Trotzdem wollte er mit niemandem sprechen, der ihn mitten in der Nacht anrief. Manchmal war es Brigadier Julika Tambur, die wissen wollte, ob er da war und wie es ihm ging. Manchmal war es Ton Gallo, aber nicht so spät. Manchmal wurde einfach aufgelegt, wenn Van Leeuwen abhob, und dann dachte er, es könnte jemand sein, der mit Simone sprechen wollte; der nicht wusste, was mit ihr geschehen war. Und manchmal, in seinen kühnsten Träumen, die an Wahnsinn grenzten, war sie selbst am anderen Ende der Leitung und rief ihn an, um ihm zu sagen, dass alles nur ein Irrtum gewesen war oder ein schlechter Traum. Dass sie noch lebte. Oder dass sie zwar gestorben war, er aber trotzdem mit ihr reden konnte.
Er schloss die Fenstertür. Das Telefon klingelte nicht noch einmal, und auch sein Handy blieb stumm. Er sah auf seine Armbanduhr. Es war noch immer zu früh, um ins Präsidium zu gehen. Selbst zu Fuß brauchte er nur eine Viertelstunde, und dann war er schon da und konnte trotzdem nichts tun, keine Telefonate führen, keine Berichte lesen, niemanden befragen.
Er kehrte ins Wohnzimmer zurück, in dem es jetzt anders roch, nach dem stehenden Wasser der Gracht und feuchtem Ulmenlaub. Im Dunkeln setzte er sich auf die Couch. Der Wein fehlte ihm nicht. Als Simone noch bei ihm gewesen war, hatte er jeden Abend getrunken, und später, als sie im Heim, aber noch am Leben gewesen war, hatte er auch viel getrunken, und in der Nacht nach ihrem Tod hatte er sehr stark getrunken, doch seitdem nicht mehr. In den Monaten, die seither vergangen waren, hatte er nicht einen Tropfen angerührt.
Eine Erinnerung, dachte er; nur eine. Er musste sie sorgfältig auswählen.
Es war still vor den offenen Fenstern, doch von Weitem drangen die Geräusche der nächtlichen Stadt herbei, die niemals ganz schlief, nicht einmal jetzt. Er dachte an den Toten, Gerrit Zuiker, der inzwischen wahrscheinlich im Leichenschauhaus angelangt war und für den es nie mehr Tag werden würde und niemals mehr Nacht. Er fragte sich, ob Zuiker eine Frau gehabt hatte, die jetzt gerade auf ihn wartete, und warum er mit einer Pistole unterwegs gewesen war.
Als die Gedanken an Gerrit Zuiker nichts mehr halfen, überlegte er, ob eine Renovierung der Wohnung die dritte Zeit leichter machen würde. Er stellte sich vor, wie das Zimmer ohne die Couch und ohne Simones Sessel aussehen würde. Die dunkelroten Orientteppiche mit den dicken Fransen konnten auch weg, genauso wie die mit ehemals moosgrünem Samt bezogene Couch, die inzwischen fast farblos gesessen war. Die Deckenlampe mit dem Schirm aus hauchdünn geschliffenen Muscheln mochte er noch immer gern. Aber sonst brauchte er nichts aus diesem Zimmer, die Kommode nicht, die Schallplattenregale nicht und auch den Fernseher nicht.
Während es allmählich hell wurde, sah er in seinen Gedanken den Raum um sich herum völlig leer. Er sah die nackten Dielenbretter unter seinen Füßen, und alles war in das schattige Grün getaucht, mit dem die Blätter der mächtigen Ulme vor den Fenstern das Tageslicht filterten. Er saß da in dem leeren Zimmer und dachte: Du bist nicht der erste Mann, der seine Frau zu früh verloren hat, und auch nicht der erste, der sich damit nicht abfinden will. Daran kannst du nichts ändern, nicht das Geringste. Es kümmert niemanden, ob oder wie sehr du sie geliebt hast. Niemanden außer dir, und deswegen musst du es schaffen weiterzumachen – einen Tag und noch einen und den danach. So ist das nun mal.