10
Der Commissaris sagte: »Wir haben es also mit zwei Morden durch Ersticken zu tun. Im einen Fall steht der Täter schon fest – er ist geständig, schweigt sich aber über das Motiv aus. Im anderen gibt es bisher weder einen Verdächtigen noch ein Motiv, zumindest keins, das sich aus dem Leben des Opfers ableiten lässt. Der Mörder, der gestanden hat, ist ein Chinese namens Zheng Wu. Das Opfer ist sein Cousin Jun Wu und wurde mit einer Drahtschlinge erdrosselt. Das zweite – eigentlich das erste – Opfer heißt Gerrit Zuiker und hat als Lehrer in einer Sekundarschule in Oost gearbeitet. Mijnheer Zuiker ist mit einer Zellophan- oder Plastiktüte erstickt worden. In Abstimmung mit dem Staatsanwalt übernehmen wir die Ermittlung in beiden Fällen.«
Er saß auf dem Beifahrersitz des Einsatzwagens, Inspecteur Vreeling und Brigadier Tambur hinter sich, während Hoofdinspecteur Gallo den VW Golf durch den dichten Berufsverkehr steuerte. Der Wagen hatte schon 128 000 Kilometer auf dem Tacho, und je nach Zustand der Straße leuchteten abwechselnd die rote Tankanzeige, das Öllämpchen oder das Symbol für die Batteriespannung und manchmal auch alle gleichzeitig. Sie fuhren in einer dichten Kolonne aus Bussen, Lastwagen und Motorrollern auf der Stadhouderskade in Richtung Oost, und Van Leeuwen drehte sich immer wieder zu Vreeling und Julika Tambur um, die sich einen großen Coffee to go mit zwei Strohhalmen teilten.
»Was hat Gerrit Zuiker am Abend seines Todes in de wallen gesucht?«, fragte der Commissaris. »Warum hatte er eine Pistole, eine Walther P 38, bei sich? Was wollte er damit? Wo hatte er sie her – als Lehrer? Wer war der Junge, dem er gefolgt ist? War es einer seiner Schüler? Und wenn ja, warum ist er ihm nachgegangen? Steckte der Junge in Schwierigkeiten, vielleicht wegen Drogen, und wollte Zuiker ihm helfen? Diese Cherry hat einen Mann mit einem durchsichtigen Regenmantel aus Plastik und einer Baseballkappe gesehen, der ihm gefolgt ist – ihm oder beiden. Wer war der Mann? Warum ist er ihnen nachgegangen? Das sind die Fragen, auf die ich Antworten haben will.«
Hoofdinspecteur Gallo sagte nichts, und auch Julika und Inspecteur Vreeling schwiegen. Der Commissaris blickte aus dem Fenster. Sein Blick wurde von der Tag und Nacht eingeschalteten Neonreklame des Spielcasinos am anderen Ufer der Singel angezogen. »Von Zuikers Frau weiß ich, dass er sich verfolgt fühlte«, fuhr er fort, »beobachtet und verfolgt. Offenbar war er mit Leib und Seele Lehrer, hatte es aber nicht leicht – er fand keinen Draht zu den Schülern. Er war sehr unglücklich – frustriert, sogar verzweifelt, hatte das Gefühl, zu ersticken! Aus dem Internet hat er sich eine Art Manifest heruntergeladen, von einem jungen Südkoreaner – Cho Seung Hui –, der vor ein paar Jahren in Amerika an einer Universität Amok gelaufen ist: Blacksburg, Virginia. Übrigens auch mit einer Walther und einer 9mm Glock. Zweiunddreißig Tote. Mevrouw Zuiker hat erzählt, dass Gerrit in letzter Zeit immer mehr trank und von morgens bis abends ununterbrochen ein bestimmtes Lied hörte – Help me if you can …«
»… I’m feeling down«, fiel Brigadier Tambur ihm ins Wort.
»Genau das Lied meine ich«, bestätigte der Commissaris. »Ihre Ehe hatte praktisch aufgehört zu existieren, seine Frau wirkte völlig verbittert. Es muss für beide die Hölle gewesen sein.«
»Klingt, als hätte der Mörder ihnen einen Gefallen getan«, meinte Gallo. Er hielt an einer roten Ampel, und eine Bö trieb gelbes und rotes Laub auf die Fahrbahn und weiter zu den Baggern und Planierraupen, die den Platz vor dem Rijksmuseum umpflügten. Die Terrakottamauern des Museumsgebäudes ragten wie die Stirn eines Bischofspalastes über die Dauerbaustelle vor den Eingängen. Ein Himmel von scharfem Blau spannte sich über den weiß verzierten Türmen. An der Fassade warb ein großes Plakat für eine Ausstellung mit Werken eines toten Malers, der wahrscheinlich genauso unglücklich gewesen war wie Gerrit Zuiker und mit Pinsel und Öl Help me if you can auf Leinwand oder Pappe gemalt hatte, versteckt in Bildern von sonnendurchglühten Landschaften, pastosen Stillleben und qualerfüllten Selbstporträts.
»Ja, aber warum hat der Täter ausgerechnet diesen modus operandi gewählt?«, hakte der Commissaris nach. »Warum hat er ihn nicht erstochen oder erschossen? Weil er nicht wollte, dass es wie ein Mord aussieht? Also, was sagt uns die Tötungsart über den Täter? Das müssen wir herausfinden. Wer kommt denn überhaupt als Täter infrage? Habt ihr irgendeine Idee?«
Die Ampel sprang auf Grün, und Gallo fuhr weiter. Van Leeuwen drehte sich wieder zu Vreeling und Julika Tambur um. Wie immer am Beginn einer Mordermittlung kam er sich vor wie ein Fußballtrainer, der seine Auswahlmannschaft für die Meisterschaft motivieren musste. Wenn es keinen Mord aufzuklären gab, spielten Ton Gallo, Remco Vreeling und Julika Tambur in anderen Teams, für andere Abteilungen. Aber sobald jemand getötet worden war und der Commissaris beschloss, dass der Fall ihm gehörte – egal, wie oft man ihm sagte, es sei nicht mehr seine Aufgabe, er sollte anderen den Vortritt lassen, in deren Amtsbereich das Verbrechen eigentlich fiel –, dann rief er sie zusammen, um mit ihnen den Pokal zu holen. Er war dann Trainer und Kapitän in einem, und sie waren die beste Mannschaft, die er sich vorstellen konnte.
»Wurde Zuiker absichtlich ausgewählt, oder war er ein zufälliges Opfer?«, fuhr er fort. »War der Täter der Mann in dem durchsichtigen Regenmantel, der ihm gefolgt ist, oder der Junge, dem er selbst nachgegangen ist, oder keiner von beiden? Cherry hat gesehen, wie der Junge mit seinem Handy telefoniert hat, als er Zuiker bemerkte. Das spricht dafür, dass sie sich kannten. Fühlte der Junge sich bedroht? Hat er deshalb Hilfe gerufen, und dann kam es zu einer Auseinandersetzung, in deren Verlauf sie Zuiker zu mehreren getötet haben? Dagegen spricht die Plastiktüte, der ganze modus operandi. Oder war es doch der Mann im Regenmantel, und wenn ja, ist dieser Mann ein Kollege Zuikers oder der Vater eines Schülers?«
»Vielleicht hatte Zuiker pädophile Neigungen«, gab Brigadier Tambur zu bedenken. »Und vielleicht war das auch der Grund für den Zustand seiner Ehe.«
»Daran habe ich auch schon gedacht«, pflichtete der Commissaris ihr bei.
Inspecteur Vreeling sagte: »Falls weder der Junge noch der zweite Mann als Täter infrage kommen, wäre es aber immerhin möglich, dass sie etwas bemerkt haben – den wirklichen Mörder oder etwas, das uns auf seine Spur bringt. So wie diese Cherry sie gesehen hat.« Er saugte den letzten Schluck Kaffee aus dem Becher, zog die Strohhalme heraus und klemmte sich den Becher zwischen die Oberschenkel. An der linken Hand trug er einen weißen Verband, aus dem nur die Finger hervorragten.
»Könnte es nicht sein«, Gallo setzte den Blinker, wechselte auf die linke Spur und überholte einen Lastwagen, »dass Zuiker sich mit diesem Cho Seung Hui identifiziert hat? Dass er selbst ein Massaker plante, um sich für sein Elend zu rächen? Oder – falls er es nicht bewusst plante – dass er unbewusst auf dem Weg dahin war?« Er blieb auf der linken Spur und schaltete auch den Blinker nicht wieder aus. »Also zur Abwechslung mal kein Schüler als Amokläufer, sondern ein Lehrer? Vielleicht hat der Mörder mit seiner Tat dann womöglich noch Schlimmeres verhindert, so absurd das auch klingen mag.«
An der Amstel bog er nach links auf den Amsteldijk und etwas später nach rechts auf die Toronto Brug. Linker Hand ragte das Amstel Hotel vor der Stadtkulisse auf wie ein am Ufer ankernder Luxusdampfer. Der Fluss strömte unter der Brücke hindurch und am Fundament des Hotels vorbei zur Magere Brug. Die bunten Glühbirnen an den weiß gestrichenen Brückenbögen erinnerten im Sonnenschein an die erloschenen Lichtergirlanden eines Jahrmarkts, dessen Hauptattraktion erst am Abend zum Leben erwachte. Das Wasser war graugrün, die Wellen trugen kleine Schaumkronen, und Schwärme von Möwen suchten die Oberfläche nach Nahrung ab.
»Was steht denn eigentlich in diesem Manifest?«, fragte Julika.
Der Commissaris griff in die Brusttasche seines Sakkos und holte den zusammengefalteten Ausdruck hervor, den er im Büro fotokopiert hatte.
Julika griff danach, entfaltete das Blatt Papier und überflog den Text. »Ich musste das nicht tun«, las sie vor. »Ich hätte fliehen können. Aber ich renne nicht mehr davon. Wenn nicht für mich, dann für meine Kinder und meine Brüder und Schwestern. Ich habe es für sie getan … Hat Zuiker eigentlich eigene Kinder?«
»Nein«, antwortete der Commissaris. »Wir müssen herausfinden, ob der Junge von Zuikers Schule war und ob zwischen ihm und Zuiker irgendwas vorgefallen ist. Außerdem müssen wir die anderen Lehrer befragen: Wie war sein Verhältnis zu ihnen, zu den Schülern, den Eltern. Er hatte einen Freund unter den Kollegen, einen Mann namens Pieter – Pieter Hoekstra –, um den kümmere ich mich. Ton, du nimmst die anderen, und Julika und Remco, ihr befragt die Schüler, alle, mit denen er im Unterricht oder im Umfeld der Schule zusammenkam. Vielleicht ging es um Gangs oder Drogen.«
»Bad company«, sagte Vreeling und trommelte mit den Fingern der gesunden Hand auf dem Deckel des Kaffeebechers zwischen seinen Schenkeln herum. »Kümmert sich jemand um die Videoüberwachungskameras in de wallen? Davon muss es da doch jede Menge geben, bei den ganzen Geschäften und Absteigen. Vielleicht ist der Mörder auf einem der Bänder?«
»Hoofdagent Brugman vom zuständigen Wijkteam kümmert sich darum«, erklärte der Commissaris. »Aber es sind nicht so viele Kameras, wie man denken sollte, und bis jetzt gibt es auch noch kein Ergebnis.«
»Was ist mit der Frau?«, wollte Julika wissen. »Könnte die Frau nicht ein Motiv gehabt haben, ihn umzubringen oder umbringen zu lassen, wenn ihre Ehe am Ende war?«
»Alles ist möglich, wenn eine Ehe am Ende ist«, antwortete der Commissaris und wandte sich wieder nach vorn, um zu sehen, wohin sie fuhren. »Wie lange brauchen wir noch?«
»Nicht mehr lange, nur noch ein paar Straßen«, sagte Gallo. »Die Schule ist beim Oosterpark.«
Hinter der Toronto Brug veränderte sich das Stadtbild: Die Häuser waren nicht länger malerisch, die Bäume nicht mehr dicht belaubt, und in der Luft hing Staub, den der Wind aufwirbelte. Unter den Passanten auf den Gehwegen tauchten mehr Frauen mit Kopftüchern auf, die hinter ihren Männern gingen. In den Geschäften gab es jetzt Sanitärbedarf, Autozubehör und verstaubte Multimedia-Artikel mit roten Import-Export-Preisen auf Pappschildchen. Alle paar Häuser stand ein schmutziger Tisch mit zwei Plastikstühlen vor einer Stehkneipe oder einer Imbissbude, und die Spielplätze dienten als Müllplätze für Bierflaschen, Dönertüten und Pizzakartons. Dazwischen erhob sich eine zweistöckige Moschee, die aus hellen Klinkersteinen gebaut und auf dem Dach mit einem vergoldeten Halbmond geschmückt war.
Der Commissaris lehnte sich zurück. Er hatte geschlafen, zu Hause auf der Couch, allerdings unruhig. Das Septemberlicht lag gleißend auf der schlierigen Frontscheibe, und die Wärme im Wagen hüllte ihn in selten gewordenes Behagen. Jetzt war er ein Mann, der seine Arbeit tat, unterstützt von seinen Mitarbeitern – nicht hinter einem Schreibtisch, sondern draußen, wo er immer am liebsten gewesen war, auf dem Platz. Der Trainer und seine Mannschaft.
Und das war die Mannschaft: Hoofdinspecteur Ton Gallo, sechsundvierzig, der Mittelstürmer, Polizist ohne Rückversicherung und Scheuklappen, sein engster Freund und einer der wenigen Menschen, vor denen Simone keine Angst gehabt hatte, als sie während ihrer Krankheit nach und nach immer scheuer geworden war. Gallo hatte als Freiwilliger bei der niederländischen Friedenstruppe auf dem Balkan gedient, und seitdem – seit der Belagerung von Sarajewo, seit den Massengräbern von Srebrenica – hatte er nicht mehr gelacht. Gelächelt ja, aber laut gelacht nicht. Im Dienst war er kompromisslos und machte nichts halb; nur außerhalb der Dienststunden ließ er dem Unfertigen Raum. Ein Dichter, der nicht dichtete; ein Maler, der nie malen würde; ein Philosoph, der über seine Gedanken schwieg. Aber auch ein Restaurator: von gebrochenen Biografien, verborgenen Tatabläufen und – als Hobby – immer wieder von Riki Tiki Tavi, dem Hausboot, das er samt Liegeplatz von seinem Vater geerbt hatte.
Gallo hörte gern Zigeunerjazz, Django Reinhardt, und las russische Schriftsteller, am liebsten Tschechov. Er kleidete sich wie Saint Exupéry auf den Fotos, die ihn vor seiner einmotorigen Maschine im Zweiten Weltkrieg zeigten: immer dieselbe Jacke aus dunkelbraunem Leder, beige Leinenhosen, hellblaue Baumwollhemden, dazu weiße Schals, allerdings Turnschuhe statt der Stiefel. Seine bernsteinbraunen Augen waren hellwach, selbst wenn er eigentlich todmüde sein musste, und das blonde Haar sah immer aus, als wäre er gerade aus dem Bett gekommen, aber nie ungepflegt.
Wenn Gallo der Mittelstürmer war, was konnte dann Brigadier Tambur sein? Eine gute Verteidigerin, hervorragend in der Abwehr? Sie hatte lange Beine und einen langen, schlanken Hals, und das blonde Haar fiel ihr inzwischen voll und schimmernd über den Nacken bis hinunter zu den Schulterblättern, wie in einer Shampoo-Reklame, bloß die Musik fehlte. The girl with the sun in her hair. Nichts verriet mehr die Punkerin mit der rot gefärbten Stachelfrisur, den eingerissenen Jeans und den noppenbeschlagenen Lederklamotten, in der sie sich einmal versteckt hatte – nichts außer dem wunden, zornigen Blick, der ihr immer noch zu schnell in die großen Augen trat, wenn sie sich verletzt fühlte.
Doch, gut in der Abwehr, das traf es wohl. Vor zwei Jahren, als sie vierundzwanzig gewesen war, hatte Van Leeuwen sie vor dem Rausschmiss bewahrt, indem er sie in seine Mannschaft geholt hatte; er hatte ihr eine letzte Chance gegeben, weil ebendieser wunde Zorn ihn berührt hatte. Sie war jemand, der leicht aneckte und schnell die Krallen ausfuhr, aber er wusste, dass sie geführt werden wollte, gezügelt und gezähmt. Er konnte es hinter dem Zorn in den grauen Augen lesen, wo er alles Mögliche gefunden hatte, Angst, Tapferkeit, Verständnis, Sehnsucht. Fernwärme, hatte er es für Simone zusammengefasst.
Sie war kaum geschminkt, ihre junge, porzellanglatte Haut brauchte das nicht. Alles war zart an ihrem Gesicht – die kleine, gerade Nase, die großzügig geschwungenen Augenbrauen, der Mund, dessen glatte Lippen mit dem nur schwach aufgetragenen Rot an ein geteiltes Tulpenblatt erinnerten. Heute trug sie einen schwarzen Rollkragenpullover, Jeans, schwarze Stiefeletten mit hart knallenden Absätzen, dazu eine mit roten, grünen und schwarzen Karos gemusterte Jacke. Für eine Polizistin im Einsatz war sie damit fast zu klassisch gekleidet – auf eine Art, die zeigte, dass sie anfing, sich mit anderen Augen zu sehen: mit den Augen von Männern, denen sie gefallen wollte, Männern mit der Erfahrung gelebter Jahre. Ich würde auf mich stehen, wenn ich ein Mann wäre, sagte ihr Outfit. Ja, sie war sogar hervorragend in der Abwehr – von allem.
Ganz anders Inspecteur Vreeling, neunundzwanzig, gezeugt in Aruba auf den niederländischen Antillen, geboren in Rotterdam, eingewandert zu Schiff, aber noch im Mutterleib. Er war vielseitig verwendbar, im Angriff, im Tor, als Spielmacher, aber immer nur für kurze Zeit, bis er die Lust verlor. Und stets gut gelaunt, selbst wenn er auf die Bank geschickt wurde, weil er wieder mal übers Ziel hinausgeschossen war. Seine Spezialität waren verdeckte Ermittlungen, besonders, wenn es um die Verbrechen mit ethnischem Hintergrund ging, die neuerdings auch religiös geprägt sein konnten. Er wurde in Kreisen akzeptiert, in die sie sonst als Polizisten nie hineingekommen wären. Ob es an der Art lag, wie er sich kleidete?
Heute Morgen, zum Beispiel: ein kornblumenblaues muscle shirt, ein klatschmohnrotes Halstuch, schilfgrüne docker pants, eine glänzende, kieselfarbene Fleece-Jacke, dazu Stiefeletten und Gürtel aus imitiertem Krokodilleder, sodass er mit seinen kohlschwarzen Locken, der olivfarbenen Haut und den jadeblauen Augen aussah, als hätten alle Früchte der Erde sich zusammengetan, um dieses farbenprächtige Gesamtkunstwerk von einem Mann hervorzubringen, komplett mit schneeweißen Zähnen und paprikarotem Mund.
»Was hast du eigentlich mit deiner Hand gemacht, Remco?«, erkundigte sich der Commissaris.
»Ach, das ist gestern Abend beim Karate passiert«, antwortete Vreeling, »nur ein bisschen gestaucht. Hey, ich kann inzwischen drei Ziegel mit einem Handkantenschlag zertrümmern.«
Van Leeuwen brummte. »Bestimmt sehr nützlich, falls man mal von drei Ziegeln gleichzeitig angegriffen wird.«
»Ich dachte, du wolltest zu deiner Familie nach Rotterdam, Karate Kid«, sagte Julika. »Zum Zwanzigjährigen eurer Kneipe.«
»Da war ich am Samstag«, meinte Vreeling. »Wir mussten alle mit anfassen, mein Bruder, meine Schwester und ihr Mann, unsere Eltern. Karibische Küche, scharfe Gewürze, kubanische Zigarren, Rum, Kokosnusseis, das ganze bacardi feeling, inklusive Gitarren und Steeldrums … Ich bin erst am Sonntagvormittag ins Bett gekommen. Hätte dir bestimmt auch Spaß gemacht, wenn du mitgekommen wärst. Ton hat sogar gelächelt, mehrmals.«
»Du warst mit, Ton?«, hakte Julika überrascht nach. »Hattest du nicht vor, zu diesem Ehemaligentreffen der holländischen Friedenstruppe zu gehen, in Den Haag?«
»Und?«
»Ich bin doch nicht hingegangen.«
»Und du, Brigadier Tambur, hattest du ein schönes Wochenende?«, wollte der Commissaris wissen.
»Ein sehr schönes«, antwortete sie. »Ich durfte die ganze Nacht aufbleiben und meinem Vater die Hand halten, damit er nicht wieder zur Flasche greift und sich dann im Delirium aus dem Fenster stürzt. Er behauptet, nichts mehr zu trinken, aber ich glaube, er hält nicht mehr lange durch. Ich habe die ganze Wohnung auf den Kopf gestellt, was nicht schwer war – er hat ja nur ein Zimmer. Es gibt nicht ein einziges Bild darin, nicht von meiner Mutter, nicht von meiner Schwester, nicht von mir. Nur die Luft ist stickig, sie stinkt vor Erinnerungen an den Unfall, er schwitzt sie aus und wird sie doch nicht los. Ja, doch, war ein schönes Wochenende. Ist immer schön, einen erwachsenen Mann weinen zu sehen.«
Niemand fragte den Commissaris, wie er sein Wochenende verbracht hatte.