21

Es war ein kleines Zimmer mit einem kleinen, armseligen Geruch. Es roch nach Einsamkeit und nach der Krankheit, die in dieser Einsamkeit einen Menschen langsam zerfressen hatte. Die schräg hängende Holzjalousie des einzigen Fensters war halb heruntergelassen, sodass der Raum auch mittags im Halbdunkel lag. Der Commissaris versuchte, die Jalousie hochzuziehen, aber sie klemmte. Das Fenster ging auf die Rückseite eines alten Kaufmannspalastes am Ufer der Nieuwe Gracht, und es fiel hier hinter dieser schräg hängenden Jalousie nicht schwer, sich vorzustellen, dass Heleen Soeteman von allem immer nur die Rückseite zu sehen bekommen hatte, sogar von ihrem eigenen Leben. Das und die halb vertrockneten Topfgeranien auf dem Fensterbrett, dachte Van Leeuwen.

Neben dem Fenster stand ein schmales Bett mit einer durchgelegenen Matratze und einer fransenverzierten Patchwork-Decke aus dunkelroter und hellgrüner Baumwolle. Auf einer schweren Bauernkommode mit schmiedeeisernen Griffen an den Schubladen stand eine Windmühle aus Keramik, über deren Plastikräder ein dünnes Rinnsal trüben Wassers plätscherte und dafür sorgte, dass die Flügel sich drehten. Es gab einen Kleiderschrank aus dunkel gebeizter Eiche, der nicht zu der Kommode passte, außerdem einen runden Beistelltisch mit einem Mosaik aus bemalten Muscheln in der Platte und einen mit abgewetztem Samt bespannten Sessel, von dem aus man auf einen kleinen Fernseher mit einer Zimmerantenne schauen konnte.

Unter dem Tisch stand ein altmodisches Schnurtelefon. Eine spanische Wand verbarg die Kochnische, eine angelehnte Tür führte zu Dusche und Toilette. Der Commissaris knipste das Licht an. An der Leiste für den Duschvorhang hing ein dunkelblaues Kleid und warf einen scharfen Schatten wie ein Gehängter ohne Kopf. Auf dem Kachelboden vor der Duschzelle lag ein einzelner, umgekippter Hausschuh. Der Commissaris knipste das Licht wieder aus.

Er öffnete den Schrank und zog alle Schubladen der Kommode heraus. Er durchsuchte die sauber zusammengefalteten Blusen, die Unterwäsche und die Kleider und Jacken. Er fand kein Tagebuch, keine Briefe. Er fand keine CD mit dem Titel Help me if you can und kein Manifest, keine verzweifelten Hilferufe aus dem Internet. Er fand auch keinen Computer mit eingegangenen oder verschickten E-Mails, keine Versicherungsunterlagen, kein Testament.

Die Wohnung war so klein, dass Gallo, Vreeling und Julika in der Diele zurückgeblieben waren, um Van Leeuwen nicht im Weg zu stehen. Er setzte sich auf das Bett und schob die Hand unter die Matratze. Keine Walther PPK, Glock oder SIG Sauer, natürlich nicht. Er betrachtete das Telefon. »Ich will eine Liste der Gespräche haben, die von diesem Apparat aus geführt worden sind«, sagte er. »Uhrzeit, Teilnehmer und Häufigkeit der jeweiligen Verbindungen.«

Das Telefon hatte eine Wahlwiederholungstaste; er drückte sie und lauschte in den Hörer. Schon nach dem zweiten Klingeln kam eine Verbindung zustande. »Hallo?«, sagte eine Männerstimme.

»Hallo«, sagte Van Leeuwen. »Mit wem spreche ich?«

»Mit Pim«, antwortete die Stimme. Im Hintergrund schien ein Radio zu laufen, Werbung, und ein Automotor, der lauter und wieder leiser wurde. »Von der Total-Tankstelle«, ergänzte die Stimme. Sie klang so lebhaft wie der elektronische Ansagetext einer Mailbox.

 

»Können Sie mir sagen, wie ich zu Ihnen komme?«, fragte Van Leeuwen.

»Von wo aus denn?«

»Haarlem.«

»Ach, das ist ganz einfach …« Während der Junge, Pim Verhoeven, den Weg zu seiner Tankstelle beschrieb, fiel Van Leeuwens Blick auf einen Stapel Altpapier in der Kochnische, unter der Eisenspüle. Er legte auf, war mit zwei kurzen Schritten bei der Nische und schob den mit kleinen gelben Rosen auf schwarzem Grund bemalten Paravent beiseite. Der Stapel war nicht sehr hoch, vor allem Zeitungen, darunter mehrere Ausgaben von De Avond!, die Van Leeuwen schon kannte. Das Bild von Klaas van der Meer auf einer davon war mit wirrem Kugelschreibergekraksel fast unkenntlich gemacht worden. Van Leeuwen hielt die Ausgabe hoch und fragte: »Werden die hier auch verkauft oder gratis verteilt? Könnt ihr das herausfinden?«

»Es lohnt sich wohl kaum, so eine Zeitung nur für Amsterdam zu drucken«, meinte Gallo.

»Ja, aber manchmal wird sie erst in Amsterdam getestet, bevor man sie im ganzen Land herausbringt«, sagte Van Leeuwen und dachte, dass die Zeitung die erste Gemeinsamkeit zwischen Gerrit Zuiker und Heleen Soeteman war, außer der Art, wie sie getötet worden waren. Er bückte sich erneut, denn neben dem Zeitungsstapel stand der Mülleimer, und er klappte den Deckel hoch, um den Inhalt in Augenschein zu nehmen. Er entdeckte ausgepresste Orangen- und Zitronenschalen, verkrustete Müslireste, Brotrinde und mehrere benutzte Teebeutel, dazu ein Plastikdöschen, das ein starkes Schmerzmittel enthalten hatte.

Er nahm den Mülleimer mit zum Bett. Er setzte sich wieder und fischte zwei Briefe aus der Plastiktüte, beide mit Essensresten verklebt. Der Briefkopf auf dem ersten Blatt, das halb durchgerissen war, lautete Privatklinik Doktor med. van der Meer, das Schreiben entpuppte sich bei genauerem Hinsehen aber nicht als Brief, sondern als Rechnung. Für eine umfassende Untersuchung durch mehrere Ärzte im August und die Analyse der bei einer Biopsie entnommenen Zellen im klinikeigenen Labor wurden Heleen Soeteman insgesamt fast zweitausend Euro berechnet. Van Leeuwen verspürte ein Zucken seiner Galle, das ihm noch aus der Zeit vertraut war, als solche Briefe an ihn adressiert und ähnliche Beträge für die Untersuchung seiner Frau in Rechnung gestellt worden waren.

Der zweite Brief war handgeschrieben und mit einer persönlichen Anrede versehen: Liebe Heleen. Er stammte von einer Selbsthilfegruppe für unheilbar Krebskranke.

 

Liebe Heleen, stand da, du schreibst, du hast schon alles versucht und weißt nicht mehr weiter, und wenn du sämtliche Gurus und Wunderheiler durchhast, wenn bei der Telefonseelsorge aufgelegt wird, sobald sie deine Stimme hören, und wenn die Kirche und Gott und die ganze Tröstungsindustrie dir keine Hilfe mehr bieten …

Van Leeuwen dachte: Ich will das nicht lesen. Er faltete beide Briefe zusammen und steckte sie in die linke Außentasche seines Trenchcoats, dann stand er auf und sagte: »Andiamo!«, was er nicht mehr gesagt hatte, seit Sim tot war.

»Andiamo wohin?«, wollte Julika wissen.

»Wir bringen Teamchef Sinnege den Schüssel von hier zurück, und dann fahren wir zu Pim von der Tankstelle, bevor wir Doktor van der Meer einen Besuch abstatten!«

»Doktor Death?«, fragte Vreeling. »Meinen Sie, bei dem Mord an Heleen Soeteman handelte es sich vielleicht um Sterbehilfe?«

»Doktor van der Meer«, korrigierte ihn der Commissaris. »Wenn es Sterbehilfe war, dann war es kein Mord. Aber wenn es Sterbehilfe gewesen wäre, dann müsste sie von einem Arzt durchgeführt worden sein, ein zweiter Arzt müsste vorher seine Zustimmung gegeben haben, und hinterher müsste man den Fall dem Staatsanwalt melden, einschließlich des schriftlich erklärten Todeswunsches der Patientin und der Feststellung ihrer unheilbaren, qualvollen Krankheit durch ebenfalls mehrere Ärzte. Diesem Staatsanwalt müsste man dann auch erklären, warum der Tod mit einer Plastiktüte herbeigeführt worden ist statt mit einer Kaliumspritze, und zwar auf einem Tulpenfeld und nicht in einem Klinikzimmer. Nein, ich glaube nicht an Sterbehilfe, aber ich möchte wissen, was genau die Ärzte in Van der Meers Klinik herausgefunden und Heleen Soeteman gesagt haben.«

Eine halbe Stunde später hatten sie das Kopfsteinpflaster der Altstadt von Haarlem hinter sich gelassen, und es war noch immer früher Nachmittag. Rechts und links von der Straße glommen flache Gewächshäuser in der Sonne, eins hinter dem anderen, und alle sahen genauso aus wie das, vor dem Heleen Soeteman ermordet worden war. Die abgeernteten Tulpenfelder lagen kahl und farblos zwischen den Glasflächen.

Nach einiger Zeit fuhren sie an Kartoffeläckern vorbei, auf denen die von der Ernte übrig gebliebenen Pflanzen verbrannt wurden. Der Rauch zog über die umgegrabenen Furchen davon, und die Flammen sahen aus wie rote Fahnen, die im Wind schlugen. Noch später wogte goldbrauner Mais unter den Herbstböen, sodass es wirkte, als tanzten unsichtbare Geister zwischen den hohen Blättern.

Als die Maisfelder aufhörten, gaben sie den Blick auf eine Tankstelle frei, deren großes Total-Schild in Blau und Rot dringend einer Wäsche bedurfte. Gallo lenkte den Golf von der Fahrbahn auf das Tankstellengelände und hielt zwischen den überdachten Zapfsäulen und der Waschstraße. Hinter der Waschanlage stand ein Motorrad aufgebockt, eine Motoguzzi, deren Lenkgriffe hochragten wie ein Geweih. Auch die Scheiben des Kassenhäuschens hätten eine Wäsche vertragen können. Eine Videoüberwachungskamera war auf den leeren Asphalthof und die Zapfsäulen vor dem Kassenhäuschen gerichtet. Überall schillerten Ölflecken im Schein fast unsichtbar flackernder Neonröhren unter dem Betondach.

Der Commissaris stieg aus dem Wagen und sagte: »Ton, du kommst mit rein. Brigadier Tambur, du und Inspecteur Vreeling, ihr schaut euch ein bisschen um, nicht zu auffällig, aber sorgfältig.«

»Wonach suchen wir?«, fragte Julika.

»Gummistiefel mit grobrippigen Sohlen, Größe dreiundvierzig«, antwortete der Commissaris, »Plastiktüten, was auch immer, keine Ahnung.«

»Ich dachte, Pim Verhoeven war Heleens einziger Freund?«, wandte Julika ein.

»Freunde haben Mitleid«, sagte der Commissaris, »wenn das Opium nicht mehr wirkt.« Gallo und er betraten das Kassenhäuschen, an dessen Decke weitere Neonröhren summten und leise klickten wie ein Insekt, das gegen eine Glasscheibe fliegt. Drei davon brannten unterschiedlich hell, in den anderen gab es nur gelegentlich ein fahl zuckendes Leuchten.

An der Kasse stand ein junger Mann mit spröden blonden Haaren und grünen, sorgenvollen Augen, die keinen Glanz hatten. Seine Hände waren schmutzig, die Knöchel verschorft und die Fingernägel abgekaut. Er trug eine Brille mit runden, edelstahlgerahmten Gläsern und einen Total-Overall, der ihm zu groß war, sodass er an das Kostüm eines Clowns erinnerte. Sommersprossen bedeckten das Gesicht des jungen Mannes wie helle Lehmspritzer. Sein Blick klebte an einem Fernseher mit gestörtem Empfang, dessen Bildschirm unverändert denselben Sandsturm aus statischen Lichtpunkten zeigte, sooft er auch mit der Fernbedienung den Sender wechselte: pulsierendes Licht, in dem geisterhafte Gestalten von dem elektronischen Sturm verzerrt wurden und in übersteuertem Total-Blau und Rot abgehackte Laute ohne erkennbaren Ursprung von sich gaben.

»Hallo«, begann der Commissaris. »Sind Sie Pim Verhoeven?«

»Jau«, antwortete der junge Mann, ohne den Blick von dem Fernseher zu lösen, »bin ich.«

»Fein«, sagte der Commissaris. »Ich bin Commissaris Bruno van Leeuwen vom Hoofdbureau van Politie in Amsterdam. Und das ist mein Kollege, Hoofdinspecteur Anton Gallo.«

Pim Verhoeven drückte weiter einen Knopf nach dem anderen auf der Fernbedienung und wechselte die Programme immer schneller, als hätte er sich vorgenommen, die Lichtgeschwindigkeit außer Kraft zu setzen. Auf einem Hocker neben dem Fernsehapparat lag ein Motorradhelm mit der leuchtend roten Aufschrift Easy Rider.

»Wir untersuchen den Tod von Heleen Soeteman«, fuhr der Commissaris fort.

»Er war es«, sagte der junge Mann, ohne seine sorgenvollen Augen von den surrealen Geisterwesen auf dem Bildschirm zu lösen.

»Wer war was?«, fragte Gallo. Er hatte angefangen, das Sortiment von Motoröl-Dosen, Warnkreuzen, Erste-Hilfe-Kästen, Blinkerverglasungen und Scheibenwischerblättern in den Regalen zu inspizieren, aber jetzt blieb er stehen und schaute zur Kassentheke hinüber.

»Ihr Mann«, sagte Pim Verhoeven. »Er hat sie getötet.« Seine Stimme klang immer noch wie am Telefon, wie vorher aufgezeichnet und von einem Apparat wiedergegeben.

»Meinen Sie Alex Carlsen, Heleen Soetemans Exmann?«, fragte der Commissaris.

»Er hat sie gefunden und umgebracht.«

»Hatte sie noch Kontakt zu ihm? Hat er sie bedroht?«

»Er hat sie verprügelt, genau wie ihr Vater. Die ganze Zeit, während sie verheiratet waren, hat er sie geschlagen. Deswegen ist sie so krank geworden.«

Der Commissaris beugte sich über die Kassentheke, nahm Verhoeven die Fernbedienung aus der Hand und schaltete den Fernseher aus. »Sie waren doch mit Heleen Soeteman befreundet«, fuhr er fort. »Sie hat Sie vor Ihrem Tod von zu Hause aus angerufen. Wissen Sie noch, wann das war?«

Der junge Mann starrte weiter auf den Bildschirm, mit halb offenem Mund, als könnte er nicht glauben, dass es so einfach war, die Geister loszuwerden. »Sie hat mich oft angerufen«, erklärte er, und endlich kehrte Leben in seine Stimme zurück. »Wir haben fast jeden Tag telefoniert.«

Van Leeuwen legte die Fernbedienung auf die Theke. »Und das letzte Mal?«, fragte er noch einmal. »Wann war das? Worüber haben Sie gesprochen?«

Der junge Mann schüttelte den Kopf. Er schloss die Augen, und als er sie wieder öffnete, sah er Van Leeuwen an. »Sie sagte, sie könnte es nicht mehr ertragen. Sie könnte die Schmerzen nicht mehr ertragen. Sie hatte schreckliche Schmerzen, wissen Sie, die immer schlimmer wurden. Es war in der Nacht, bevor sie … vor ihrem Tod … Sie konnte nicht schlafen. Sie konnte oft nicht schlafen, und manchmal haben wir die ganze Nacht durch telefoniert. Sie hatte Krebs, im Endstadium. Weil sie so viel hat leiden müssen in ihrem Leben.«

»Woher kannten Sie sich?«

»Sie hat sich bei mir versteckt.« Verhoeven sprach so leise, dass der Commissaris sich unwillkürlich näher an die Theke beugte, und auch Gallo trat aus dem hinteren Teil des Raumes nach vorn zur Kasse. »Vor ihrem Mann. Weil er sie wieder geschlagen hatte, im Auto, beim Fahren. Sie hat ihm gesagt, sie müsste mal, und als er angehalten hat, ist sie weggelaufen. Ich konnte sehen, wo sie sich versteckt hat, aber ich habe ihm nichts verraten. Die Seitenscheibe war noch blutig, weil er ihren Kopf dagegengestoßen hatte. Er ist dann weitergefahren, und ich habe ihr was zum Verbinden gegeben, Pflaster und so. So haben wir uns kennengelernt.«

»Wann war das?«

»Vor vier Jahren. Danach kam sie öfters vorbei, mit ihrem Fahrrad, auf dem Weg zur Arbeit.«

»Und er – ist er auch noch mal wiedergekommen?«

»Nein. Sie hat ihn … als sie so krank wurde, hat sie ihn verlassen.«

»Sie hat ihn verlassen?«, vergewisserte sich Gallo. »Nicht er sie?«

Der junge Mann nickte und wischte sich die Nase mit dem Handrücken. Er sah zur Tür hinüber, durch die Julika den Kassenraum betrat. Als der Commissaris sich umdrehte, deutete sie ein Kopfschütteln an.

»Wissen Sie, wo er heute lebt?«, fragte Gallo.

»Nein. Er arbeitet als Kellner, und damals – als er Heleen kennengelernt hat –, war er in einem Striplokal beschäftigt, in Rotterdam. Das hat sie mir mal erzählt, dass er Kellner war und in Clubs bediente. Aber wo er jetzt lebt – keine Ahnung …«

»Hat sie damals auch im Rotlichtmilieu gearbeitet?«, wollte Gallo wissen.

Verhoeven wischte sich wieder mit dem Handrücken die Nase und blickte mit seinen glanzlosen Augen durch die schmutzige Scheibe auf die Straße und die vorbeifahrenden Wohnmobile und Cabriolets. Die Autos fuhren schnell und zu dicht hintereinander, und keins hielt an, um zu tanken. Verhoeven sagte: »Sie war damals … sie war eben noch sehr jung.«

»Als Prostituierte?«, hakte Gallo nach.

Der junge Mann meinte: »Nein, nicht als Prostituierte. Es war mehr – sie hat die Männer animiert, hat mit ihnen Champagner getrunken, in einem schönen Kleid mit Schlitzen an der Seite, und nur weil der Abend so schön war, so gemütlich, ist sie mit ihnen intim geworden, und sie haben ihr dann ein Geschenk gemacht. Er hat gesagt, er holt sie da raus, ihr Mann, aber es wäre ihr besser gegangen … wenn sie ihm nicht geglaubt und ihn nicht geheiratet hätte, wäre es ihr besser gegangen.«

»Wie ist es ihr denn ergangen?«, fragte Gallo.

Der junge Mann sah weiter durch die Scheibe hinaus, und die Autos fuhren nicht nur draußen auf der Straße, sondern auch als kleine, verkrümmte Spiegelbilder über seine Brillengläser. »Er hat sie an den Haaren durch die Wohnung gezerrt. Er hat sie aufs Bett geworfen und vergewaltigt. Er hat sie in den Bauch geschlagen und auf die Ohren und auf den Mund. Er hat sie gewürgt, ihr die Bluse am Hals zugedreht, bis sie beinahe erstickt wäre. Er hat ihr das Essen vor die Füße gekippt, und sie musste es aufwischen. Er hat mit Ravioli-Dosen nach ihr geworfen und ihr zwei Finger gebrochen. Er hat einen Kristall-Aschenbecher an ihrer Stirn zerschlagen. Jeden Tag – jeden Tag war das so, manchmal schon morgens, und wenn nicht am Morgen, dann am Mittag, und wenn nicht mittags, dann am Abend …«

»Warum hat er das getan?«, wollte Julika hinter Van Leeuwen wissen. Jetzt klang auch ihre Stimme so, als wäre sie vorher aufgezeichnet oder elektronisch zusammengesetzt worden.

Der junge Mann sah weiter hinaus, und die Autos fuhren nach Zandvoort und Leiden und über seine Brillengläser, und es schien, als wartete er darauf, dass eins von ihnen anhielt, mit Blut an der Seitenscheibe, dass Heleen herauslief, um sich bei ihm zu verstecken; um von ihm gerettet zu werden. »Warum er das getan hat?«, wiederholte er. »Weil sie das Licht in der Abstellkammer angelassen hatte. Weil sie ihm das Essen zu heiß oder zu kalt hinstellte. Weil sie zu lange mit einer Freundin telefonierte. Weil sie den Wagen falsch geparkt hatte, weil sie sich nicht sofort auszog, wenn er mit ihr …«

»War er Alkoholiker?«, fragte Julika. »War er betrunken, wenn er das gemacht hat?«

»Darum geht es jetzt nicht«, warf der Commissaris ein.

»Doch, darum geht es«, widersprach Julika, und als er sich zu ihr umdrehte, sah er die Veränderung, die mit ihr vorgegangen war. Sie schien plötzlich durchscheinend geworden zu sein, und er sah die alte Julika in der neuen, die Punkerin mit der Lederjacke, den Ketten, Eisendornen und Noppen; die Frau mit den korallenroten Stachelhaaren und dem blassen Gesicht, die nicht wusste, wohin mit ihrem Zorn und ihrer Verletzlichkeit. Die innerlich zitterte.

»Ich weiß nicht, ob er Alkoholiker war«, sagte Verhoeven. »Vielleicht. Ich weiß es nicht.«

»Aber warum hat sie sich das alles gefallen lassen?«, beharrte Julika.

Der junge Mann senkte den Kopf und fuhr sich mit einer ölverschmierten Hand durch das spröde Haar. »Weil er ja auch eine andere Seite hatte, sagte sie – eine fleißige, eine großzügige. Er arbeitete hart, weil er selbst da wegwollte, von den Clubs und Striplokalen und den Leuten, die ihn rumschubsten. Und wenn er was auf der Hand hatte, dann lud er sie ein und machte ihr Geschenke, teure Unterwäsche aus Seide, Schmuck, einmal sogar ein Pony. Und dann dachte sie – dann hoffte sie, dass er so bleibt, dass vielleicht irgendwann alles anders würde. Dass er sich ändert und dass sie dann glücklich sein könnten, sogar sie, irgendwann in der Zukunft. Sie dachte, wenn sie alles aushält und keinen Mucks von sich gibt, dass das doch genügen muss, um das Glück herbeizuzwingen.

Sie ist ja auch oft weggelaufen, nicht bloß ein Mal, nein, Dutzende Male. Aber sie ist immer freiwillig zurückgekommen, nur zwei Mal musste er sie mit der Polizei holen lassen – ja, die Polizei hat sie für ihn wiedergeholt. Sie hat sich schlagen lassen und dachte immer, diesmal ist es das letzte Mal. Aber es war nie das letzte Mal. Er schlug sie, danach lag sie blutend auf dem Bett im Schlafzimmer, bei zugezogenen Vorhängen, und er saß im dunklen Wohnzimmer und trank, ja, Sie haben recht, er trank die ganze Zeit, nur beim Schein der Musicbox. Er schüttete Genever und Bier in sich hinein, ließ sich volllaufen und hörte alte Schlager, und wenn nichts mehr reinging in ihn, kam er zu ihr … Aber im Grunde …«, der junge Mann nahm die Brille ab, und jetzt glänzten seine Augen, als er sich die Tränen abwischte, »im Grunde hat sie es sich ja gar nicht gefallen lassen. Sie ist ja krank geworden. Und das Komische ist, als die Krankheit immer schlimmer wurde, wuchs auch ihr Mut. Sie hat ihn endlich doch verlassen, für immer.«

Van Leeuwen dachte, dass für immer manchmal sehr kurz sein konnte und dass, andererseits, wahrscheinlich jeder Tag dieser Ehe davor wie eine Ewigkeit gewesen war. Dann dachte er: Wir müssen jetzt zum eigentlichen Zweck der Befragung kommen. »Wann hat sie sich an Doktor van der Meer gewandt?«, fragte er. »Als sie wusste, dass sie sterben musste?«

»Van der Meer!« Verhoeven verzog die Lippen, als hätte er in eine Zitrone gebissen. »Ihre Schmerzen waren so unerträglich, und er hat sich geweigert, ihr zu helfen. Er hat sie untersucht, hat sie sogar seinem medizinischen Komitee vorgestellt, und dann sagte er, er könnte nichts mehr für sie tun … Aber eine gesalzene Rechnung, die konnte er ihr schon noch schicken, ganz schnell, bevor sie …«

»Was für eine Art Hilfe wollte sie denn von Van der Meer?«

»Sie wollte sterben.«

»Und Sie?«, fragte Gallo nach. »Wollten Sie ihr nicht helfen?«

»Ich wollte«, bekannte Verhoeven leise, »aber ich konnte nicht.« Er setzte die Brille wieder auf. »Ich habe daran gedacht … ich hätte ihr so gern geholfen …«

»Wo waren Sie am Freitagmorgen zwischen sieben und neun Uhr?«, wollte Gallo wissen.

»Hier, das habe ich doch schon der Polizei in Haarlem gesagt. Ich hatte die Frühschicht.«

»Was für eine Schuhgröße haben Sie?«

»Zweiundvierzig – warum?«

»Besitzen Sie Gummistiefel der Größe dreiundvierzig?«

»Nein. Heleen besaß ein Paar Gummistiefel, die brauchte sie bei der Arbeit, aber sie hatte Größe neununddreißig. Trug ihr Mörder solche Stiefel? Ich sage Ihnen doch, es war ihr Mann, der hat sie umgebracht!«

Der Commissaris dachte, Alex Carlsen hätte keine Plastiktüte benutzt; er hätte sie erschlagen oder erwürgt. »Wissen Sie, ob sie in letzter Zeit mal in Amsterdam war?«

Verhoeven schüttelte den Kopf. »Bestimmt war sie das, doch erwähnt hat sie es nicht.«

»Was ist mit den Namen Gerrit Zuiker oder Pieter Hoekstra – hat sie die mal erwähnt?«

»Nein.«

»Waren Sie in Amsterdam?«, fragte Gallo, »vielleicht vor anderthalb Wochen, nachts, in de wallen? Haben Sie einen durchsichtigen Regenmantel aus Plastik?«

»Nein, nein – wieso denn? Was wollen Sie denn von mir?«

»Vielleicht das hier«, sagte Inspecteur Vreeling an der Tür zum Kassenhäuschen. Keiner hatte gehört, wie er hereingekommen war, aber da stand er, und in der Hand hielt er ein Paar mit getrockneter Erde verklebter Gummistiefel. »Vielleicht wollen wir, dass Sie uns erklären, ob Ihnen diese Stiefel der Größe dreiundvierzig gehören.«

Der junge Mann starrte die Stiefel an, und seine Unterlippe zitterte plötzlich. »Wo haben Sie die her?«, wollte er überrascht wissen. »Das sind nicht meine.«

»Die standen in der Waschstraße, hinter einem Behälter mit Scheibenreiniger«, erklärte Inspecteur Vreeling. »Wenn es nicht Ihre sind, wem gehören sie dann?«

»Das sind wahrscheinlich … die gehören wahrscheinlich Dick«, antwortete Verhoeven. »Er arbeitet auch hier. Zurzeit hat er die Nachtschicht.«

»Eintüten und mitnehmen«, sagte der Commissaris zu Vreeling. »Die Kollegen in Haarlem sollen sie untersuchen.« Er wandte sich wieder an Verhoeven und deutete auf einen Block, der neben der Kasse lag. »Wir benötigen den Namen und die Adresse Ihres Kollegen. Wer außer Ihnen war noch mit Heleen Soeteman befreundet?«

»Sie hatte keine anderen Freunde«, erwiderte der junge Mann jetzt fast trotzig, während er etwas auf den Block kritzelte, einen Namen und eine Adresse. »Erst hat ihr Mann alle vertrieben und dann die Krankheit.«

»Sie hat mit einer Krebshilfegruppe korrespondiert«, wandte der Commissaris ein. »Könnte es sein, dass dadurch ein Kontakt zustande gekommen ist, von dem Sie nichts wissen?«

Verhoeven überlegte. »Da war jemand«, sagte er bedächtig, »ein Mann … Sie hat einmal erzählt, sie hätte jemand kennengelernt, der ihr vielleicht helfen könnte. Sie war sogar ganz aufgeregt deswegen … Aber seinen Namen hat sie nicht genannt. Sie hat ihn danach auch nie wieder erwähnt, und ich wusste, dass es … dass es nichts Persönliches war. Als Freund hatte sie nur mich!«

Julika sagte: »Und Sie hatten auch niemand außer ihr, nicht?« Ihre Stimme klang jetzt wieder normal, aber noch immer konnte man die andere Julika in ihren Augen sehen. »Wie war Ihr Verhältnis eigentlich genau?«

Der junge Mann schwieg. Er blickte wieder durch die Scheibe hinaus auf die Straße. Eins der wie Weberschiffchen vorbeirasenden Autos drosselte das Tempo und bog von der Fahrbahn auf das Tankstellengelände. »Ich war ihr Freund«, antwortete Verhoeven, »ihr einziger Freund.«

»Warum gerade Sie?«

»Ich wusste, was sie … ich habe sie verstanden – ich …«

»Sind Sie auch geschlagen worden als Kind?«, fragte Julika. Sie rührte sich nicht von der Stelle, breitete nur ihre Hände aus. »Haben Sie sie deswegen so gut verstanden?«

Der junge Mann schien einen Moment den Atem anzuhalten, als hörte er in sich hinein, als versuchte er, seiner eigenen Seele zu lauschen oder sie auch nur zu finden. »Ich muss wieder an die Arbeit«, sagte er dann leise. »Windschutzscheiben putzen gehört zum Service.«