20
Auf der rechten Seite der Straße erstreckte sich ein Hafen hinter dem anderen, erst der Westhaven, dann der Amerikahaven und etwas später der Afrikahaven, und überall ragten Kräne und Öltanks und Raffinerien aus dem Dunst in den silberblauen Himmel. Die Sonne spiegelte sich in den Fenstern von Bürogebäuden und lag blendend auf den Aluminiumverschalungen klobiger Silos und dem Weiß frisch gestrichener Containerschiffe. Das Wasser in den Hafenbecken war graugrün, mit leichten Schaumkronen auf den Wellen. Die Luft roch nach Salz, Jod und vermoderten Pflanzen. Linker Hand blieben die Häuser von Geuzenveld zurück, und wenn der Commissaris an Gallo vorbei durch die Fenster auf der Fahrerseite des Golf blickte, konnte er ganz in der Ferne die Flugzeuge auf Schiphol zuschweben sehen.
Eins davon kam aus Shanghai, und Ailing Wu saß darin, jetzt noch nicht, aber bald.
Es war nicht sehr weit bis Haarlem. Gallo fuhr schnell, und die Straße war eine hypnotische schwarze Fläche, die dem Wagen entgegenflog, gesäumt von Verkehrsschildern und Reklametafeln. Hinter langsamer vorbeigleitenden Lagerhallen und Verbrauchermärkten erstreckten sich die Wiesen und Felder, Gras, das noch immer saftig war, zu gelblichen Haufen getürmtes Heu, endlose Rübenfelder im sonnigen Oktoberlicht, glitzernde Bewässerungsgräben unter zähen Nebelfetzen. Hier und da lehnte eine windschiefe Scheune an einem flachen Gehöft, vor einem weiten Horizont, der wie mit dem Lineal gezogen wirkte.
Der Commissaris sah die dunkelbraunen Äcker und das hoch stehende Gras und die vereinzelten Weiden, deren Zweige in den Wind fielen, aber er nahm sie nicht wahr. Er sah Kühe auf den Wiesen grasen und wiederkäuen und Pferde, die an Holzzäunen entlangtrabten. Eine Windmühle, die ihm noch nie aufgefallen war, regulierte mit behäbig kreisenden Flügeln den Wasserstand in den Gräben der Polder. Federwolken trieben unter dem tiefblauen Himmel von der Nordsee landeinwärts, zu hoch, als dass sie Schatten werfen konnten. Krähen sammelten sich auf den Feldern, die schon abgeerntet waren.
Der Commissaris war zu tief in Gedanken, zu abgelenkt, um den Anblick wirklich wahrzunehmen. Er wusste, dass es so war, denn manchmal wurde für eine Sekunde ein Bild vor seinen Augen scharf – ein Stillleben, eine Momentaufnahme –, und er dachte flüchtig: kostbar, viel zu schön, bevor seine Gedanken zu den Morden zurückkehrten, die er aufklären musste, zu den Toten, die noch auf Gerechtigkeit warteten.
Seine Haut kribbelte, als liefen Hunderte roter Ameisen darüber, seit gestern, seit Holthuysen ihn angerufen hatte. Es war das Wort Serientäter, das dieses tausendfüßige Kribbeln auslöste, eine Art elektrischer Spannung um seinen Körper. Er hoffte, dass Holthuysen sich irrte. Er hoffte, dass es nur diese beiden Plastiktüten-Morde gab und sonst keinen mehr, nicht davor und auch nicht danach. Keine weiteren Toten, die womöglich über das ganze Land verteilt in der Erde lagen. Keine Jagd gegen die Uhr, bei der man aufhörte, die Opfer zu bedauern, weil man nicht mehr das eine Leben sah, das ausgelöscht worden war, sondern hoffte, dass der Mörder weiter tötete, weiter Menschen umbrachte. Weil er irgendwann einen Fehler machen musste, einen Fehler, der ihm zum Verhängnis wurde.
Lass ihn noch den einen umbringen, bei dem er den Fehler macht, damit wir alle anderen vor ihm beschützen können.
Ein weiteres Paradoxon, dachte der Commissaris, dass man manche Mörder den anderen vorzog, weil sie mehr Menschen am Leben ließen. Er drehte sich in seinem Sitz zu Inspecteur Vreeling um, der wie immer auf der Rückbank hinter Gallo saß. »Remco, wie weit bist du mit Zheng Wu? Was hast du in Chinatown herausgefunden?«
»Also, laut Ausländerbehörde ist er legal hier, hat einen gültigen Pass, eine unbefristete Aufenthaltsgenehmigung und eine Arbeitserlaubnis, die Impfbescheinigungen sind auch in Ordnung«, sagte Vreeling. Er griff in die Seitentasche seines Blousons aus sandfarbenem Wildleder und holte einen Notizblock hervor. Zum Blättern nahm er die verletzte Hand zu Hilfe; den ehemals weißen Verband zierten inzwischen eine Fülle vielfarbiger Kaffee-, Cola-, Senf- und Ketchupflecken, garniert mit Spuren von Eigelb und Olivenöl. Er überflog seine Notizen und seufzte. »Im Grunde ist es der immer gleiche Roman. Sie kommen hierher, weil sie zu Hause …«
»Ich kenne den Roman«, unterbrach der Commissaris ihn, »und du kennst ihn auch, also schlagen wir doch sofort das Kapitel auf, das von Mijnheer Wu handelt.«
Vreeling nickte geduldig. »Vor einem Jahr kam Zheng Wu, von Armut und Hunger getrieben, nach Amsterdam, voller Hoffnung auf Arbeit und Wohlstand. Das Geld für die Überfahrt hatte er sich zusammengebettelt, Haus und Hof waren verpfändet …«
»Und bitte nicht in der Sprache von Charles Dickens …«
»Sie sind ein harter Mann, Commissaris. Also gut: In der Volksrepublik China lebte Zheng Wu mit seiner Familie in einem kleinen Dorf im Yangtse-Tal – Eltern, Geschwister und seine Frau Ailing. Das Gebiet ist auch bei uns bekannt geworden, weil die Chinesen da einen Riesenstausee angelegt haben, für den viele Dörfer geräumt werden mussten, ohne dass irgendjemand den Menschen auch nur einen Cent Entschädigung gezahlt hat. Hunderttausende Familien, Millionen Menschen haben damals rund um den Drei-Schluchten-Damm alles verloren, Land, Haus, Vieh, und niemand kümmerte sich darum. Zheng Wu und seine Frau gingen erst nach Fengdu, wo sie bei Verwandten unterkam, während Zheng weiterzog, bis er Arbeit in Nanjing auf den Docks fand, allerdings nur vorübergehend. Doch dort schloss er Freundschaft mit einem Mann namens Ang Li, der sich wenig später auf nach Europa machte, und zwar hierher nach Amsterdam. Mijnheer Li zwitscherte ihm in Briefen und am Telefon ein verführerisches Lied von unserer schönen Stadt und dem Leben hier vor, so lange, bis Mijnheer Wu beschloss, ihm zu folgen. Leider reichte das Geld, das er sich bei Freunden und Verwandten zusammenbettelte, nur für ihn und auch nicht für mehr als eine Passage auf einem Trampfrachter. Natürlich fiel es ihm schwer, seine junge schöne Frau zurückzulassen, aber seine Familie – darunter sein Cousin Jun – versprachen ihm, sich um sie zu kümmern und auf sie achtzugeben, so lange bis er es sich leisten konnte, sie nachzuholen. Doch als er in Rotterdam eintraf, musste er leider feststellen, dass es auch hier mit Arbeit längst nicht so rosig aussah, wie sein Freund es ihm beschrieben hatte. Er fand zwar nach einigen Monaten einen Teilzeitjob in einer Wäscherei, doch was er verdiente, reichte gerade, um nicht zu verhungern. Er war sehr traurig, denn er hatte ja gehofft, Ailing bald nachholen zu können, um hier mit ihr eine Familie zu gründen. Aber das Geld reichte nicht einmal für die Rückreise, und weil er schon überall und bei jedem verschuldet war, wollte ihm auch niemand mehr etwas leihen. Wenn Ang Li ihn nicht bei sich aufgenommen hätte, wäre er auf der Straße gelandet.«
»Und wir sind inzwischen wohl bei Victor Hugo gelandet?«, brummte der Commissaris.
»Ich versuche, es in Ang Lis Worten wiederzugeben«, protestierte Inspecteur Vreeling. »Er ist meine Quelle.«
»Versuch, es in deinen Worten wiederzugeben.«
Vreeling zuckte mit den Schultern. »Viel mehr ist es sowieso nicht. Mijnheer Wu wurstelte sich so durch, von Job zu Job, mal als Koch, mal als Verkäufer, mal als Matratzenstopfer, aber er blieb nirgendwo lange, und was er verdiente, reichte nicht zum Leben und nicht zum Sterben. Ailing fehlte ihm, er redete oft von ihr, aber irgendwann vor nicht allzu langer Zeit hörte er damit auf. Ungefähr zur selben Zeit fing er an, sich zu verändern, wurde streitsüchtig, legte sich mit jedem an, vor allem mit Ang Li, weil der ihn hierher gelockt hatte. Er sagte, er wäre lieber mit Ailing im Wasser hinter dem Drei-Schluchten-Damm ertrunken, als hier getrennt von ihr zu verhungern. Willkommen in Amsterdam, sagte er andauernd, zu jedem, willkommen in Amsterdam, aber es klang wie ›willkommen in der Hölle‹. Als wäre es plötzlich schwarz in seiner Seele geworden«, Vreeling hob beschwichtigend die verletzte Hand, »das sind Mijnheer Lis Worte, nicht meine, ich weiß. Und dabei sah Wu aus, als hätte er eben dem Teufel selbst in die rußschwarze Fratze geschaut – Satan, der mit einem scheußlichen Grinsen die Hand ausstreckte: Willkommen in Amsterdam. Schließlich sprach Wu gar nicht mehr, mit niemandem. Aber er hat viele Briefe geschrieben, an Ailing und später an seinen Cousin. Er hat auch hin und wieder von Mijnheer Lis Handy aus in Fengdu angerufen, wenn Li in großzügiger Stimmung war.«
»Und er hat viele Briefe bekommen«, bemerkte Van Leeuwen mit einem Anflug jener Müdigkeit, gegen die er sich neuerdings nicht zu wehren wusste, wenn er von den schmerzlichen Wegen hörte, auf denen verirrte Liebe verloren ging. »Was hat deine Quelle über sein Leiden gesagt? Warum er im Rollstuhl sitzt? Seit wann?«
»Tja, das passierte in etwa zur selben Zeit, als er aufhörte zu reden.« Vreeling klappte seinen Notizblock zu. »Eben noch die ganze Zeit das Willkommen in Amsterdam, und plötzlich konnte er sich nicht mehr auf den Beinen halten. Sie knickten buchstäblich unter ihm weg, sagte Li. Zheng Wu konnte nicht mehr stehen und nicht mehr gehen. Der Rollstuhl ist eine Leihgabe der chinesischen Gemeinde, sonst hätte Wu die Wohnung überhaupt nicht mehr verlassen. Komisch, nicht? Kein organischer Befund, heißt es, aber Li meint, etwas hätte der Seele die Beine zerquetscht.«
»Eifersucht kann einen Menschen völlig auf den Kopf stellen«, bestätigte Van Leeuwen. »Sie kommt nicht langsam wie Liebe oder Hass, sondern sie bricht plötzlich über einen herein; sie überschwemmt das Gehirn wie die gestauten Wassermassen ein Tal, wenn der Damm gesprengt wird. Wie der Yangtse. Sie spült mit ihrem Toben und Rasen alles weg, was wir uns künstlich aufgebaut haben, das ganze fragile Gerüst von Vernunft oder Intelligenz oder Kultur. Plötzlich gibt es nur noch nackten, geistlosen, dummen, flammenden Wahnsinn, der das Gehirn zerfetzt und die Seele herumschleudert. Man ist buchstäblich nicht mehr Herr seiner Sinne – seiner Sinne und seines Körpers – und tut Dinge, auf die man später nur mit Schaudern zurückschauen kann. So ein starkes Gefühl ist die Eifersucht.«
Er wusste, wovon er sprach.