39

Es regnete noch immer, aber über dem Regen und den Wolken wurde es schon hell, und die ersten Seevögel stiegen wieder in den bleiernen Himmel. Ihre Schreie klangen verloren, und ihr Gefieder war schmutzig und zerzaust. Die meisten hielten sich dicht über dem Strand, gerade hoch genug, dass die gischtige See sie nicht erreichte. Nur ein paar stießen durch den Regen nach oben, wo die Windböen sie packten und zurücktrieben, selbst wenn sie heftig mit den Flügeln schlugen. Es sah aus wie ein Film, der umgekehrt lief: Möwen, die rückwärts nach unten flogen, wo der nasse Strandhafer sich dicht an den grauen Sand presste.

Van Leeuwen und Julika fuhren langsam vom Parkplatz der Klinik die Einfahrt hinunter, und auf der Straße trat Julika das Gaspedal ganz durch. Das Spalier der runden Lampen verschwand hinter den Regenschleiern aus dem Rückspiegel. Die Scheibenwischer schlugen schnell hin und her, schaufelten das Wasser nach beiden Seiten. Silberne Bäche flossen die Frontscheibe hinauf, teilten sich oben am Dach. Die Nässe auf der Straße zischte unter den Reifen. Sie waren allein, kein anderer Wagen fuhr vor oder hinter ihnen, nur manchmal war da ein Paar Scheinwerfer auf der Gegenfahrbahn, die gleißend zersprangen, wenn sie nah waren und vorbeirasten.

»Schnall dich an«, sagte Julika.

»Geht nicht mit der Schlinge und dem Gips«, erwiderte Van Leeuwen.

»Schnall dich an!«

Er gehorchte.

»Es war in der Flüssigkeit«, sagte Julika. »In der Infusionsflasche, oder?« Sie hielt das Lenkrad in beiden Händen und starrte mit weit aufgerissenen Augen in die Nacht über der Straße, die aussah wie ein Fluss. »Denkst du nicht auch, dass es in der Flüssigkeit war?«

»Ja.«

»Was war es?«

»Kaliumchlorid. Oder etwas anderes. Wir müssen die Autopsie abwarten.«

»Aber wer hat es hineingefüllt? Van der Meer?«

»Ja.«

»Während ich das Zimmer verlassen hatte?«

»Wahrscheinlich.«

»Warum?«

»Es war seine letzte Gelegenheit.«

Julika schwieg. Dann sagte sie: »Das verstehe ich nicht. Ich dachte, er darf keine Euthanasie mehr durchführen.«

Van Leeuwen erklärte: »Es war seine letzte Gelegenheit, es so aussehen zu lassen, als wäre Jacobszoon dafür verantwortlich. Wir sollten denken, es wäre viel früher in die Flüssigkeit gemischt worden, als Jacobszoon noch bei Muriel war. Bevor du gekommen bist. So stark verdünnt, dass es erst ganz allmählich gewirkt hat.«

»Aber wieso war es seine letzte Gelegenheit?«

Der Commissaris hielt das Handy in der linken Hand und wählte die Mobilnummer von Klaas van der Meer. Ein Freizeichen ertönte, das sich endlos wiederholte – keine Mailbox –, ohne dass der Arzt sich meldete. Während Van Leeuwen wartete, antwortete er: »Ich habe dafür gesorgt, dass Muriel Brautigam die bereits beschlossene Sterbehilfe verweigert wird oder dass der Täter zumindest denkt, sie müsste weiter leiden. Ich wollte ihn aus der Reserve locken, ihn auf frischer Tat ertappen, bevor er Muriel erlösen kann. Ich dachte, es wäre Jacobszoon und er könnte nicht so schnell handeln.«

Er legte das Handy zwischen seine Oberschenkel, suchte nach seinem Notizblock, blätterte mit Daumen und Zeigefinger, bis er die Telefonnummer des Psychologen fand, tauschte den Notizblock wieder gegen das Handy und versuchte nun, Jacobszoon zu erreichen. Der Anrufbeantworter sprang an, und Van Leeuwen sagte: »Commissaris van Leeuwen hier, ich bin auf dem Weg zu Ihnen. Öffnen Sie niemandem außer mir! Hören Sie?! Niemandem außer mir, vor allem nicht Van der Meer!« Er glaubte, ein Knacken zu hören. »Doktor Jacobszoon?«

Das Knacken wiederholte sich nicht, niemand antwortete ihm. Er unterbrach die Verbindung und legte das Handy in seinen Schoß.

Julika warf ihm einen Seitenblick zu. »Dann hast du im Grunde dafür gesorgt, dass sie jetzt sterben konnte …«

Van Leeuwen schwieg. Seine verletzte Hand schmerzte unter dem Verband, und seine Augen brannten. Durch den Regen konnte er das Meer sehen. Links von der Straße schäumte braune Gischt die Dünen hinauf und ließ einen fauligen Saum aus Seegras und Treibholz zurück. »Geht das nicht schneller?«, fragte er.

»Ich hole doch schon alles raus«, gab Julika zurück.

Van Leeuwen griff wieder nach seinem Handy, wählte die Nummer des Nachtdienstes. Sobald am anderen Ende abgehoben wurde, gab er seine Anweisungen durch: »Van Leeuwen hier. Ich brauche sofort ein Einsatzkommando auf Borneo Eiland, Scheeps-Timmermanstraat. Ich habe bereits einen Beamten vor Ort, Inspecteur Remco Vreeling. Es kann sein, dass wir stürmen müssen, aber niemand unternimmt etwas, bevor ich da bin. Alles klar?«

»Seit wann weißt du, dass Van der Meer der Plastiktütenmörder ist?«, fragte Julika, nachdem er das Gespräch beendet hatte.

»Er ist es nicht«, sagte Van Leeuwen.

»Aber ich dachte …«

»Er ist die eine Hälfte eines Mosaiks, das erst heute Abend angefangen hat, sich zusammenzusetzen«, erklärte Van Leeuwen. »Der Mann, der mich in der Parkgarage überfallen hat, war nicht Jacobszoon, wir sollten das nur denken. Anfangs habe ich es sogar selbst geglaubt. Erst als du mir erzählt hast, Van der Meer hätte heute Nacht gehumpelt, ist mir klar geworden, dass er es war, dass ich ihn bei dem Kampf verletzt hatte, und dann hat Ton mich angerufen und mir erzählt, was seine Recherchen ergeben haben.«

Der Verkehr wurde dichter, als sie sich Amsterdam näherten, und Julika schaltete das Martinshorn ein und fuhr ihr Seitenfenster herunter, um das magnetische Blaulicht aufs Dach zu heften. Sie schaltete jetzt öfter, ihre Füße tanzten ein Ballett auf Kupplung und Gaspedal. »Aber warum hat er versucht, dich zu töten? Das ist doch völlig sinnlos …«

»Nicht aus seiner Sicht.« Van Leeuwen beugte sich vor, um mit dem Ärmelsaum die beschlagene Innenseite der Scheibe frei zu wischen, als könnte er so das Mosaik besser erkennen. »Er ist nicht der Plastiktütenmörder, jedenfalls nicht der, den wir die ganze Zeit gesucht haben. Aber er wollte, dass es auf den Bändern der Überwachungskamera so aussieht, als wäre der Überfall dem Gesuchten zuzuschreiben. Er nahm an, wenn ich tot bin, haltet ihr Jacobszoon für meinen Mörder, weil ich euch genau das immer vorgebetet habe – Jacobszoon, Jacobszoon, Jacobszoon … Er wusste das; er weiß, wie ich denke. Dass Jacobszoon zur selben Zeit bei Muriel war, also ein Alibi hatte, hätte ja niemand mehr erfahren, weil er da schon plante, ihn ebenfalls umzubringen. Als der Überfall fehlgeschlagen ist, wollte er ihm dann wenigstens noch schnell die Euthanasie an Muriel in die Schuhe schieben, bevor er ihn erledigt.«

»Während wir alle gedacht hätten, der Mann, der dich überfallen hat, wäre ein Trittbrettfahrer«, warf Julika ein, »jemand, den du mal gefasst hast, der noch eine Rechnung mit dir offen hatte, von früher.«

Der unruhige Himmel war jetzt nicht mehr schwarz, sondern grau, und die Wolken jagten dahin wie Furien in zerfetzten Lumpen, aus denen sie den Regen schüttelten.

»Und im Moment«, fuhr Julika fort, »im Moment ist Van der Meer demnach unterwegs, um Jacobszoon zu töten, damit es so aussieht, als hätte der keinen anderen Ausweg mehr gesehen? Selbstmord, weil wir ihn eingekreist haben? Weil er doch der einzig wahre und durch und durch kussechte Plastiktütenmörder ist?« Sie schüttelte zweifelnd den Kopf. »Ist das nicht ein bisschen dick aufgetragen, irgendwie um drei Ecken gedacht? Ich meine, wenn man das haarklein auseinanderklamüsert – was für einen Grund sollte er dafür haben?«

»Angst«, sagte Van Leeuwen.

»Angst wovor?« Sie bog in den Haarlemerweg, und unter der Brücke setzte sie, ohne zu blinken, zum Überholen an.

»Dass Jacobszoon im Verhör die Wahrheit sagt«, erklärte Van Leeuwen. »Vergiss nicht, was Doktor Menardi uns erklärt hat: Jacobszoon fühlt nicht die geringste Schuld, er hat keinen Grund zu lügen, außer dem, dass er seine Aufgabe weiter erfüllen will – nur die Schuldigen wissen, was sie tun. Pass auf!«

Ein roter Peugeot 504 auf der Gegenfahrbahn scherte aus der Spur, viel zu schnell, und das weiße Licht der Scheinwerfer barst auf der Windschutzscheibe. Julika riss das Steuer herum und trat die Bremse durch. Der Golf reagierte nicht, er rutschte über den nassen Asphalt, rutschte und drehte sich dabei, und Van Leeuwen dachte: Ein roter Peugeot 504, dass es die überhaupt noch gibt! Sein Handy fiel vom Sitz, der Notizblock flatterte auf die Fußmatte. Ein Hupton erklang, ein zweiter, länger. Van Leeuwen riss die Arme hoch in das blendende Licht, um den Stoß abzufangen, doch der Golf glitt seitwärts, drehte sich noch einmal, und noch immer kam der Stoß nicht. Er kam, als Van Leeuwen nicht mehr damit rechnete, das dumpfe Krachen, das Knirschen und Julikas Schrei. Dann die Stille wie ein zweiter Schlag, ohrenbetäubend. Dann ein Zischen, das Tröpfeln von Wasser oder Benzin. Regen, lauter als alles andere. Dann Julikas benommene Stimme: »Mist, verdammter! Bruno? Ist dir was passiert?«

»Nein.« Van Leeuwen tastete nach dem Sicherheitsgurt und löste die Schnalle. »Und dir?«

»Auch nicht, alles okay.«

Durch die schlierige Scheibe konnte er den Peugeot sehen, der Fahrer saß noch hinter dem Lenkrad, aber er bewegte sich und schaute zu ihnen herüber, während jetzt überall um sie herum die Warnblinkanlagen zu flackern begannen. Van Leeuwen versuchte, die Tür zu öffnen, er drückte mit seinem ganzen Körpergewicht dagegen. Metall knirschte und gab nach. Der Regen drang ins Wageninnere.

Der Commissaris stieg aus. Seine Beine funktionierten, und die unverletzte linke Hand war auch jetzt noch unverletzt. Er benutzte sie, um seinen Ausweis aus der Tasche zu holen und hochzuhalten, während er im Schein Dutzender Warnblinkanlagen durch den Regen stapfte, bis er einen frei stehenden Wagen fand. Er klopfte gegen die Seitenscheibe, hielt dem Fahrer den Ausweis vors Gesicht und sagte: »Ich brauche Ihren Wagen. Fahren Sie mich nach Borneo Eiland.«