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Es war die Phase der Ermittlungen, in der sich nach und nach eine Spur ergab: Man ging einen sandigen Weg entlang, auf dem man fortwährend wegrutschen konnte, und auf einmal entdeckte man die undeutlichen Fußabdrücke von jemandem, der vor einem auf diesem Weg gegangen war. Manchmal waren sie kaum erkennbar, und nicht selten verloren sie sich auf dem weichen Untergrund wieder. Aber manchmal wurden sie auch mit jedem Schritt fester und tiefer, und mit etwas Glück ergaben sie eine Richtung, der man folgen konnte.

Der Commissaris stand in der Mitte seines Büros und betrachtete die riesige magnetische Landkarte des Königreichs, die neuerdings das Plakat von Ajax an der Wand gegenüber seinem Schreibtisch verdeckte. Ein halbes Dutzend kleiner roter Metallknöpfe leuchtete rings um Amsterdam, ein weiterer dicht bei Haarlem, und der achte hatte sich in der Nähe von Utrecht niedergelassen. Sie ergaben noch kein Muster und erst recht kein Bild; sie bezeichneten die Fundorte von Leichen, die zu verschiedenen Zeitpunkten in den vergangenen Jahren als unverdächtige Todesfälle zu den Akten gelegt worden waren und aufgrund erneuter Untersuchungen durch die jeweiligen Pathologen nun zu ungeklärten Mordfällen geworden waren: möglicherweise Tod durch Ersticken mittels einer Plastiktüte oder eines Zellophanbeutels.

»Es werden immer mehr«, sagte Hoofdinspecteur Ton Gallo leise hinter dem Commissaris. »In Amsterdam. Utrecht. Den Haag. Zandvoort. Überall.«

»Machen wir eigentlich irgendwelche Fortschritte?«, fragte der Commissaris.

»Keinen einzigen«, antwortete Gallo nüchtern. »Wir haben noch nie weniger Fortschritte bei einer Ermittlung gemacht. Abgesehen davon, dass ständig neue E-Mails, Faxe und Anrufe bei uns eingehen. Das da auf der Karte sind nur die ersten Opfer, die, bei denen wir fast hundertprozentig sicher sind, dass sie ebenfalls dem Mörder von Gerrit Zuiker und Heleen Soetemann zugeschrieben werden können.«

Einige der Faxe und ausgedruckten E-Mails hingen an der Euro-Pinnwand neben der Landkarte, dort, wo inzwischen auch weitere Fotos in Farbe und Schwarz-Weiß mit Reißzwecken auf dem Tafelkarton befestigt worden waren. Die Fotos zeigten zwei junge weiße Frauen, eine ältere Farbige und drei Männer unterschiedlichen Alters, als alle noch gelebt hatten, Schnappschüsse von Verwandten oder Freunden, ein Passfoto. Eine weitere Aufnahme zeigte einen alten Mann, der mit offen stehendem Mund und geschlossenen Augen unter der Quarzlampe eines Pathologen lag. Es gab eine Liste mit den Adressen und Telefonnummern der Gerichtsmediziner, die auf Doktor Holthuysens Rundschreiben geantwortet und die zu roten Metallknöpfchen gewordenen Fälle gemeldet hatten. Eine weitere Liste führte die Distrikte und Reviere der Polizeibeamten auf, die in diesen Fällen neue Ermittlungen eingeleitet hatten. Und schließlich gab es eine Liste mit den Namen von Personen, deren Leichen nicht mehr untersucht werden konnten – Männer und Frauen, die infolge mangelnder Verdachtsmomente mit dem Etikett Herzversagen oder Todesursache unbekannt am Zeh zur Beerdigung freigegeben worden waren und bei denen eine Exhumierung nur noch Staub und Asche zutage fördern würde, biblisch gesprochen.

Der Commissaris betrachtete die Fotos, die Faxe und die Listen und sagte: »All diese toten Menschen, all diese Fotos und Hinweise, und wir tappen immer noch im Dunkeln. Wir haben keine Spur, kein Motiv, nichts! Das ist beschämend, eine Schande!«

Es war neun Uhr morgens, vor dem Fenster leuchtete ein strahlender Spätherbsttag, und ein Abglanz davon lag auf den ausgeruhten Gesichtern seiner Beamten, die ihn erwartungsvoll ansahen.

»Was ist denn mit dem chinesischen Gefangenen und seinem Motiv?«, erkundigte sich Brigadier Tambur. »Unterwirft er sich immer noch dem Schweigegelübde?«

Der Commissaris schüttelte den Kopf und nahm das Foto von Jun Wu von der Wand. »Der Damm ist gebrochen«, antwortete er.

»Willst du uns aus unserer Unwissenheit zum Licht führen und kundtun, wie du das zuwege gebracht hast?«, fragte Hoofdinspecteur Gallo.

»Ich habe ein Loch hineingebohrt«, erklärte der Commissaris, »und dann zugesehen, wie das Wasser es erweitert hat.«

»Und wenn man den Pfad der Metaphern verlässt, bedeutet das was?«, hakte Gallo nach.

»Das dürft ihr in meinem Bericht für Procureur Piryns lesen, sobald ich ihn fertig habe«, meinte der Commissaris. »Bei der Gelegenheit könnt ihr auch gleich lernen, wie man einen korrekten Bericht ans Openbaar Ministerie verfasst.« Er setzte sich hinter seinen Schreibtisch, auf den umsichtige Hände bereits eine Tasse Kaffee und ein Hörnchen samt Marmelade und Honig zum Hineintunken gestellt hatten. »Was ist mit den Gummistiefeln Größe dreiundvierzig, die wir bei dem Total-Tankwart gefunden haben?«

»Gehören seinem Kollegen, Dick Houwer, genau wie er gesagt hat«, antwortete Inspecteur Vreeling und kratzte sich hingebungsvoll die unter dem schmuddeligen Verband heilende Karatehand, kratz, kratz, kratz. »Houwer wohnt in Haarlem und hat ein wasserdichtes Alibi. Die Lehmspuren, die wir unter den Sohlen sicherstellen konnten, stammen nicht aus dem Tulpenfeld. Das Stiefelprofil ist auch ein völlig anderes. Davon abgesehen hätte Houwer nicht das geringste Motiv, Heleen Soeteman zu töten. Und ein Motorrad wie das von Pim Verhoeven ist auch in der Nähe der Tatorte niemandem aufgefallen, weder hier noch bei der Tulpenplantage.«

»Wie war denn Ihr Wiedersehen mit Doktor Death?«, fragte Brigadier Tambur.

»Doktor van der Meer«, verbesserte der Commissaris sie mit mildem Tadel. Er trank einen Schluck von dem immer noch heißen Kaffee. »Doktor van der Meer«, fuhr er fort, »hat offenbar beschlossen, sich zur Karikatur seines eigenen Mythos zu stilisieren: Er malt scheußliche Bilder von Tod und Verwesung, die sogar Goya bestürzt hätten, und stellt sie in seinem Klinikbüro aus. Er zitiert William Blake, und es fehlt eigentlich nur noch, dass er wie Vadder Hein mit der Sense in der Hand durch die Abteilungen marschiert und die Korridore mit Mahlers Kindertotenliedern beschallen lässt. Das Ganze ist natürlich infantiler Trotz, eine Selbstinszenierung, aber so oder so: Unser Mörder ist er nicht, da bin ich mir ziemlich sicher.«

»Dann können wir seine Klinik ja von der Liste der Telefongespräche von Mevrouw Soeteman streichen«, sagte Gallo und schwenkte einen Ausdruck der Royal KPN, den er aus der Innentasche seiner Lederjacke gezogen hatte. »Nach der Rufnummer von Pim Verhoeven taucht die Van der Meers nämlich am häufigsten auf, neben dem Anschluss der Krebs-Selbsthilfegruppe in Den Haag. Die letzte Verbindung, die von Heleens Apparat aus hergestellt wurde, war die zu dem Tankwart. Seine Nummer wurde immer wieder angewählt, so oft wie keine andere, also waren die beiden wohl wirklich gut befreundet. Aber was ungewöhnlich ist: Nach diesen drei Nummern – und der Telefonseelsorge von Haarlem – kommt gleich die Redaktion einer Zeitung …«

»Was für eine Zeitung?«, unterbrach der Commissaris.

»De Avond! Außerdem der Fernsehsender Veronica …«

»Was wollte sie denn vom Fernsehen?«, entfuhr es Inspecteur Vreeling.

Der Commissaris fragte: »Wie oft hat sie bei De Avond! angerufen?«

»Sieben Mal.«

»Wie lange haben die Gespräche gedauert?«

»Unterschiedlich lange, die meisten so zwischen drei und sieben Minuten. Warum?«

»Wann fanden sie statt?«

»Im Sommer. Drei im Juni, zwei im Juli und zwei im August.«

»Um welche Uhrzeit?«

»Die ersten jeweils am späten Vormittag – ich nehme an, in der Mittagspause –, die anderen dann abends, wahrscheinlich nach der Arbeit.«

»Und bei Veronica

»Nur zwei Anrufe, beide nach Mitternacht.«

»Nach Mitternacht?« Der Commissaris leerte den Kaffeebecher. »Ich möchte, dass ihr feststellt, mit wem Heleen Soeteman in den beiden Redaktionen gesprochen hat oder sprechen wollte, falls man sie abgewimmelt hat. Und – wenn sie nicht verbunden worden ist – ob jemand weiß, was sie wollte.«

»Schon erledigt«, meinte Brigadier Tambur. »Es gibt da eine Kolumne – bei De Avond! –, so eine Art Kummerkasten, wo man hinschreiben kann, wenn man Hilfe braucht oder nicht mehr weiterweiß, weil man ein Problem hat, mit dem man allein nicht fertig wird. Lebenshilfe, Psychoberatung, alles Mögliche.«

»samariter.nl.«, erinnerte sich der Commissaris.

Julika nickte. »Der Brief oder die E-Mail wird dann von der Redaktion an einen Psychologen weitergeleitet, eben diesen ›guten Samariter‹, und wenn man Glück hat, antwortet der einem in seiner Kolumne.«

»Ich würde das nicht Glück nennen«, warf Gallo ein.

»Na, jedenfalls hat die Soeteman dort mehrmals angerufen und wollte den Samariter sprechen«, redete Julika weiter, ohne auf Ton Gallo einzugehen, »aber es ist strikte Redaktionspolitik, niemandem den Namen oder die Telefonnummer des Mannes zu geben, der diese Kolumne schreibt. Sie haben ihr nur versprochen, ihren Brief an ihn weiterzuleiten. Ob sie dann tatsächlich geschrieben hat, wussten sie nicht. Sie muss allerdings sehr hartnäckig gewesen sein, hartnäckig und verzweifelt …«

»Hast du nachgefragt, wie der Psychologe heißt?«

»Ja, aber mir wollten sie es genauso wenig sagen.«

»Bei Veronica haben sie dieselbe Platte aufgelegt?«

»Mehr oder weniger«, bestätigte Julika. »Wobei der Witz ist, dass die auch eine Sendung mit dem Titel samariter.nl haben – wird jeden Donnerstag kurz nach Mitternacht ausgestrahlt, und da kann man den Samariter live anrufen und ihm seine Probleme schildern, und er hört zu und erklärt dir, was du tun musst oder was jemand anders tun kann, damit deine Probleme verschwinden und es dir wieder besser geht.«

»Klingt nach einem hübschen Franchise-Konzept«, meinte Gallo. »Big Mac für die Seele. San Francisco Psycho Company. Trost to go

Diesmal schaffte Julika es nicht, ihn zu ignorieren. »Du hast doch keine Ahnung, wovon du redest. Schau dir die Sendung erst mal an, bevor du hier irgendwelche Sülze von dir gibst. Die wollen den Menschen, die sich an sie wenden, wirklich helfen!«

»Für wie lange?«, fragte Gallo.

»Was soll das heißen – für wie lange?«

Gallo sagte: »Jedem, der da vor laufender Kamera seine Sorgen und Nöte hervorstammelt, wird nicht eine Sekunde mehr Aufmerksamkeit geschenkt, als die Sendezeit verlangt. Diese Menschen schütten deinem Samariter ihr Herz aus und kriegen dafür genau den billigen Rat, der dem sensationslüsternen Publikum behagt, um gleich danach auf Nimmerwiedersehen ausgeblendet zu werden. Sie hatten ihren großen Augenblick, ihre fünfzehn Minuten Ruhm, und der Einzige, dem dabei wirklich geholfen wird, ist der Kummerkasten-Onkel, der wird nämlich reich und berühmt.«

Der Commissaris fragte: »Kann sich da wenigstens jemand an Mevrouw Soeteman erinnern? Ist sie in einer der Sendungen zu Wort gekommen?«

»Nein, doch einmal ist sie persönlich im Sender erschienen, um den Samariter zu sprechen, und sie mussten ihr mit der Polizei drohen, bevor sie wieder gegangen ist.«

»Aber wenn der Samariter im Fernsehen auftritt, muss er doch einen Namen haben«, wandte Vreeling ein.

»Hat er ja auch«, antwortete Julika.

»Samariter«, meinte Gallo.

»Ich möchte Mitschnitte der letzten Sendungen haben«, erklärte der Commissaris. »Ich habe das noch nie gesehen. Da du schon mal dabei bist, kümmerst du dich darum, Julika. Außerdem möchte ich wissen, ob auch Gerrit Zuiker eine der Nummern angerufen hat, vielleicht sogar mehrmals. Remko, du übernimmst die Telefonseelsorge und die Krebs-Selbsthilfe. Mit wem hat Heleen Soeteman gesprochen, was für einen Eindruck hat sie gemacht, kommt einer ihrer Gesprächspartner als Täter infrage …«

»Von der Telefonseelsorge?«, fragte Vreeling, kratz, kratz, kratz.

»Ich bin noch nicht fertig«, nahm Gallo den Faden wieder auf. »Die Nummer, die vor der von Pim Verhoeven, dem Total-Tankwart, als letzte angewählt wurde, gehört zu einem Mobiltelefon, doch sie tauchte nur ein Mal auf, und das Gespräch dauerte gerade mal anderthalb Minuten.«

»Wer war der Teilnehmer?«, fragte der Commissaris.

»Es handelt sich um eine Geheimnummer«, erklärte Ton Gallo. »Der Vertragspartner des Teilnehmers, die Firma Arcor, wollte uns seinen Namen nicht nennen.«

»Hast du denen gesagt, dass wir hier eine Morduntersuchung durchführen, verdammt noch mal?«

»Ja, aber sie wollten trotzdem nicht kooperieren.«

»Und wenn wir einfach sagen, es wäre das Handy eines Al-Kaida-Terroristen?«, schlug Inspecteur Vreeling unschuldig vor. »Wir behaupten, wir brauchen den Namen, weil wir nur so einen geplanten Bombenanschlag auf den Königspalast …«

»Wir sind hier nicht in Amerika!«, fuhr Van Leeuwen ihn an, bevor er sich wieder Gallo zuwandte. »Hast du die Nummer mal angerufen?«

»Da meldet sich nur eine Mailbox mit der Ansage: Der Teilnehmer ist vorübergehend nicht erreichbar. Sprechen Sie nach dem Signalton, und hinterlassen Sie Namen und Rufnummer …«

»Ja, ja, was hast du draufgesprochen?«

Gallo runzelte die Stirn. »Nichts, ich hatte noch nicht die richtige Eingebung …«

Der Commissaris seufzte und griff nach dem Telefonhörer. Er wählte die vorletzte Nummer auf dem Royal-KPN-Ausdruck, wartete die Ansage der Mailbox ab und sagte dann: »Hier spricht Commissaris Bruno van Leeuwen vom Hoofdbureau van Politie in Amsterdam. Bitte, rufen Sie mich oder einen meiner Mitarbeiter im Präsidium an. Wir benötigen von Ihnen einige Angaben zu einer laufenden Ermittlung. Die Nummer ist fünf-fünf-neun-zweizwei-acht-fünf hier in Amsterdam.«

Er legte auf, griff nach dem Croissant und biss hinein. Es war süß und trocken und zerging auf der Zunge. Er sah zum Fenster, auf die Giebel der Häuser jenseits der Marnixstraat, über denen unsichtbare Windstöße golden und braun flirrendes Herbstlaub in den tiefblauen Himmel fegten. Aus dem Blau sank ein Fischreiher herab, die Flügel ausgebreitet, bereit, mit schnellem Schlag die Landung zu dämpfen. Das Telefon summte, und obwohl der Moment kaum mehr als ein paar Sekunden gedauert haben konnte, stellte der Commissaris fest, dass Gallo, Julika und Inspecteur Vreeling sein Büro verlassen hatten und er allein war. Er meldete sich.

»Hallo, Mijnheer van Leeuwen – Feline Menardi hier«, hörte er die klare, nur einen Hauch zu forsche Stimme der Psychologin am anderen Ende der Leitung. »Ich habe Sie für heute, siebzehn Uhr, vorgemerkt und möchte Sie bitten, pünktlich zu sein. Wissen Sie, wo meine Praxis ist?«

»Ich weiß, wo Ihre Praxis ist, aber heute ist völlig unmöglich«, antwortete der Commissaris. »Ich stecke mitten in einer Morduntersuchung.«

Die Psychologin sagte: »Wahrscheinlich stecken Sie immer mitten in einer Morduntersuchung, wenn ich Sie sehen will, und falls es sich nicht um einen Mordfall handelt, dann sind es sicher andere dringende Amtsgeschäfte. Aber inzwischen sollten Sie eigentlich wissen, dass es sich nicht um einen Besuch auf freiwilliger Basis handelt, sondern um einen Befehl von Hoofdcommissaris Joodenbreest, von dessen Befolgung es abhängt, ob Sie in absehbarer Zeit überhaupt noch Mordermittlungen oder anderweitigen Amtsgeschäften nachgehen dürfen. Es liegt also in Ihrem Interesse, dass Sie heute oder an einem der nächsten Tage …«

»Nicht jeder Mann, dessen Frau gestorben ist, muss deswegen gleich psychologisch betreut werden«, knurrte Van Leeuwen.

»Nicht jeder Mann, der seine Frau verloren hat, ist ein ranghoher Polizeioffizier, der nachts im Bahnhof schläft und Jugendliche in Straßenbahnen ohrfeigt«, hielt Doktor Menardi gelassen dagegen.

Ganz kurz verschlug es dem Commissaris die Sprache: Er hatte den Vorfall längst vergessen. In den kleinen leeren Raum jäher Verwirrtheit drang wieder die Stimme der Psychologin.

»Der Junge hat über seinen Anwalt Dienstaufsichtsbeschwerde gegen Sie eingereicht, das wussten Sie doch? Oder hat Sie davon noch niemand in Kenntnis gesetzt?«

»Bis jetzt nicht«, gestand der Commissaris. Er spürte einen Anflug von Scham, der sich schnell zu loderndem Zorn auswuchs, ohne dass er sofort wusste, gegen wen sich dieser Zorn richtete, außer gegen den Hoofdcommissaris, der über die Beschwerde natürlich Bescheid wissen musste und sie ihm bisher vorenthalten hatte, Doktor Menardi dagegen nicht.

»Da braut sich ein Sturm über Ihrem Kopf zusammen, Mijnheer van Leeuwen«, meinte die Psychologin. »Und ein Besuch bei mir könnte durchaus dazu angetan sein, die Götter zu besänftigen, wenn es zur internen Untersuchung kommt. Ich stehe auf Ihrer Seite, Commissaris, falls Sie das noch nicht bemerkt haben sollten.«

Helle Morsezeichen in der Leitung meldeten einen weiteren Anruf, und der Commissaris sagte rasch: »Ich rufe Sie zurück, Doktor«, dann drückte er die Taste, neben der das zweite Lämpchen pulsierte. »Van Leeuwen!«

»Spreche ich mit Commissaris Bruno van Leeuwen?« Die Stimme eines Mannes, sie klang jedoch leise, spröde, zögernd.

»Am Apparat.«

»Mein Name ist Jacobszoon. Kornelis Jacobszoon. Sie haben eine Nachricht auf meiner Mailbox hinterlassen.« Der Mann sprach ohne Akzent, sehr artikuliert und jetzt mit einem leicht fragenden Unterton.

»Ja, richtig.« Der Commissaris suchte Block und Kugelschreiber, und als er den Stapel mit den Berichten der Wijkteams beiseiteschob, entdeckte er darunter eine handschriftliche Notiz des Hoofdcommissaris:

Bruno, melde dich bei mir, sobald du im Büro bist.

Es gibt Ärger, Jaap.

»Es geht um eine unserer Ermittlungen, bei der Sie uns vielleicht helfen können, Mijnheer Jacobszoon«, fuhr Van Leeuwen fort. »Kannten Sie eine Heleen Soeteman?«

»Ja«, der Mann zögerte wieder kurz, und der fragende Unterton wurde stärker, »obwohl Kennen ein wenig zu viel gesagt wäre. Ich habe sie ein Mal getroffen und mich kurz mit ihr unterhalten.«

»In welchem Zusammenhang?«

Diesmal dauerte das Zögern länger. »Ich weiß nicht, ob ich mit Ihnen so einfach am Telefon darüber reden kann. Die Unterhaltung mit Heleen Soeteman fällt meiner Einschätzung nach unter die ärztliche Schweigepflicht. Sie müssten sich schon persönlich mit mir treffen, am besten mit einem amtlichen …«

»Sie sind also Arzt, Mijnheer Jacobszoon?«

»Nein, ich bin Psychologe.«

Der Commissaris spürte, wie das Kribbeln zurückkehrte, und wieder glaubte er eine Sekunde lang, der Lösung des Falls ganz nah zu sein. Er wagte einen verwegenen Vorstoß. »Schreiben Sie zufällig eine Kolumne für De Avond!?«

»Das auch, ja.« Der fragende Unterton wich; Überraschung trat an die Stelle von Zögern.

»Und außerdem treten Sie im Fernsehen auf, bei samariter.nl, jeden Donnerstag, kurz nach Mitternacht?«

»Ja.«

Der Commissaris vergaß Doktor Menardi und die Anzeige des Jungen aus der Straßenbahn. »Sie sind der Samariter

»Die Sendung heißt so, aber natürlich gibt es ein ganzes Team von Mitarbeitern und …«

»Das ist ja großartig!«, fiel der Commissaris ihm ins Wort, denn plötzlich sah er die ersten Fußabdrücke auf dem sandigen Weg, noch verschwommen, halb zugeschüttet, aber eindeutig Spuren, denen er folgen konnte. »Sie sind genau der Mann, den ich brauche. Wann können wir uns treffen?«