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Die Hände des bärtigen Mannes waren an den Gelenken zusammengebunden. Wie zum Gebet gefaltet, lagen sie auf den Oberschenkeln der ausgestreckten Beine, und der einzige Unterschied zu der Haltung, in der Zheng Wu auf seiner Pritsche gesessen hatte, war der Umstand, dass der bärtige Mann nicht mehr lebte. Er trug eine helle Kutte, die ihm bis zu den Knöcheln der nackten Füße reichte. Die Zehen, wahrscheinlich erst kürzlich im Todeskampf verkrampft, hatten sich wieder entspannt, und auch die derben Gesichtszüge hätten einem Schlafenden gehören können.
Alles, was dagegensprach, dass der bärtige Mann im Licht der Fackel vor seinem Stuhl nur kurz eingenickt war, ließ sich auf ein einziges Indiz zurückführen: Um seinen Hals hatte jemand ein Würgeeisen zugezogen, und es handelte sich auch nicht um einen schlichten Holzstuhl, sondern um eine Garotte, an deren Lehne der Hingerichtete hing.
Die Zeichnung hieß Der Garottierte. Goya hatte sie zwischen 1778 und 1780 aufs Papier geworfen, und der Tote wirkte wie vom Blitzlicht eines Polizeifotografen im kahlen Gemäuer seiner Zelle eingefroren. Erst dreißig Jahre später war der spanische Maler mit den Radierungen unter dem Titel Desastres wieder auf diese unter seinen Landsleuten in jenen Tagen außerordentlich beliebte Form des Mordens zurückgekehrt. Mit scharfen, zornigen, präzisen Strichen hatte er neunundsechzig Momentaufnahmen vom Wahnsinn des Krieges angefertigt – von Vergewaltigungen und Erschießungen, von Erhängten, Zerstückelten und Erstochenen. Von Leichenbergen, Verbrennungen und Massengräbern. Von einem endlosen Blutrausch, der gleichermaßen in Spaniern und Franzosen raste, in Soldaten und Priestern, Männern und Frauen.
Der Commissaris interessierte sich an diesem Abend besonders für die Bilder, die garottierte und erhängte Opfer zeigten, für ihre Mienen, ihre Haltung. Er wollte herausfinden, was ihr Anblick über das Sterben durch Ersticken sagte. Natürlich war es ein Unterschied, ob man starb, weil einem jemand eine Plastiktüte über den Kopf stülpte oder weil ein Draht oder ein Halseisen einem die Luftröhre zusammenpressten. Im Spanien Goyas diente das Metallband, an dem der Tote auf der Zeichnung hing, allerdings nur zum Festhalten des Opfers, dem anschließend von hinten eine Metallschraube ins Genick getrieben wurde.
Immer wieder hatte der Maler in seinen Desastres diese Hinrichtungsart vorgeführt, und jedes Mal tauchte in der Unterschrift zu den Radierungen die Frage Warum? auf. Und das war die Antwort: Weil man sie für Feinde oder Verräter hielt. Weil sie aus einer anderen Gegend stammten oder einem fremden Land. Weil sie eine andere Religion hatten. Weil sie Angreifer oder Verteidiger, Priester oder Frauen waren. Weil sie an etwas glaubten oder an das Falsche oder an gar nichts. Weil sie in einer Kneipe geraucht hatten. Weil sie ihren Müll nicht getrennt hatten. Weil sie Karikaturen des Propheten veröffentlicht hatten.
Aber kein Mann war getötet worden, weil er die Frau eines anderen in Versuchung geführt hatte; keine Frau, weil sie ihren Mann mit einem anderen betrogen hatte. Jedenfalls nicht auf diesen Skizzen, dachte Van Leeuwen. Er betrachtete die Zeichnung Nummer 35, auf der acht garottierte Mönche zu sehen waren, mit der Unterschrift: Niemand kann wissen, warum? Und er dachte: Muss in der Antwort auf das Warum immer auch der Grund liegen? Oder wurde mit dem Grund auch die Bedeutung mitgeliefert? Er kam zur letzten Radierung, Nummer 69, aus den Desastres, deren Unterschrift einfach lautete: Nichts. Das bedeutet es.
So viel zur Bedeutung, dachte er. Nada. Dann dachte er: Das ist der Unterschied zwischen uns beiden, Francisco, alter Freund – ich kann mich mit nada nicht zufriedengeben. Ich muss eine andere Antwort finden, einen Namen, ein Motiv.
Im Fall Zheng Wu gibt es ein Geständnis, und jetzt kenne ich auch den Tathergang und das Motiv. Wir haben bloß noch ein paar offene Fragen, zum Beispiel: Warum hat Zheng Wu seinen Cousin nicht erstochen oder erschlagen, vielleicht sogar erschossen, sondern mit einer Drahtschlinge erdrosselt? Aber diesen Punkt und alle anderen, die noch nicht befriedigend geklärt sind, können im Verlauf der Verhandlung zur Sprache gebracht werden. Wichtig ist vor allem, dass ich mich jetzt ganz auf die Ermittlung in den Fällen Gerrit Zuiker und Heleen Soeteman konzentrieren kann. Um Zheng Wu brauche ich mich nun nicht mehr zu kümmern; er hat gebeichtet.
Es war wie immer, wenn man sich irrte: Man wusste nicht, dass man sich irrte. Erst wenn man später zurückschaute auf die verschiedenen verpassten Gelegenheiten, bei denen man etwas hätte ahnen müssen, es aber nicht getan hat, wusste man es. Wenn man klüger war, weil im Angesicht der Geschehnisse der Weg so eindeutig, so unmissverständlich zu der Katastrophe hatte führen müssen, dann wusste man es. Und so blieb Van Leeuwen später als schwacher Trost auch nur der Gedanke, dass es sich vielleicht um einen Ausgleich handelte – er hatte ein Verbrechen entdeckt, wo keins zu vermuten gewesen war, und dadurch wahrscheinlich viele andere verhindert. Dafür stand er im Begriff, durch seine Ermittlungen Gefahr für Menschen heraufzubeschwören, die ohne sein Zutun vielleicht nie in die Nähe des Todes geraten wären.
Aber das war später, als auch Nichts, das bedeutet es! keinen Trost mehr darstellte.
Unter dem aufgeschlagenen Bildband mit den Desastres lugte der Ausdruck von Cho Seung Huis Hilfeschrei im Internet hervor, und auf einmal fiel Van Leeuwen auf, wie nahtlos sich der von Pathos und Selbstmitleid erfüllte Text in seine Überlegungen fügte und wie oft vor allem dieses Selbstmitleid das eigentliche Motiv für einen Mord darstellte.
Wisst ihr, wie man sich fühlt, wenn einem ins Gesicht gespuckt wird, wenn einem immer nur Müll in die Kehle gestopft wird? Wisst ihr, was für ein Gefühl das ist, sein eigenes Grab zu schaufeln? Wisst ihr, wie man sich fühlt, wenn einem die Kehle von Ohr zu Ohr aufgeschlitzt wird? Wisst ihr, wie es sich anfühlt, lebendig verbrannt zu werden? Wisst ihr, wie es sich anfühlt, gedemütigt und am Kreuz aufgespießt zu werden, um zu eurer Unterhaltung zu verbluten?
Was für einen Titel würdest du diesem sogenannten Manifest geben, Don Francisco de Goya?
Van Leeuwen klappte das Buch zu und blickte über den grünen Schirm der Leselampe auf den Nachthimmel. Er hatte das Fenster, an dem sein Schreibtisch stand, geöffnet, und von draußen drang die frische Luft des späten Abends herein. Der Tag war für die Jahreszeit zu warm gewesen, und auch jetzt konnte man meinen, es sei eine laue Sommernacht, nicht Herbst. Van Leeuwen glaubte, einen Geruch nach Laub und spät blühenden Blumen zu spüren. Es war ein milder, würziger Duft, der ihn an Ahornsirup denken ließ, und auf einmal drehte sich sein Herz ein winziges Stück.
Warum hatte er Zheng Wu, einem Mörder, von Simone erzählen müssen? Von seiner Ehe und davon, wie ihr Ende gewesen war? Von dem Mann, dessen Namen er kannte, auch wenn er nicht wusste, wo er ihn suchen sollte? Weil Jun Wu tot war und Sandro noch lebte? Weil auch das keine Bedeutung hatte?
Aber es bedeutete ja etwas – es bedeutete etwas, dass ihm nicht einmal der Gedanke gekommen war, an diesem Verführer namens Sandro Rache zu nehmen. Der Gedanke an Rache macht dich zu einem Besessenen, dachte er; er dreht sich in dir wie die Flügel einer schwarzen Windmühle, unablässig bei Tag und bei Nacht. Das ist nichts für dich.
Er zog die Schreibtischschublade auf, holte sein Briefpapier heraus und schob ein Blatt ins Licht der Schreiblampe. Er suchte den Füllfederhalter in der Schale mit Bleistiften, Kugelschreibern und farbigen Filzpens und schraubte ihn auf. Er drückte die goldene Feder mehrmals gegen die Schreibunterlage, bis die Tinte feucht in ihrer gespaltenen Zunge schimmerte. Er starrte auf das Papier, und so wie ein Foto im Entwickler Konturen annimmt, tauchte auf dem weißen Blatt kurz Sandros Gesicht auf. Es war das Gesicht von dem Polaroid, das Van Leeuwen bei den Briefen in Simones Koffer gefunden hatte. Wahrscheinlich weiß er gar nicht, dass sie tot ist, dachte er. Er setzte die Feder an und schrieb:
Mijnheer,
ich weiß nicht, wer Sie sind oder wie Sie wirklich heißen oder wo Sie wohnen. Ich bin Polizist, und ich könnte versuchen, Sie zu finden, und vielleicht würde es mir sogar gelingen. Aber ich habe beschlossen, es nicht zu tun. Ich werde niemals versuchen, Sie zu finden, Sie können unbesorgt sein. Durch eine Frau, die wir beide geliebt haben, sind unsere Leben auf immer miteinander verknüpft. Es war meine Frau, nicht Ihre, daran besteht kein Zweifel, aber durch ihren Tod sind wir beide auf unsere kleinen Inseln der Einsamkeit verbannt worden, nur dass ich auf meiner für den Rest meines Lebens bleiben muss, während Sie vielleicht längst von einer anderen Frau erlöst worden sind. Das ist das Ungerechte daran, und deswegen will ich nicht einmal mehr an Sie denken, nie mehr.
Er faltete das beschriebene Blatt, nahm ein Kuvert aus der Schublade und schob es hinein. Danach klebte er das Kuvert zu, stand auf und legte es auf das Fensterbrett, wo jeder Brief, den er noch einmal überdenken wollte, seinen vorübergehenden Platz fand. Einen Moment lang blieb er am Fenster stehen, dann schloss er die Flügel. Er freute sich auf sein Bett. Als er ins Schlafzimmer ging, merkte er, wie müde er war, aber es dauerte noch einige Sekunden, bis er begriff, dass er sich tatsächlich auf den Schlaf in seinem eigenen Bett freute. Zur Feier dieser Erkenntnis zog er sich sogar aus und schlüpfte in einen Schlafanzug.
Die Züge werden mir fehlen, dachte er.
Kurz vor dem Einschlafen stockte ihm plötzlich der Atem, und er musste nach Luft schnappen. Einen winzigen, schwindelerregenden Augenblick lang befand er sich wieder im Zimmer der todkranken Miriam Brautigam und sah zur Tür hinüber: der Tür zum Klinikflur, die er geschlossen hatte und die dann doch einen Spaltbreit offen gestanden hatte. Und stärker als an jenem Abend seiner Anwesenheit in der Klinik spürte er jetzt, dass dort auf dem Gang jemand gewesen war, der ihn beobachtet hatte, und dass es sich um niemand anderen als den Mörder gehandelt hatte.
Das ist der Schlüssel, dachte er, der Schlüssel zur Lösung des Falls. Aber im selben Moment entglitt ihm das Bild schon wieder. Er wusste nur noch, er hatte etwas gesehen, und es war nicht zufällig aus dem ewig kreisenden, dunklen Gedankenstrom des Unterbewusstseins aufgetaucht. Du irrst dich, Don Francisco, alter Freund, dachte er im Halbschlaf: Alles bedeutet etwas …