23
Die Privatklinik Doktor van der Meer lag oberhalb der sandigen Dünen in der Abenddämmerung, und die geschwungene Auffahrt zum Eingangsportal war von sanft glühenden Laternen gesäumt. Die Sandsteinfassade mit den ziegelrot eingefassten Fenstern erinnerte an ein Kurhotel aus dem neunzehnten Jahrhundert. Das ziegelgedeckte Dach war mit einem kleinen Türmchen geschmückt, auf dem sich ein Wetterhahn im salzigen Ostwind drehte. Das Metallscharnier des Hahns kreischte bei jeder Drehung, oder vielleicht waren es auch die Möwen, die einander zuriefen, dass es Zeit zum Schlafen sei.
Die Nordsee wölbte sich wie flüssiges Blei und lief in langen Wellen auf den Strand hinter dem Klinikgebäude zu. Der Himmel war weit draußen über dem Wasser noch hell, aber über dem Land wurde er bereits dunkel. Von der Küstenstraße zwischen Zandvoort und dem Naturschutzgebiet führte die mit Kies bestreute Auffahrt durch ein Tor aus schwarzem Schmiedeeisen zu dem dreistöckigen Haupthaus, das mit seinen erleuchteten Fenstern wie eine von Gras und Strandhafer umgebene Fata Morgana aussah: das Schloss des Doktor Death.
Der Commissaris ließ sich am Straßenrand absetzen und sah noch zu, wie der Dienstgolf umkehrte und mit dem melancholisch tröpfelnden Verkehrsfluss zurück nach Haarlem rollte. Er wollte, dass die an der Tankstelle entdeckten Gummistiefel Größe dreiundvierzig heute noch bei den Kollegen in Haarlem abgeliefert wurden. Der Kies knirschte unter seinen Schuhen, als er die Zufahrt hinaufging. Das Herz wurde ihm schwer bei der Vorstellung, ein Krankenhaus betreten zu müssen.
Der Wind sang auf den Dünen. Das Riedgras wurde an die sandigen Hügel gepresst, und die Luft roch nach Jod und Salz. Das Meer schien zu atmen. Die Wellen leckten über den dunklen Strand nach einem Boot, das kieloben am Fuß einer Düne lag. Über der Kimm ballten sich Wolken von dunklem Rot und tiefem Blau zu einem zerklüfteten Gebirge, hinter dessen Zügen langsam das kupferne Nachglühen der bereits versunkenen Sonne erlosch. Es war erst kurz vor sechs am Nachmittag, und trotzdem wurde es schon Nacht. Bald begann der Winter. Es war der erste Winter ohne Simone.
Van Leeuwen ging über den Kies und dann die Treppe zum Eingang hinauf und durch das Foyer in den ersten Stock, wo er vom Direktor in seinem Büro erwartet wurde. »Erinnern Sie sich noch an mich, Mijnheer van der Meer?«, fragte er.
»Natürlich erinnere ich mich an Sie«, polterte Klaas van der Meer und winkte den Commissaris näher, ohne hinter seinem Schreibtisch hervorzutreten. »Sie waren der Polizist, der mich vor einigen Jahren verhaftet hat. Was für eine Chance für einen Beamten, der Karriere machen will! Sie müssen dabei viel gelernt haben.«
Der Arzt hatte den kantigen, scharf geschnittenen Kopf einer Schildkröte, der auf einem hageren Körper saß. Die weißen Haare waren so kurz geschoren wie die grauen Bartstoppeln. Die Augen ließen an Zwillingsgeschütze denken: Auf den ersten Blick entging einem ihre Farbe, weil man viel zu sehr damit beschäftigt war, ihr Kaliber zu erraten. Tiefe Gräben furchten die lederne Haut und verloren sich in einem faltigen, dürren Hals, aber es war vor allem die Nase, die dem aus Horn gebildeten Haken einer Schildkröte ähnelte.
Seine Kleidung war achtlos gewählt: Unter dem offenen Kittel trug er ausgebeulte braune Cordhosen und einen fadenscheinigen gelben Pullover, dessen Ausschnitt nur einen zerknitterten, hellblauen Kragenflügel sehen ließ. Der maschinell geknüpfte Knoten eines grün und rot karierten Ansteckschlipses hing, schräg nach unten verrutscht, zwischen dem sichtbaren und dem unsichtbaren Kragenflügel. Die Füße steckten in ausgetretenen Turnschuhen mit Gummisohlen.
Van der Meers Blick wanderte von Van Leeuwens Gesicht zurück zu einem Fernseher auf einer Metallkonsole neben seinem Schreibtisch. Der Bildschirm zeigte eine attraktive junge Frau, die in einem hautengen Outdoor-Anzug eine Felswand hinaufkletterte, gefilmt von einer Videokamera, unruhig, wie ein Hobbyfilm. Die junge Frau bewegte sich geschmeidig und ökonomisch, schlug Haken in den Stein, knüpfte Knoten, hangelte sich höher und höher, und all das, ohne zu schwitzen, ohne das geringste Anzeichen physischer Anstrengung. Man konnte fast den Wind spüren, der sie dort oben streifte, den Geruch des Felsens in der Sonne, die Luft eines Sommertags hoch über der Welt. »Miriam Brautigam«, sagte Van der Meer, als wäre damit alles erklärt.
Er wandte seine Aufmerksamkeit wieder dem Commissaris zu und schraubte seine Lautstärke noch um einige Dezibel nach oben. »Was kann ich denn diesmal für Sie tun? Sie sind ja wohl nicht hier, um mich wieder zu verhaften.«
»Nein, ich bin hier, um mit Ihnen über eine Frau namens Heleen Soeteman zu sprechen, die von Ihnen behandelt werden wollte«, sagte der Commissaris. »Wie Sie vielleicht wissen, wurde sie vor einigen Tagen getötet.«
Van der Meer schaltete den Fernseher aus, gerade als die Frau auf dem Bildschirm die Seile und Haken gegen ein Paddel vertauschte, mit dessen Hilfe sie ein Kanu durch einen Wildwasser-Canyon schleuste. »Heleen Soeteman ist tot?«, fragte er überrascht. »Nein, das wusste ich nicht. Wer … in welcher Klinik hat man ihr denn geholfen?«
»Nach meinen Informationen haben Sie die Behandlung abgelehnt«, sagte der Commissaris.
»Ja, das stimmt.«
»Geschieht es oft, dass Sie sich weigern, einem Kranken ärztliche Hilfe zuteilwerden zu lassen?«
Van der Meers Kieselaugen sprühten Funken. »Schauen Sie sich um, Mijnheer – das ist mein Büro, in diesem Raum verbringe ich meine Tage und meistens auch die Nächte. Fast alle Möbel sind von der Heilsarmee. Den Sandsack in der Ecke da hat mir meine Tochter geschenkt. Hier arbeite ich, und hier male und trainiere ich, nur Schlaf finde ich hier nicht. Aber das ist nicht schlimm, weil ich nirgendwo schlafen kann. Schauen Sie sich meine Gemälde an, sehen Sie aus dem Fenster, auf das Meer, den Himmel – und dann sagen Sie mir, ob Sie wirklich glauben, mich mit solchen Fragen provozieren zu können!«
Es war ein großes Büro, aber nur spartanisch eingerichtet: ein Schreibtisch aus zerkratztem Nussbaumholz mit einem altmodischen PC, einer Lampe und einem in rotes Kunstleder gebundenen Organizer darauf. Ein Tastentelefon. Ein schlichter Drehstuhl ohne Armstützen hinter dem Schreibtisch und ein weiterer Stuhl ohne Rollen, aber mit Armstützen davor. Auf der einen Seite des Fensters – neben der Metallkonsole mit dem TV-Apparat – hing ein dicker, kolbenförmiger Ledersack, unter dem ein Paar Boxhandschuhe lagen. Der Sack wirkte so alt und abgenutzt, dass er kaum noch wie Leder aussah, sondern eher wie ein großes nacktes Tier ohne Gliedmaßen. Auf der anderen Seite des Fensters lehnte auf einer ramponierten Staffelei ein erst halb fertiges Gemälde in schreienden Primärfarben, das mehrere Blumentöpfe auf dem Geländer eines Balkons zeigte. Außerdem gab es einen Aktenschrank, ein deckenhohes Bücherregal, eine mit weißem Papier abgedeckte Liege und einen Paravent, der ein Waschbecken mit einem tropfenden Wasserhahn verbarg.
Eine ganze Wand war ausschließlich mit Ölbildern in denselben schreienden Farben geschmückt, wie sie bei dem unfertigen Gemälde auf der Staffelei Verwendung gefunden hatten. In ihrer kühnen, naiven Pinselführung und der kindlichen Lust an leuchtendem Dottergelb, tiefem Blauviolett und prallem Magentarot erinnerten sie Van Leeuwen an Malerei aus Lateinamerika und Mexiko, an Diego Rivera und Fernado Botero.
Auch die dargestellten Motive erfreuten den Betrachter mit kindlicher Drastik. Auf einem Bild krabbelte ein Kleinkind in einer blutigen Windel fröhlich auf einer bereits in Verwesung übergegangenen Männerleiche mit weit klaffendem Brustkorb herum. Ein anderes zeigte eine spärlich bekleidete Greisin mit wirrem Haar und schlaffen Brüsten, die einen halbierten Säugling in einen Fleischwolf stopfte. Auf dem nächsten waren weitere Blumentöpfe zu sehen, aus denen nackte, rot verschmierte Babys zu wachsen schienen: kleine ausgestreckte Hände, ein hungrig aufgerissener Mund, der an einem abgehackten Daumen lutschte. Auf dem Boden neben den Töpfen lagen weitere Babyteile, in durchsichtiges Zellophan gehüllt.
Der Commissaris spürte, wie sein Mund trocken wurde. Im Magen hatte er ein Gefühl, als hätte er Glas zerkaut und heruntergeschluckt. »Die Kinder symbolisieren den Lebenswillen?«
Van der Meer schob die Hände in die Kitteltaschen. »Das ist eine Interpretationsfrage«, sagte er. »Vielleicht symbolisieren sie auch den Irrsinn des Lebens. Es sind Darstellungen aus den Albträumen, die mir Patienten erzählt haben. Wie finden Sie die Bilder?«
»Sie passen zu jemandem, der seine Aggressionen abreagiert, indem er auf sandgefüllte Tierhaut einprügelt«, erwiderte der Commissaris.
»Ich spiele mit dem Gedanken an eine Ausstellung, sobald ich genug fertiggestellt habe«, bekannte der Arzt und trat nun doch hinter dem Schreibtisch hervor, um sich neben den Commissaris zu stellen und die Gemälde aus dessen Blickwinkel zu sehen.
»Hier auf dem Klinikgelände?«, fragte Van Leeuwen.
»Warum nicht? Sie würden sich wundern, wie viel Sinn für Humor Schwerkranke und Sterbende haben.«
»Ich kann schon das fröhliche Gelächter bei der Vernissage hören«, meinte Van Leeuwen, »vor allem wenn Sie die Bilder mit Ihrem Künstlernamen signieren – Doktor Death. Am besten legen Sie die Eröffnung gleich auf den einunddreißigsten Oktober.«
»Warum ausgerechnet auf den einunddreißigsten Oktober?«
»An diesem Abend wird in Mexiko der Tag der Toten gefeiert, die Nacht des Hundes«, erklärte Van Leeuwen. »Man erwartet die Rückkehr der gestorbenen Kinder, der angelitos, der kleinen Engel. Sie könnten den Gästen Calaveras de Dulce servieren. Das sind Totenschädel aus Zucker. Und Pan de Muerto, Totenbrot – ebenfalls ein beliebtes Naschwerk! Zusammen mit einem ordentlichen Schluck Tequila …«
Van der Meer zwang sich zu einem Lachen. »Wenn Sie so gebildet sind, dann kennen Sie auch William Blake«, meinte er. »Some are born to sweet delight …«
»Das einzige Gedicht, das ich kenne, ist Siebzehn Mann auf des toten Kerls Kiste«, entgegnete Van Leeuwen.
Van der Meer schüttelte den Kopf, ein erstes Zeichen von Unmut. »Some are born to sweet delight, some are born to endless night – um zum Anlass Ihres Besuchs zurückzukehren. Das war nämlich Heleen Soetemans Leben – endlose Nacht, Tag für Tag. Sie hatte den guten Tod verdient. Sie wissen, dass dies die Übersetzung des griechischen Wortes Euthanasie ist – der gute Tod ? Und wenn ein Mensch diesen Tod verdient hatte, dann war es Heleen Soeteman. Meine Güte, was hat die Frau leiden müssen … Und jetzt hat ihr also doch noch jemand geholfen. Gut, kann ich nur sagen. Gut! Das war es ja, was sie sich mehr als alles andere gewünscht hat, aber mir fehlte der Mut. Sie haben mir noch nicht gesagt, in welche Klinik sie gegangen ist.«
»In gar keine. Sie ist an ihrem Arbeitsplatz ermordet worden. Jemand hat ihr eine Plastiktüte über den Kopf gestreift und sie damit erstickt.« Der Commissaris trat einen Schritt zur Seite, um den Arzt ansehen zu können. »Vielleicht wäre es nicht dazu gekommen, wenn Sie versucht hätten, ihr Leben zu retten, statt es nur abzulehnen, sie zu töten.«
Van der Meer entgegnete: »Sie wusste, dass es keine Heilung für sie gab. Auch das gehört zum Beruf des Arztes – dass man keine falschen Hoffnungen erweckt und auf lebensverlängernde Maßnahmen verzichtet, wenn sie keine Aussicht auf Besserung mit sich bringen, sondern nur noch mehr Qualen. Es ist immer ein unerträgliches Dilemma, und am Ende entscheidet das Gewissen.« Er warf einen Blick auf seine Armbanduhr. »Zeit für die Nachtvisite. Kommen Sie, Sie können mich begleiten.«
Mit großen Schritten stürmte der Arzt aus seinem Büro, ohne darauf zu achten, ob der Commissaris ihm folgte. »Eine Frau wie Heleen wird krank, weil sie sich nicht mehr anders zu wehren weiß«, sagte er, während er, weiterhin mit beiden Händen in den Kitteltaschen, über den Gang seiner Klinik eilte. »Es ist das letzte Aufbegehren ihrer Seele. Sie wird krank, weil ihre Leidensfähigkeit erschöpft ist, weil sie nicht anders zurückschlagen kann. Sie gibt sich selbst an allem die Schuld und will sich dafür bestrafen, indem sie erst ihre Seele zerstört, dann ihren Körper. Ja, der Tod war eine Erlösung für sie!«
Der Arzt ging schnell, er achtete nicht auf die Schwestern oder Pfleger, die ihm auf dem Gang begegneten, auch ihre Grüße oder eine hastig vorgebrachte Frage ließ er unbeantwortet. Er schien einem bestimmten Zimmer am Ende des Korridors zuzustreben.
Van Leeuwen hielt mit ihm Schritt. »Und Heleen Soeteman hat um diese Erlösung gebeten?«
»Mehr als ein Mal.«
»Sie hat darum gebeten, getötet zu werden?«
»Ja.«
»Können Sie mir sagen, an wen sie sich noch gewandt hat – außer an Sie? Wie viele Menschen kennen Sie, für die eine simple Bitte um Erlösung von Schmerzen ausreicht, um jemandem das Leben zu nehmen?«
Der Arzt blieb abrupt stehen. »Sie wissen nicht, was es bedeutet zu leiden …« Jetzt brüllte er wieder. »Was es bedeutet, jemandem dabei zusehen zu müssen, wie er an einer schweren Krankheit stirbt.«
»Sie wissen nicht, was ich weiß!« Auch der Commissaris konnte brüllen, und während er zufrieden feststellte, dass er lauter war als Van der Meer, dachte er: Du bist nie auf diesen Gedanken gekommen, bei Simone. Es war ihm nicht einmal eingefallen, es könnte richtig sein, mit ihr in eine Sterbeklinik zu gehen. Vielleicht, wenn sie starke Schmerzen gehabt hätte; vielleicht dann, aber ich glaube es nicht. »Wer entscheidet in dieser Klinik, wer lebt und wer stirbt?«, fragte er.
»Warum nicht Sie, Commissaris?« Der Arzt blieb vor einer Tür stehen, klopfte und trat gleich ein. Van Leeuwen folgte ihm in ein überraschend geräumiges Zimmer mit einem Bett, in dem das Skelett einer Frau lag. Das Fenster stand offen, und die Vorhänge bauschten sich in den Raum hinein wie zwei große Flügel. Sie reichten fast bis zu der fahrbaren Patientenüberwachungseinheit, die neben dem Bett stand und von der mehrere Schläuche und Kabel zu der Frau führten. Ein grüner Punkt lief über einen schwarzen Monitor, begleitet vom elektronischen Piepsen simulierter Herztöne. Das rhythmische Zischen eines Respirators erfüllte das Zimmer, und wie ein Kontrapunkt dazu erklang von draußen das Rauschen der Dünung und das rostige Quietschen des Wetterhahns auf dem Dach.
Die Frau war blass, ihr dunkles Haar schweißverklebt. Ihre Brust unter der dünnen Decke schien so eingefallen zu sein, dass Van Leeuwen glaubte, ihr Herz sehen zu können; es schlug gegen die Rippen wie gegen die Gitter eines Käfigs. Schläuche führten zu Kanülen, Flüssigkeit rann durch Nadeln, Sauerstoff kreiste in durchsichtigem Plastik. Die Augen der Frau waren geschlossen, aber als Van der Meer nach ihrer Hand griff, flatterten ihre Lider.
»Hallo«, sagte er.
Sie gab einen Laut von sich, der einem hellen Pfeifton glich, und wie als Reaktion darauf ging eine erstaunliche Veränderung mit dem Arzt vor. Plötzlich wirkte er verständnisvoll, aufmerksam, fast gütig. Er sprach so leise, dass der Commissaris ihn nicht mehr verstehen konnte. Aber die Patientin konnte es, sie lächelte schwach und öffnete kurz die Augen. Ihre Finger, dünn wie Zahnstocher, schlossen sich um Van der Meers Hand. Er ließ sie ihr einige Sekunden lang, dann löste er sie behutsam aus ihrem Griff. Er ging zu dem Waschbecken neben der Tür und füllte eine Porzellanschale mit warmem Wasser. »Schließen Sie bitte das Fenster«, sagte er.
Der Commissaris ging zum Fenster und schloss es. Als er sich wieder umdrehte, hatte der Arzt die Bettdecke zurückgeschlagen, das Hemd der Frau hochgeschoben und angefangen, ihre flache, eingefallene Brust mit einem feuchten Waschlappen abzureiben. Ihre Augen waren dabei fest auf sein Gesicht gerichtet, und wenn er sich abwandte, um den Lappen wieder ins Wasser zu tauchen, verharrten sie bewegungslos, fast ängstlich, bis sie ihn wieder sehen konnte. Er wusch ihren Bauch, den Unterleib und die Beine, die kaum noch Muskeln aufwiesen.
Van Leeuwen sah ihm zu, er sah die Sorgfalt, die behutsamen Bewegungen, und er musste daran denken, wie er Simone abgewaschen hatte, abends und morgens und manchmal mitten in der Nacht. Auf einmal hatte er das Gefühl, einen überraschenden Blick auf den anderen Van der Meer zu erhaschen, einen Mann, dem er sich nah fühlte. Trotzdem fragte er sich, ob der Arzt gerade aufrichtige Anteilnahme zeigte oder nur bewusst eine Studie in Demut inszenierte. Oder ob es einfach keinen Unterschied zwischen beidem gab.
»Helfen Sie mir mal, sie umzudrehen«, bat Van der Meer. »Sie müssen die Schläuche halten, und Vorsicht mit den Armen.« Gemeinsam schafften sie es, die Frau auf die Seite zu legen, ohne dass die Nadeln und Infusionsschläuche sich lösten. Sie versuchte, etwas zu sagen, aber es klang zu undeutlich, als dass Van Leeuwen sie verstehen konnte. Der Arzt säuberte auch den Rücken, den Po und die Rückseite der Schenkel. Danach trug er die Schüssel und den Lappen wieder zum Waschbecken. Van Leeuwen stand neben dem Bett, noch immer mit den Schläuchen in der Hand. Er spürte, wie ihm ein kalter Lufthauch über den Nacken strich, und sah zur Tür hinüber, die einen Spaltbreit offen stand.
Er erinnerte sich, dass er sie geschlossen hatte.
Nachdem er mit Van der Meer in den Raum gekommen war, hatte er sie ganz sicher zugemacht. Aber jetzt war sie nur angelehnt, und jemand stand auf dem Gang und spähte herein. Jemand beobachtete, was in dem Zimmer vorging. Jemand hatte lautlos die Tür geöffnet, eine Frau oder ein Mann, der Ausschnitt der dunklen Silhouette konnte beides sein. Einen Augenblick später war die Silhouette verschwunden, nur der offene Spalt blieb, hell vom Licht auf dem Korridor.
»Sehen Sie sich diese Frau an, Mijnheer!«, brüllte Van der Meer unvermittelt. »Ihr Name ist Miriam Brautigam, fünfunddreißig Jahre alt, Köchin, Freeclimberin, Wildwasserkanutin. Würden Sie sagen, sie lebt, oder sie stirbt? Wollen Sie ihr sagen, dass es gut ist so, dass Sie sich freuen soll, am Leben zu sein? Wollen Sie hören, was sie sagt, wenn Sie sie fragen, ob Sie etwas für sie tun können? Soll er dich fragen, Miriam? Fragen Sie sie doch, los – fragen Sie sie: Freust du dich deines Lebens, Miriam Brautigam? Kann ich irgendetwas für dich tun, Miriam?«
Zum ersten Mal kam Van Leeuwen der Gedanke, dass der Arzt brüllte, weil er sonst kein Wort herausbekommen würde; dass er brüllte, um nicht zu verzweifeln. »Nein, sagen Sie noch nichts. Ich muss Ihnen erst noch etwas zeigen.« Van der Meer kehrte zum Bett zurück und drehte die alte Frau, die erst fünfunddreißig Jahre war, sanft wieder auf den Rücken. Sie schluckte und hustete. Es klang, als ertränke sie innerlich. Der Arzt ordnete die Schläuche, justierte den Sitz von Nadeln und Kanülen und versprach: »Ich sehe später noch einmal nach dir, Miriam.«
Sie begann, am ganzen Leib zu zittern, so sehr strengte sie sich an, etwas zu sagen, aber alles, was ihr gelang, war ein Flattern und Zucken der Augen. Der Commissaris nahm ihren Anblick auf der Netzhaut seines inneren Auges mit aus dem Zimmer und fand es wieder auf dem Bildschirm des Fernsehapparates in Van der Meers Büro, als der Arzt das Gerät einschaltete und das Video, das er bei Van Leeuwens Eintreffen betrachtet hatte, weiterlief.
Miriam Brautigam, fünfunddreißig Jahre alt, kletterte jetzt nicht mehr Felswände hinauf, und sie paddelte auch nicht weiter durch einen Wildwasser-Canyon. Sie lag auf dem Rücken in dem Bett in ihrem Zimmer hier in der Klinik, gespickt mit Nadeln und Schläuchen. Sie sah starr in die Videokamera, die das Bett und sie von der linken Seite aufnahm, und nur an dem schwachen Heben und Senken ihrer Brust konnte man erkennen, dass sie noch lebte.
»Sie denken, diese Frau ist Miriam Brautigam«, bemerkte Van der Meer, »die Miriam Brautigam, die Sie eben in der Felswand und im Kanu gesehen haben, aber sie ist es nicht. Vor zwei Jahren war sie es noch, in ihrer Küche im Hotel Pulitzer in Amsterdam. An diesem Tag ließ sie bei der Arbeit plötzlich eine Pfanne fallen. Natürlich dachte sie sich nichts dabei, obwohl ihr das noch nie passiert war. Einige Tage später probierte sie einen Schluck Kochwein, und ganz plötzlich wurde ihre Aussprache so undeutlich, als wäre sie stockbetrunken. Als Extremsportlerin trank sie keinen Alkohol, nie. Etwas später – sie wollte am frühen Morgen auf ihre Vespa steigen – verlor sie das Gleichgewicht und kippte mit dem Scooter um, einfach so. Sie ging zum Arzt, um sich untersuchen zu lassen, und als sie ihn anrief, um die Ergebnisse zu erfahren, bestellte er sie nicht in seine Praxis, sondern in die Uniklinik, wo sie sich plötzlich einem ganzen Ärztekonsortium gegenübersah.
Die Ärzte erklärten ihr, dass sie an amyotrophischer Lateralsklerose leide, einer degenerativen Krankheit des motorischen Nervensystems, an der sie innerhalb kurzer Zeit sterben werde, weil es für dieses Leiden keine Behandlung und daher auch keine Heilung gebe. Ihre erste Reaktion war, dass sie lachen musste. Sie verlor völlig die Kontrolle über sich. Als sie sich wieder in der Hand hatte, fragte sie: Wie?, und die Ärzte sagten ihr, vermutlich werde sie an ihrem eigenen Speichel ersticken, weil sie irgendwann nicht mehr schlucken könne. Sie blieb erstaunlich gefasst, wollte nur noch ein paar Einzelheiten wissen. Sie erfuhr, dass sie schon lange vor dem wahrscheinlichen Erstickungstod nicht mehr würde klettern, schwimmen oder auch nur laufen können, auch kochen oder normal essen oder auch nur allein auf die Toilette gehen würde sie nicht können, weil nämlich nach und nach ihre Nerven und Muskeln versagen würden. Dafür würden schwere Muskelkrämpfe auftreten, so heftig, dass sie schreien würde, solange sie noch schreien konnte.«
Der Commissaris starrte auf den Bildschirm, auf die Frau, die ihm jetzt gar nicht mehr alt vorkam, denn er sah die junge Miriam in ihr, und er hörte sie schreien. Mühsam bewegte sie die Lippen, um ein paar undeutliche, gurgelnde Worte herauszubringen. Er hörte sie schreien, weil sie mit den Augen schrie.
Van der Meer fuhr fort: »All das ist inzwischen eingetreten. Die meisten Nerven und sämtliche Muskeln haben sich so weit zurückentwickelt, dass sie zu nichts mehr taugen, als Miriam unerträgliche Schmerzen zu bereiten. Nur die Augenmuskeln sind davon ausgenommen, und wenn sie genau hinschauen, wenn Sie in diese Augen sehen, erkennen Sie das Schlimmste: Sie ist bei klarem Verstand. Sie weiß und spürt ganz genau, was mit ihr passiert, mit dem Rest ihres Körpers, bis zu dem letzten Krampf, der sie tötet; dem Moment, in dem sie erstickt. Schauen Sie genau hin, Mijnheer – was sehen Sie? Was sehen Sie?«
Van Leeuwen schaute hin, und er hatte keinen Zweifel, dass die junge Frau in der alten sterben wollte. Jetzt verstand er auch die stockenden, halb ertränkten Worte: Ich will nicht mehr leben. Ich kann nicht mehr. Ich will sterben.
Sie sah in die Kamera und durch die Kamera hindurch und aus dem Fernsehapparat in eine Welt, die schon lange nicht mehr ihre war. Mit einer zitternden Hand kritzelte sie etwas auf einen Notizblock, langsam, schwerfällig, Buchstaben, Silben, Worte, und dann drehte sie den Block erschöpft zur Kamera, versuchte, ihn hochzuhalten, und da stand: Bitte, lasst mich sterben, und zwei glitzernde Streifen liefen von den Augen über ihre eingefallenen Wangen hinunter zu den Mundwinkeln.
Bitte, lasst mich sterben.
Die Worte standen groß und flehend in der Mitte des Bildschirms, bevor Van der Meer den Apparat ausschaltete. »Wie lautet Ihre Entscheidung, Commissaris? Was schlagen Sie vor? Soll Miriam Brautigam weiterleben, weiter leiden, oder respektieren Sie ihren sehnlichsten, ständig wiederholten Wunsch, endlich sterben zu dürfen, mit dem Rest Würde, der ihr noch geblieben ist?«
Van Leeuwen sagte nichts. Er schämte sich fast dafür, aber so war es, ihm fiel nichts ein. Was ist Würde?, dachte er. Was versteht man darunter? Versteht jeder dasselbe?
»Ich will Ihnen helfen, Commissaris«, meinte Van der Meer. »Ich – wir behandeln hier zurzeit einhundertsiebenundvierzig Patienten in verschiedenen Stadien ihrer Krankheit, und dabei handelt es sich nicht nur um Krebs, sondern auch um Multiple Sklerose, Parkinson oder eben ALS. Kein Fall ist wie der andere – manche von ihnen können geheilt werden, bei anderen kann man den Krankheitsverlauf beeinflussen, und einige werden sterben. Aber denen, die sterben, ist eins gemeinsam – ihr Tod wird qualvoll sein, von unerträglichen Schmerzen begleitet. Im Rahmen dieser Gemeinsamkeit zerfallen sie dann wieder in zwei Gruppen: die einen, die diesen Krankheitsverlauf bis zum letzten Atemzug erleben wollen, und die anderen, die sterben wollen, solange ihnen noch ein Tod in Würde möglich ist. Der ersten Gruppe stellen wir die gesamte Palette der Palliativmedizin zur Verfügung, Schmerztherapie, Sterbebegleitung, alles. Für die zweite Gruppe, die, wie es juristisch heißt, unbeeinflusst, freiwillig, wohlüberlegt und andauernd nach Sterbehilfe verlangt, für die gibt es das Komitee. Mein think tank. Das Komitee entscheidet, wer von uns erlöst wird und wer nicht.«
»Was ist das für ein Komitee? Aus wem besteht es?«
»Zu dem Komitee gehören der Chef der jeweiligen Abteilung, ein weiterer Arzt aus Haarlem, ein Psychologe und ich selbst als medizinischer Direktor der Klinik«, erklärte Van der Meer. »Leider sind mir momentan die Hände gebunden, jedenfalls solange mein Einspruch gegen das Urteil nicht verhandelt worden ist. Das Gericht hat mir mein Gewissen verboten. Die Bewährungsauflagen beinhalten, dass ich nicht einmal mehr im erlaubten Rahmen Sterbehilfe leisten darf. Ich darf Miriam nicht helfen, ihre Würde zurückzuerlangen. Aber jemand wird es in diesem Fall tun. Das Komitee hat so entschieden.«
Der Commissaris sah eine Möglichkeit, seinem Dilemma zu entfliehen, die Rückkehr zum Anlass seines Besuchs. »Und dieses Komitee hat im Fall Heleen Soeteman entschieden, dass die Voraussetzungen für Euthanasie nicht gegeben waren?«
»Nein, das hat es nicht entschieden. Aber aus dem oben erwähnten Grund habe ich beschlossen, ihr nicht in unserer Klinik zu helfen, sondern sie anderen Händen zu überlassen.«
»Mit Empfehlung des Komitees?«
»Ja.«
»Das Komitee erteilt also auch Mordaufträge?«
»Diese Frage ist unter Ihrem Niveau, vor allem, nachdem Sie selbst offenbar nicht den Mut haben, eine Position zu beziehen.«
Aber Van Leeuwen war nicht bereit, sich wieder in die Defensive drängen zu lassen. »Bei dem elfjährigen Tom haben Sie das Komitee nicht befragt, oder? Bei dem psychisch labilen Selbstmörder, dem Sie assistiert haben, statt ihn an einen Psychiater zu überweisen, war Ihnen der Weg zum Komitee zu lästig. Kein think tank und kein zweiter Arzt. Bei wie vielen Patienten haben Sie die Voraussetzungen, unter denen Sterbehilfe bei uns erlaubt ist, noch umgangen?«
»Ich habe sie umgangen, wenn mein Berufsethos mich dazu verpflichtet hat«, rief Van der Meer erbost, »wenn diese Voraussetzungen in ihrer ganzen Absurdität kenntlich wurden! Und deswegen habe ich mich gefreut, dass ich vor Gericht gestellt worden bin. Ich wollte vor Gericht gestellt werden. Aber ich wollte einen Freispruch, ohne alle Vorbehalte, keine Bewährung aufgrund der Taschenspielertricks meines Anwalts. Entweder ein Freispruch erster Klasse, carte blanche, die juristische Legitimation, weiter zu gehen, viel weiter, als es hier erlaubt ist – oder eine Verurteilung! Ja, ich hätte vor die Richter treten und sagen sollen: Verurteilt mich, denn ich habe sogar eure ach so liberalen Gesetze gebrochen! Schickt mich für zwanzig Jahre ins Gefängnis, nein, auf den elektrischen Stuhl, und zwar wegen Mordes, weil ich meinem Gewissen gehorcht habe!«
Der Commissaris sah, wie Van der Meers Augen wieder zu flattern begannen – die wahnsinnigen Vögel, bereit, aus den Höhlen zu fliegen. Es ist eine Mimikry, dachte er. Die Aura gütiger Kompetenz und verständnisvoller Aufmerksamkeit überzog den Arzt wie eine Schicht aus undurchsichtigem, wasserabweisendem Wachs, die den Blick in sein Inneres, auf sein wahres Wesen abtropfen ließ. Denn dort, tief drinnen, loderte das Feuer seiner Überzeugung, seiner Besessenheit, die sich mehr und mehr durch die Schale der Güte fraß wie ausgetretene Radioaktivität durch den Mantel aus Stahlbeton, unter dem sie begraben liegen sollte. Dieses Feuer wurde nicht von Güte gespeist.
Van der Meer verfügte über die gesamte Palette ärztlicher Gesten, das milde Lächeln, die ernste Zurückhaltung, die vertrauenerweckenden Gebärden, das gutmütige Poltern, aber gelegentlich gab es eine elektrische Störung, und das Hologramm flackerte und schien sich zu zersetzen, und aus dem lebensecht wirkenden Arzt trat das hervor, was dem Commissaris die Haare zu Berge stehen ließ. Zusehends wurde er vor Van Leeuwens Augen zu einem Fanatiker, einem Mann, der von seiner Überzeugung gefangen gehalten wurde wie eine ausgehungerte Geisel. Hinter seinem hageren Gesicht, in seinem stählernen Märtyrerkörper saß er das Leben ab, zu dem er sich selbst verdammt hatte, als menschliche Brücke zum Tod.
Müde fragte der Commissaris: »Wo waren Sie Freitagmorgen zwischen sechs und neun Uhr?«
»Ich war hier, in der Klinik«, antwortete Van der Meer, nicht im Geringsten verärgert. »Die gesamte Belegschaft, die zu der Zeit Dienst hatte, kann das bestätigen.«
»Würde Ihre Belegschaft nicht für Sie lügen?«
»Möglicherweise würde sie das, ja.«
»Können Sie mir die Namen der Mitglieder des Euthanasie-Komitees, Ihres think tank, geben, oder unterliegen die der Schweigepflicht?«
»Nein, sie sind auch der Staatsanwaltschaft bekannt, schließlich muss jeder einzelne Fall dort gemeldet werden. Es handelt sich um Doktor Annemieke Sellin, die Leiterin der Krebsstation hier in der Klinik, Doktor Rob Winter vom Poliklinikum in Haarlem und einen psychologischen Sachverständigen.«
»Ich danke Ihnen für Ihre Geduld«, sagte der Commissaris. »Sie müssen doch nicht etwa in absehbarer Zeit verreisen, ins Ausland, zu einem Kongress oder dergleichen?«
»Nein, mein Platz ist hier.«
»Gut.« Van Leeuwen ging zur Tür, wo er sich noch einmal umdrehte. »Was ist Würde?«, fragte er. »Sie sprechen immer von einem Tod in Würde. Was ist das? Wer entscheidet denn, was in so einem Zusammenhang Würde ist?«
Ohne eine Antwort abzuwarten, verließ er Van der Meers Büro. Er ging durch den leeren, nächtlichen Korridor zum Treppenhaus und dann die Treppe hinunter zum Eingang, und draußen schritt er sehr schnell über die Auffahrt zur Straße. Es war kalt geworden, und ihn fröstelte. Er zog den Trenchcoat enger um sich. Was, wenn Simone Schmerzen gehabt hätte?, dachte er; wenn sie geschrien hätte vor Schmerzen, was hättest du dann getan?
Kurz bevor er die Straße erreichte, wo er den letzten Bus nach Haarlem abpassen wollte, hörte er wieder das rostige Scharnier des Wetterhahns auf dem Turm. Er hörte es kreischen, und diesmal war es lauter. Es klang wie das Blech eines Autowracks, das von der Eisenschere eines Bergungstrupps auseinandergezwängt wurde. Der Commissaris blieb stehen, drehte sich um und schaute nach oben. Er sah, dass der Hahn sich nicht bewegte.