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Die Möwe flog dicht über dem Wasser, wo die Luft fast silbrig war. Mit sparsamen weißen Flügelschlägen glitt sie unter dem Wind dahin, und dann stieg sie plötzlich auf und ließ sich vom Luftwiderstand zurückwerfen. Eine Zeit lang schien sie im Dunst zwischen Himmel und Fluss stillzustehen, ehe sie wieder in den Wind drehte und sich fallen ließ und mit dem Bauch sekundenkurz die kabbeligen Wellen berührte. In meinem nächsten Leben werde ich eine Möwe, dachte Bruno van Leeuwen. »Wie würde es dir gefallen, als Möwe wiedergeboren zu werden, Sim?«, fragte er.

Er saß neben Simones Grab im Gras und sah auf die Amstel hinaus, die im unbeständigen Licht fortwährend die Farbe wechselte, von Blaugrün zu gleißendem Messing und Zinngrau, wenn Wolken unter der Sonne vorübertrieben. Kleine Wellen rollten am Ufer entlang und schwappten zwischen den tangbewachsenen Steinen vor und zurück. In der Mitte des Flusses tuckerten Frachtkähne mit rostigem Schanzkleid am Friedhof vorbei, und dort, wo ihre Heckschrauben das Wasser aufwirbelten, veranstalteten die Möwen die reinste Flugschau. Van Leeuwen saß gern an dieser Stelle neben dem Grab, im Schatten einer großen Tanne, und sah auf die Amstel.

Seit Simones Beerdigung kam er an jedem Sonntag hierher, noch vor dem Frühstück. Am Anfang wäre er am liebsten jeden Tag zum Friedhof gefahren, aber er wusste, dass er aufpassen musste, damit er nicht in einen Sog geriet, aus dem er nicht wieder herausfand. Er wartete also immer bis zum Sonntagmorgen. Er nahm die Straßenbahn bis kurz vor Zorgvlied, und dort stieg er aus und ging zu Sims Grab. Er saß allein in der Tram, und er war allein auf dem Friedhof; andere Leute hatten aufgehört zu existieren. Wenn sie redeten, hörte er nicht, was sie sagten, und ihre Stimmen schienen von nirgendwo herzukommen.

Er tat jedes Mal dasselbe: Er zog seinen Mantel aus, faltete ihn zu einem Kissen und setzte sich darauf. Der Grabstein war schlicht, aus Granit, und darauf stand Simones Name und wie lange sie gelebt hatte. Van Leeuwen sah ihn an, aber er konnte ihn nicht wirklich sehen. Er konnte sich auch nicht vorstellen, dass seine Frau darunterlag. Die Erde war braun. Die Bäume ringsumher waren braun und grün, und manche waren dunkelrot. Der Fluss auf der anderen Seite des eisernen Gitterzauns war blau oder grau oder grün, und die Luft roch nach Harz, Gras, Tang und Rinde. Er konnte die Farben nicht sehen und die Gerüche nicht riechen. Er hörte weder den Wind in den Bäumen noch das Rauschen des Flusses. Es war, als befände er sich in einem Wachkoma, in das er gefallen war, als er seinen Verlust zum ersten Mal wirklich begriffen hatte.

Die Beklemmung war so plötzlich und so groß gewesen, dass er nicht mehr hatte atmen können. Sie hatte sein Herz zusammengedrückt und die Konturen der Dinge und der Menschen verwischt, sodass sie ihm fremd geworden waren, und so war es eine ganze Zeit nach Simones Tod gewesen. Vertraut waren ihm nur noch die Erinnerungen, in denen er blätterte, vor und zurück, und irgendwann dachte er, dass sie wie die Schalen einer Zwiebel in Schichten um einen gemeinsamen Mittelpunkt lagen. Es war immer derselbe Mittelpunkt, den es nur noch in diesen Erinnerungen gab. Das machte sie so traurig; wie bei einer Zwiebel konnte es passieren, dass man auf einmal losheulte.

An einem Tag wie heute, so fing es manchmal an: An einem Tag wie heute im Frühherbst, an dem die Luft wie kühler Samt war und einem beim Atmen schon mit einem ersten Anflug von Kälte in den Lungen stach, da war er mit Sim draußen beim Reitstall der Polizei gewesen, und als sie dort eintrafen, wurde gerade ein junger Rotfuchs trainiert. Mit flatternder Mähne, der Hufschlag auf dem trockenen Boden hart und von kaum gebändigter, übermütiger Kraft, trabte der junge Hengst über den Hof. Seine Nüstern bliesen weiße Atemwolken in die scharfe Luft. Unter dem Fell spielten die Muskeln, der Schweif stand aufgerichtet in einem gleichmäßigen Bogen, und es war Liebe auf den ersten Blick für beide, Simone und den Rotfuchs. Ein Zungenschnalzen, und er trabte sofort zu ihr und blieb vor ihr stehen, bevor er sie sacht mit der Schnauze anstieß. Sie hatte ihre Stirn an seiner Blesse gerieben. Mit geschlossenen Augen hatte sie den warmen, süßlichen Pferdegeruch eingesogen, seinem Schnauben gelauscht und gelächelt, als steckte in dem großen, scheuen Tier ein Engel, der ihr gerade ein Geheimnis anvertraute.

Eine Erinnerung; nur eine.

Aber an einem anderen Tag wie heute, einem diesigen Tag, an dem man die Sonne wie warmes Gold empfand, waren sie nach Zandvoort gefahren, um am Meer spazieren zu gehen, außerhalb der Saison, wo sie den Strand fast für sich allein hatten. Es hatte so viele Tage wie heute gegeben, aber immer mehr davon waren ungenutzt verstrichen. Warum waren sie nur noch einmal zum Reitstall hinausgefahren und niemals mehr nach Zandvoort im Frühherbst? Warum hatten sie nie wieder Artischocken mit zerlassener Butter gegessen, nur die Herzen, mit Weißbrot? Sie hatten es vorgehabt, das und vieles andere. Sie hatten es vorgehabt und immer wieder hinausgeschoben und nie daran gedacht, dass es eines Tages zu spät sein könnte; dass einer von ihnen nicht mehr da sein würde.

Damals, an all diesen Tagen wie heute, war Sim jung gewesen, schön und sprühend vor Lebendigkeit. Nirgendwo die geringste Spur – nicht mal eine Ahnung – von der Frau mit dem igelkurz geschnittenen grauen Haar, die ihn später verwirrt und ängstlich im Morgenrock erwartet hatte, wenn er abends von der Arbeit nach Hause gekommen war. Was diese beiden Frauen verbunden hatte, waren die Augen gewesen: groß und braun, voller Zärtlichkeit und Staunen. In diese Augen hatte er sich bei ihrer ersten Begegnung vor fast vierzig Jahren verliebt. Er hatte gewusst, dass sie immer gleich bleiben würden, selbst wenn alles andere sich veränderte, und so war es dann auch gewesen – er sah die Augen und ihr Lächeln und darin die Frau, die er geheiratet hatte, als sie beide jung gewesen waren. Er schaute sie an, und er sah beide Frauen, und jetzt waren beide tot.

Es hatte lange gedauert, bis er die Erinnerungen rationieren konnte; bis er wieder ein Gespür für die Gegenwart fand. Er wuchs aus dem Koma heraus, indem er die Dinge und die Menschen mit Simones Augen sah. Dadurch gewannen sie ihre Schärfe zurück. Er sah etwas und sagte sich: Wie Sim das wohl gefunden hätte? Oder: Das würde Sim gefallen. Aber es wurde ihm nicht wirklich bewusst. Er sah eine Zeit lang einfach andere Dinge, und erst nach und nach sah er alles wieder so, wie er es immer gesehen hatte.

Die Sonne schien auf die Kiefern und Ulmen, auf die Kastanien, die Eichen und Tannen, die mit ihrem Grün ein Gewölbe über den Gräbern bildeten, ein rauschendes, raschelndes Dach aus dunklen und hellen Blättern, spätsommerlich, herbstlich. Umwuchert von Gestrüpp, aus dem hier und da eine Blume leuchtete. Wenn der Wind über die Amstel heranwehte, geriet der ganze Friedhof in Aufruhr, das dunkle und das helle Grün, die silbernen Nadeln. Und Bruno van Leeuwen, der Zurückgebliebene, stand am Grab seiner Frau und suchte Streit mit der Schöpfung. Er bebte vor Zorn darüber, dass all diese Schönheit nur noch für ihn allein sein sollte, denn dann war sie für niemanden; er konnte mit ihr nichts mehr anfangen.

Eines Tages war er schließlich so wütend gewesen, dass er endgültig erwacht war und gedacht hatte: Du musst es für sie sehen. Die würzigen Gerüche sind nicht für dich, sondern für sie. Die Spinnweben wie Kupferfäden im funkelnden Gras, die singenden Vögel, die karmesinroten und löwenzahngelben Blumen; du weißt, wie sehr ihr das alles gefallen hätte, wie sie darin aufgegangen wäre. Also setzte er sich auf seinem zum Kissen gefalteten Trenchcoat zu ihr und betrachtete es für sie, und langsam füllte sich der leere Raum in seinem Herzen.

Es gab auf diesem großen Friedhof voller verschlungener Pfade und in dichten Gruppen stehender Bäume Hunderte und Aberhunderte von Grabstätten. Manche waren groß wie Mausoleen, mit Statuen aus Marmor in allen Farben oder Schmiedeeisen oder verwittertem Fels. Es gab graue, moosbewachsene Gedenksteine mit kaum mehr leserlichen Inschriften wie auf dem kleinen Friedhof in seinem Dorf, auf dem er sich als Kind versteckt hatte, wenn er über die Welt nachdenken musste. Aber es gab auch andere Grabstätten, auf denen statt frischer Schnittblumen halb volle Bierflaschen standen, und hier und da blitzten goldverzierte Kreuze durch das Dickicht, mit abstrakten, bunten, fröhlichen Mosaiken geschmückt.

Als er den Möwen lange genug zugesehen hatte, um ihre Tauglichkeit als Hülle für ein gemeinsames nächstes Leben zu prüfen, stand Van Leeuwen auf und vertrat sich ein wenig die Füße. Die Erde war bereits mit dem ersten Herbstlaub bedeckt, das seine Schritte abfederte wie ein dicker Teppich. Ein fruchtbarer Geruch stieg daraus auf und vermischte sich mit dem Duft von Gras, Harz und trockener Rinde. Das einzige Geräusch war das stete Fließen des Wassers oder das Rauschen des Windes in den Kronen der Bäume, in dem alles andere unterging: die eiligen Sprünge eines Eichhörnchens, die fernen Schreie der Möwen oder das Tuten der Frachtkähne auf dem Fluss. Van Leeuwen blieb stehen und sah nach oben, hinauf zum Wipfel einer Tanne, die alle anderen Bäume überragte und sich schwach hin und her wiegte. Das Muster ihrer Zweige, das Geflecht aus Sonnenglanz und vielfältigem Grün, veränderte sich fortwährend, und ihm wurde schwindlig.

Er dachte an den jungen Lehrer, der aufgeschnitten in der Pathologie lag, an seine Worte: Ich ersticke!

Er dachte an den Mörder, der Menschen tötete, indem er ihnen eine Plastiktüte über den Kopf streifte und sie darunter ersticken ließ. Er spürte, wie ihm eine Gänsehaut über den Rücken lief, denn im selben Moment merkte er, dass er in der Mehrzahl gedacht hatte, obwohl es nur ein Opfer gab. Warum hatte er das Gefühl, es könnten mehr werden; es könnte nicht bei dem einen bleiben?

Früher hätte er mit Simone eine Flasche Wein aufgemacht und ihr von dem Toten erzählt; er hätte ihr von beiden Toten erzählt und den beiden Mördern, dem, den er kannte, und dem unbekannten. Sie hätte ihn gefragt: Was denkst du? Und er hätte geantwortet: Ich glaube, es gibt noch mehr Opfer, ohne dass ich sagen könnte, warum.

Später, als sie dann nicht mehr wusste, wer er war, hätte er ihr einfach nur so davon erzählt, auch wenn ihm klar war, dass sie ihn nicht mehr verstand. Und sie hätte gelächelt und vor sich hin gesummt und gesagt: Nicht so schlimm.

Auf einmal erklangen metallische Töne hinter ihm, gefolgt von stampfenden Schritten. Er drehte sich um und bemerkte einen Jogger, der einen der schmalen Pfade entlanglief. Der Jogger trug ein rotes Unterhemd, eng anliegende rote Lurex-Shorts und schmutzige weiße Turnschuhe. Der Schweiß bildete dunkle Halbmonde im Hemd unter seinen Achseln. Seine Haut war sonnenverbrannt. An seinen Hüften wippte ein MP3-Player, der so laut eingestellt war, dass die Musik aus seinen Kopfhörern schepperte. Eine Sonnenbrille, eine Taucheruhr am linken Handgelenk und ein Pulsmesser am rechten vervollständigten seine Ausrüstung. Keuchend brach der Jogger durch die Äste, die in den Pfad ragten, und rannte grußlos an Van Leeuwen vorbei.

Der Commissaris kehrte zurück zum Grab. Er bückte sich, hob seinen Trenchcoat auf und klopfte ein paar Blätter und trockene Halme ab. Es ging auf Mittag zu; der Friedhof füllte sich jetzt langsam mit Angehörigen der Toten und Spaziergängern. Van Leeuwen verabschiedete sich nie groß, denn in einer Woche kam er ja wieder, und Sim wusste das und war da. In Gedanken sagte er: Unser Gutsherr, Baron Trelawney, Doktor Livesay und die übrigen Herren drangen in mich, eine genaue Darstellung unserer Reise nach der Schatzinsel niederzuschreiben und nichts auszulassen als die Angabe ihrer Lage, und auch das nur, weil dort noch ungehobene Schätze liegen …

Vor ihrem Tod hatte er ihr oft vorgelesen, meistens aus der Schatzinsel von Robert Louis Stevenson. Es hatte keine Rolle gespielt, was er gelesen hatte, denn sie hatte nur noch seine Stimme erkannt, und selbst davon war er manchmal nicht ganz überzeugt gewesen. Aber das Buch hatte immer zu ihren Lieblingsromanen gehört, und nach einer Zeit fragte niemand mehr nach dem Sinn oder Grund einer Gewohnheit.

Er hatte das Gefühl, durch die Erde in Sims Grab hineinsehen zu können und dann durch den Holzdeckel des Sarges, in dem sie so lag, wie sie all die letzten Jahre im Bett neben ihm gelegen hatte: auf dem Rücken, die Hände über der Brust gefaltet und das Gesicht ausdruckslos wie das einer schlafenden Löwin. Sie lag dort aber nicht in völliger Dunkelheit, sondern in dem ungewissen Zwielicht, in dem auf dem Meeresboden die versunkenen Galeonen lagen.

Sein eigener verborgener Schatz. Nur er wusste, dass es ihn gab, und nur er wusste, wo er lag. Schlaf gut, sagte er lautlos, und träum nicht von ungehobenen Schätzen.

Der Jogger war umgekehrt. Seine trampelnden Schritte hallten auf dem Boden. Er näherte sich wieder dem Grab, begleitet von der scheppernden Musik und seinen hechelnden Atemstößen. Van Leeuwen hoffte, dass er einen Bogen um die Stätte machen würde, doch der Pfad führte dicht daran vorbei, und die schmutzigen Turnschuhe folgten dem Pfad. Nicht hier, dachte er; meinetwegen überall sonst, aber nicht hier! Er wartete, bis der Jogger ganz nah war, dann stellte er sich ihm abrupt in den Weg.

Der Jogger erschrak, geriet aus dem Rhythmus und öffnete wütend den Mund. Dann sah er Van Leeuwens Miene und schloss den Mund wieder. Er wurde blass unter der Sonnenbräune, schlug einen Haken und versuchte, um den Commissaris herumzulaufen. Van Leeuwen kam ihm zuvor und schnitt ihm auch dort den Weg ab. »Das ist ein Friedhof und kein Laufställchen!«, brüllte er. »Hier liegt meine Frau, und ich will, dass sie nicht gestört wird! Ich will, dass sie ihre Ruhe hat! Hast du das kapiert, Freundchen?! Du kannst hier spazieren gehen oder dich irgendwo unter einen Baum setzen, aber du trampelst hier nicht herum, nicht da, wo meine Frau schläft!«

Der Jogger lief jetzt noch schneller, und dann rannte er, und ein Stück hielt der Commissaris mit, bis der Pulsmesser des Joggers zirpende Signale von sich gab, und das brachte Van Leeuwen wieder zur Besinnung. Schwer atmend blieb er stehen. Sein Herz raste, und sein ganzer Mund schien zu brennen.

Ohne sich noch einmal umzuschauen, verschwand der Jogger im Dickicht. Der Commissaris ging zurück zu Simones Grab und hob seinen Trenchcoat auf. »Es tut mir leid«, sagte er.

Nicht so schlimm, antwortete Sim.