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Sie sicherte die Sig Sauer und schob sie zurück in die Schulterhalfter. Sie wollte etwas sagen, aber alles, was ihr einfiel, war von jetzt an überflüssig. Deswegen beschränkte sie sich darauf, mit den Schultern zu zucken. Dann schüttelte sie den Kopf.

»Erzähl mir, was passiert ist«, sagte der Commissaris.

»Ich habe ein Geräusch gehört und bin ihm nachgegangen.«

»Du hast die Patientin allein gelassen.«

»Ja.«

»Wie lange warst du weg?«

»Nicht sehr lange.«

»Wie lange?«

Julika rechnete die Schritte auf dem Gang in Sekunden und Minuten um, dann die Zeit im Fahrstuhl und auf der Toilette. »Vielleicht zwölf Minuten.« Es hörte sich sehr lange an.

»Bist du jemandem begegnet, während du weg warst?«

»Nein.«

»Ist dir sonst etwas merkwürdig vorgekommen?«

»Ich habe den Fahrstuhl gehört, er fuhr rauf oder runter, aber als ich ihn angehalten habe, war niemand drin.«

»Weißt du, in welchen Stockwerken er gehalten hat?«

»Nein.«

»Und vorher?«

»Was vorher?«

»Wem bist du vorher begegnet? Mit wem hattest du Kontakt? Wer war hier im Zimmer?«

»Nur die Schwester, die mir geöffnet hat, als ich gekommen bin, und Doktor Death.«

»Van der Meer«, verbesserte der Commissaris sie. »Hast du ihn gefragt, ob Jacobszoon heute Abend hier war?«

»Nein, daran habe ich nicht gedacht. Was ist mit deiner Hand? Ist sie gebrochen?«

»Das ist nichts, eine Zerrung. Wie hat Van der Meer auf dich gewirkt?«

»Wie meinst du das, wie er auf mich gewirkt hat?«

»Beschreib mir genau, wie eure Begegnung verlaufen ist.«

»Er kam hereingestürmt, fuchsteufelswild, und fragte mich, wer ich bin und was ich hier will. Mein Ausweis hat ihm ungefähr so imponiert wie ein eingeschweißter Furz mit Foto, und er brüllte, das sei eine Privatklinik, ich bräuchte einen Durchsuchungsbeschluss. Ich dachte, er brüllt die ganze Station zusammen, aber ich habe einfach auf stur geschaltet, und zu guter Letzt hat er mir noch mit den Schnäbeln seiner Augen die Leber rausgerissen, bevor er wieder aus dem Zimmer gehumpelt ist und …«

»Er ist gehumpelt?«, fragte der Commissaris jetzt mit veränderter Stimme. »Richtig gehumpelt?«

»Ja, als wäre er mit dem Fuß umgeknickt oder jemand hätte ihm einen Tritt in die Kniekehle verpasst oder so was.«

»Bleib hier und lass niemand zu Mevrouw Brautigam.« Der Commissaris lief aus dem Zimmer, und als er auf dem Gang war, rannte er in Richtung Treppenhaus, stieß die Stationstür mit den Milchglasfenstern auf und drückte den Fahrstuhlknopf, aber nichts geschah, und deswegen nahm er die Treppe, immer drei Stufen auf einmal, und folgte dem Schild mit der Aufschrift Direktion.

Im Treppenhaus standen die Oberlichter einiger Fenster auf, sodass man das Tosen des Meeres hören konnte, als spülten die Brecher inzwischen über den Strand und die Dünen bis an die Klinikmauern. Van Leeuwen erreichte das Stockwerk, auf dem Van der Meer sein Büro hatte. Das Handy vibrierte an seiner Brust. Er holte es mit der ungeschickten linken Hand heraus, fummelte im Dunkeln damit herum, bis er es richtig hielt, und meldete sich. »Ja, hallo?«

»Wo bist du?«, wollte Gallo wissen. »Ich war bei dir zu Hause.«

»Ich bin in der Klinik.«

»Was machst du da?«

»Ich konnte nicht schlafen, und es gab keinen anderen Ort, an dem ich gebraucht wurde.« Van Leeuwen fragte nicht, wieso Ton Gallo nicht schlief. »Was hast du herausgefunden?«

»Jacobszoon ist nicht der, den wir suchen«, sagte Gallo. »Er ist nicht der Plastiktütenmörder. Zum Zeitpunkt der ersten Morde war er ganz woanders, das halbe Land lag zwischen ihm und den Tatorten.«

Van Leeuwen blieb stehen, im Dunkeln auf dem Treppenabsatz. »Von welchen ersten Morden sprichst du präzise?«

»Von einigen, die länger als fünfzehn Jahre zurückliegen, nicht allen, aber einigen – außer dem an Conrad Mueller. Er war zur selben Zeit in der Nähe der Orte, wo der Mörder zugeschlagen hat, aber erst bei den späteren Fällen.«

»Wo war er bei den ersten Fällen?«

»In Brunswyck, bei seiner Mutter.«

»Seine Mutter war doch im Gefängnis.«

»Seine Mutter war nicht Sara Scheffer. Er ist nicht das Baby aus dem Blumentopf, das überlebt hat. Es stimmt, dass er einen anderen Namen angenommen hat, und er stammt sogar aus der Gegend von Steenwijk, aber seine Mutter hieß nicht Scheffer.«

»Vielleicht waren die ersten Fälle dann doch keine Tötungen«, meinte der Commissaris.

»Tut mir leid, Bruno«, erwiderte Gallo. »Ich bin noch nicht mit allen Fällen durch, aber ich glaube nicht, dass der Rest ein anderes Bild ergibt.«

»Und wo war Van der Meer? Wo war er, als die ersten Fälle auftauchten?«

»Komisch, dass du das fragst«, sagte Gallo, aber als er es Van Leeuwen sagte, war die Antwort gar nicht komisch, weil nichts an diesem Fall komisch war. Der Commissaris wusste, dass auch die Antwort auf seine nächste Frage nicht komisch sein würde, aber er stellte sie trotzdem, und er hatte recht. Er unterbrach die Verbindung, ließ das Handy in die Manteltasche gleiten und betrat den Gang, der zu Van der Meers Büro führte.

Auch dieser Gang erstreckte sich leer und dunkel bis zu einem vom Regen glitzernden Fenster am anderen Ende. Die Tür mit dem Schild Klinikleitung Dr. van der Meer war die erste auf der linken Seite. Ohne zu klopfen, drückte Van Leeuwen die Klinke. Die Tür war abgeschlossen. »Doktor van der Meer!«, rief der Commissaris wider besseres Wissen. »Doktor van der Meer! Schwester!«

Van Leeuwen hämmerte mit der Faust an die nächste Tür, an der Sekretariat stand. Auch hier öffnete ihm niemand, sodass er noch einmal »Schwester!« brüllte, bis hinter ihm eine andere Tür aufging, und aus dieser Tür trat die Schwester, die ihm schon vor einer Viertelstunde die Nachtpforte geöffnet hatte.

»Machen Sie nicht so einen Lärm, Sie wecken ja die Patienten auf!«, schimpfte sie leise.

»Wo ist Doktor van der Meer?«, fragte der Commissaris.

»Er hat die Klinik verlassen.«

»Wann?«

»Darüber kann ich Ihnen keine Auskunft geben.«

»Wissen Sie, wo ich ihn erreichen kann?«, drängte Van Leeuwen. »Haben Sie seine Mobilfunknummer?«

»Also«, die Schwester überlegte. »In dringenden Fällen – er hinterlässt für so einen Fall auf seinem Schreibtisch einen Zettel …«

»Die Tür ist abgeschlossen.«

»Der Doktor schließt sein Büro nie ab«, entgegnete die Schwester und drückte die Klinke, um es ihm vorzuführen, doch die Tür widersetzte sich ihr und blieb verschlossen. »Das ist aber merkwürdig.« Sie griff in die Tasche ihres weißen Kittels, holte einen Schlüsselbund heraus und sperrte auf. »Hier haben alle Zimmer dieselben Schlösser«, erklärte sie. »Ich weiß allerdings nicht, ob Sie ohne Durchsuchungsbeschluss wirklich …«

Van Leeuwen schob sie beiseite, öffnete die Tür und betrat das Büro, und als er das Licht einschaltete, sprangen ihm als Erstes die Bilder ins Auge, die Gemälde von den Blumentöpfen und den Babys in ihren blutbefleckten Windeln, auf dem Boden, den Fensterbrettern und der Staffelei. »Wie finden Sie denn Doktor van der Meers Gemälde?«, fragte der Commissaris, während er zu dem Schreibtisch vor dem Fenster mit Seeblick ging.

»Doktor Jacobszoons Bilder«, verbesserte die Schwester ihn. »Er hat sie der Klinik für eine Ausstellung zur Verfügung gestellt.«

Der Commissaris erinnerte sich an Van der Meers Worte bei seinem ersten Besuch in der Klinik, wie er die Bilder beschrieben hatte: Vielleicht symbolisieren sie den Irrsinn des Lebens. Es sind Darstellungen aus den Albträumen, die mir Patienten erzählt haben. Ich spiele mit dem Gedanken an eine Ausstellung, sobald ich genug fertiggestellt habe.

Er trat auf eins der Bilder zu, und jetzt entdeckte er rechts unten, winzig klein und mit roter Farbe gemalt, die Buchstaben K J. Er war sicher, dass die Signatur bei seinem ersten Besuch in Van der Meers Büro noch nicht da gewesen war, weder auf diesem Gemälde noch auf einem der anderen. Er warf einen Blick auf den Schreibtisch des Arztes, dessen Platte leer im Licht der Deckenbeleuchtung schimmerte. »Ich brauche seine Mobilfunknummer, sofort!«

»Vielleicht steht sie bei seiner Sekretärin im Rolodesk.« Die Schwester ging zur Verbindungstür zum Nebenzimmer.

Van Leeuwen kramte mühsam sein Handy hervor. Mit dem Daumen der gesunden Hand tippte er Inspecteur Vreelings Nummer ein. Der Inspecteur meldete sich eine ganze Weile lang nicht, und als er es tat, klang seine Stimme orientierungslos. »Hast du etwa geschlafen?«, polterte Van Leeuwen.

»Nein«, der Inspecteur verhaspelte sich fast, »nein, nur nachgedacht, ich war in Gedanken und …«

»Was ist mit Jacobszoon?«, fragte Van Leeuwen. »Ist er noch in seiner Wohnung? Hat er in den letzten Stunden Besuch bekommen?«

»Ich weiß nicht«, Vreeling versuchte, klar und kompetent zu klingen, »ich stehe hier auf der Straße, gegenüber der Eingangstür, und wenn jemand das Haus betritt, ohne zu klingeln …«

»Besuch zwischen Mitternacht und jetzt, ich meine, von Doktor van der Meer.«

»Ich weiß doch gar nicht, wie der aussieht«, wandte Vreeling ein. Ein Tuten in der Leitung meldete ein anderes Gespräch an, und Van Leeuwen sagte:

»Ach, Remco, halt einfach die Augen offen und versuch, nicht wieder einzuschlafen!« Er wechselte die Verbindung, und diesmal war Julika am anderen Ende.

Ihre Stimme klang dringlich, fast ängstlich: »Bruno, kannst du schnell kommen, bitte? Hier passiert was Merkwürdiges – ich glaube, sie stirbt. Muriel stirbt gerade, glaube ich.«

Van Leeuwen rannte wieder, diesmal abwärts. Er rief der Schwester zu: »Los, kommen Sie mit!«, und dann stürmte er aus Van der Meers Büro, durch die Tür zum Treppenhaus und die Stufen hinunter, drei auf einmal in der Dunkelheit, und das Handy in der Hand, ohne es auszuschalten; er hatte es einfach vergessen. Er stürzte durch die nächste Tür, lief den nächsten Gang entlang, zu der letzten Tür, die schon offen stand.

In Muriel Brautigams Zimmer bemerkte er sofort, dass etwas anders geworden war. Die Frau in dem Bett sah auf einmal wieder jung aus, nicht mehr nur wie ein Skelett, das an Schläuchen hing. Ihre Augen waren offen, sie schienen zu strahlen, und ihre Lippen lächelten. Ihr Gesicht war leicht gerötet, eine gesunde Röte, die zu dem Strahlen in ihren Augen passte. Ihre Arme und Beine bewegten sich, aber nicht mehr unter Schmerzen und Mühen, sondern sacht, sanft, wie von einer warmen Strömung erfasst.

Der Commissaris trat an Muriels Bett. Ihre Augen suchten seinen Blick. Er fand darin keinen Protest, kein Bedauern, nur helle Dankbarkeit, und als er zu Julika am Fußende des Bettes hinübersah, entdeckte er einen Abglanz davon auch auf ihrem Gesicht. Ich habe nichts damit zu tun, dachte er. Die Worte lagen ihm auf der Zunge, aber im selben Moment wusste er, dass sie nicht stimmten.

Van Leeuwen betrachtete die Infusionsflasche, die an dem Ständer neben dem Kopfende von Muriels Bett hing, und die Flüssigkeit, die durch den transparenten Schlauch in ihre Venen tröpfelte. Er sah wieder auf Muriels Gesicht, das mit jedem Herzschlag jünger und glücklicher wirkte. Dann ertrug ihr Herz die Droge nicht mehr und blieb stehen. Die junge Frau zitterte, als führe ein Windstoß durch ihren Körper. Ihre Augen leuchteten noch einmal auf. Danach sank das Licht in ihnen tiefer und tiefer, unterwegs zu den ungehobenen Schätzen. Sie verlor die Kraft, sich zu bewegen, nur das Lächeln blieb auf ihren Lippen. Und die Dankbarkeit in ihren Augen erlosch.

Der Commissaris hörte die Schwester, die schwer atmend in den Raum trat, den Zettel mit Dr. van der Meers Handynummer in der Hand. »Soll ich einen Arzt rufen?«, fragte sie.

»Nein«, sagte er. »Das ist nicht mehr nötig.«

Wer entscheidet in dieser Klinik, wer lebt und wer stirbt?

Warum nicht Sie, Commissaris?