18

Eine Zeit lang folgte die Straße dem Ufer der Amstel, und von seinem Platz ganz hinten in der Straßenbahn konnte Van Leeuwen die Silhouetten toter Zypressen vor dem zinngrauen Wasser sehen und später die kleinen Flammen abgefackelter Gase an den Schornsteinen der Raffinerien am Stadtrand. Dichte Wolken ballten sich über der flach daliegenden Landschaft wie dunkler Rauch von einem unsichtbaren Feuer. Van Leeuwen glaubte, den Regen schon in den Windstößen riechen zu können, die durch die gekippten Oberlichter der Tram drangen. Die ersten Tropfen zerplatzten auf den Scheiben.

Der Commissaris sah noch eine Weile zu, wie die Tropfen zu kleinen Bächen auf dem Fenster wurden, dann vertiefte er sich in die Wochenendausgabe von De Avond!. Er las den Politikteil, der ihn nicht sehr interessierte, und dann den Sportteil, der ihn auch nicht besonders interessierte. Den Kulturteil las er, um herauszufinden, ob es ein neues Buch oder einen Film gab, die der Mühe wert waren, aber es gab keine. Auf der vorletzten Seite entdeckte er eine Kolumne mit der Überschrift Samariter.nl unter dem Foto eines Mannes – große, aufmerksame Augen, eine hohe Stirn, ein schmaler, sensibler Mund, dazu eine Brille, die wahrscheinlich eher ein Accessoire war, aber trotzdem: alles in allem ein Gesicht, zu dem man Vertrauen haben konnte, auch ohne den Samariter aus der Bibel zu kennen.

In der Bildunterschrift las der Commissaris, dass Samariter.nl auch aus Rundfunk und Fernsehen bekannt war, wo er in spät nachts ausgestrahlten Talksendungen über Einsamkeit, Angst, Verlust oder Verzweiflung Rat und Trost spendete. In der Einleitung zu der Kolumne las Van Leeuwen den Brief einer jungen Frau namens Linda, deren Vater im Sterben lag. Sie schrieb, wie zornig er darüber war und wie er jeden, der ihm nahestand, damit quälte und terrorisierte und dass sie jetzt auch immer zorniger wurde und ihm den Tod wünschte. Sie schrieb, dass sie ihn trotzdem liebte, aber sie war allein mit ihm und seinem Sterben, und sie wusste nicht mehr, wie lange sie das noch aushielt.

Ja, dachte Van Leeuwen, so ist das. Die Traurigkeit in seinem Herzen war jetzt nicht mehr heiß und zornig, sondern kühl und schwer. Lesen half auch nicht sehr viel, deswegen hörte er auf, als er zu der Stelle kam, in der Mijnheer Jacobszoon der jungen Frau antwortete, dass Zorn zum Sterben gehörte. Zorn gehörte dazu und Depressionen und dass man zu schachern anfing, mit seinem Arzt, mit Gott; dass man um sich schlug, weil man sich isoliert und ungerecht behandelt fühlte. Weil man sterben musste, während alle anderen weiterleben durften.

In der Centraal Station warf Van Leeuwen die Zeitung in einen Abfalleimer, durchquerte die schlecht beleuchtete Bahnhofshalle und stieg die Treppe zu den Gleisen hinauf. Oben ging er ein Stück den Bahnsteig 2b entlang, bevor er das Grand Café Ier Klas betrat, ein sauberes Restaurant, das mit seiner dunklen Holztäfelung und den lilienförmigen Art-déco-Lampen an die Zeit fauchender Dampflokomotiven und seidenbespannter Schrankkoffer erinnerte.

Alles war, wie er es mochte, jede Tischplatte so blank poliert, dass sie glänzte, jede Zeitung zerlesen, jeder Stuhl bequem, die Aufmerksamkeit der Kellner groß und die Speisekarte klein. Es gab genug Platz zwischen den Tischen, und von den Gleisen drang nicht mehr Lärm herein als nötig. Die Beleuchtung war unaufdringlich. An einer kleinen Holzstange neben dem Tresen vollführte ein weißer Kakadu artistische Kletterkunststücke. Der Kakadu war noch nicht da gewesen, als Van Leeuwen hier das letzte Mal mit Simone gegessen hatte.

Der Commissaris nahm an seinem Ecktisch links vom Eingang Platz. Den Trenchcoat legte er neben sich auf die gepolsterte Bank. Er brauchte keine Karte, um zu wissen, was er essen wollte, und die Kellner in ihren gestärkten weißen Jacken brauchten ihn nicht mehr zu fragen. Außer ihm waren nur noch eine Handvoll andere Gäste im Raum, fünf Männer, die allein saßen, zwei Paare und drei Frauen, jede an einem Tisch weit weg von der anderen. Alle hatten Reisetaschen und Koffer neben sich stehen. Während Van Leeuwen auf seinen Hamburger mit Bratkartoffeln wartete, trank er ein Mineralwasser und sah dem Kakadu zu und dann wieder dem Regen, der jetzt stärker gegen die Fenster schlug. Keiner der Reisenden achtete auf ihn oder den Regen und nur eins der beiden Paare auf den Kakadu.

Schließlich holte der Commissaris das Kuvert mit den Briefen aus der Innentasche seines Jacketts und legte es vor sich auf den Tisch. Es hilft nichts, dachte er; du kannst es dir nicht aussuchen. Die Übersetzung der Briefe war da, und jetzt musste er sie lesen. Sie hatten nichts mit ihm zu tun, das wusste er; es war nicht wie bei den Briefen, die er in Simones Koffer gefunden hatte. Es half ihm auch, dass es sich um eine Übersetzung handelte, die dazu noch mit Schreibmaschine getippt war.

Mein geliebter Wu

ich vermisse dich sehr, geliebter Wu, obwohl die ganze Familie nett zu mir ist, deine Brüder, deine Mutter und auch Cousin Jun. Aber ich spüre, wie die Sehnsucht an mir zieht. Am Anfang war es eine süße Sehnsucht, doch nun wird sie von Nacht zu Nacht bitterer; sie rieselt wie Asche durch den glühenden Rost deiner Abwesenheit. Tagsüber laufe ich mit blinden Augen durch die Straßen der Stadt, denn ich sehe nur dein Bild vor mir, sonst nichts. An manchen Abenden gehe ich in den Wald, und wenn der Wind in den Zweigen der Zedern rauscht, stelle ich mir vor, ich höre deine Stimme. Sie flüstert, Ailing, Ailing, Ailing, und ein Schauer streicht mir über die Haut. Wann werde ich deine zarten Berührungen wieder spüren können? Wann wirst du mich anrufen, um mir zu sagen: Komm schnell, Ailing, ich kann das Leben nicht mehr ertragen ohne dich?

Und doch habe ich Angst vor diesem Tag, denn hier bin ich verwurzelt, und ein Teil von mir will immer da sein, wo der mächtige Yangtse ist – selbst wenn er nun viele zerstörte Dörfer bedeckt und viele zerstörte Leben. Aber der größere Teil ist der, der dich liebt, der dir zur Frau gegeben wurde und der sich nach deinem Geruch verzehrt und mit dir über Muschelstrände gehen will. Gibt es Muscheln dort, wo du bist, geliebter Wu?

Der Commissaris überflog einige Absätze, in denen Ailing vom täglichen Leben in der kleinen Hütte bei Fengdu berichtete und beschrieb, wie es jedem Mitglied der großen Familie ging und einzelnen Haustieren auch, bevor sie Zheng Wu noch einmal ihre Liebe schwor und versprach, bald wieder zu schreiben. Als der Brief zu Ende war, las der Commissaris den nächsten und dann den übernächsten. In jedem schrieb Ailing von ihrer Sehnsucht, ihrer Angst und der Familie und den Haustieren.

Doch allmählich veränderte sich der Ton der Briefe. Anfangs fast unmerklich verschwanden die Zedern, die Muscheln, die Haustiere und die Familie bis auf Cousin Jun. Jun Wu löste sich gewissermaßen aus dem Ensemble und trat in den Vordergrund, als gäbe es nur über ihn noch Interessantes zu berichten. Die Skizzen des täglichen Lebens fielen dürftiger aus, dafür wurden Sehnsucht und Liebe fast dringlich beschworen, umflort von Angst. Von Brief zu Brief war mehr über Jun Wu zu lesen, und nach und nach veränderte sich sein Bild.

Offenbar gab es keine Arbeit in den Städten und Dörfern oberhalb des Staudamms, und Jun hatte viel Zeit. Er war sehr aufmerksam zu Ailing. Zunächst konnte man es wohl nur Aufmerksamkeit nennen – um von Zudringlichkeit sprechen zu können, hätte man zwischen den Zeilen lesen müssen. Dass sie ihn schlafend und nackt gesehen hatte, kam dann so überraschend, dass es fast wie ein Paukenschlag wirkte.

Ich wünschte, ich wäre eine Muschel, abweisend von außen und schön und glatt nur von innen. Niemand soll mich ansehen und den Wunsch verspüren, mich zu besitzen. Niemand soll von Lust gequält werden bei meinem Anblick. Wie konnte ich so dumm sein und nicht merken, was Jun im Schilde führt – warum er mit mir zu den Zedern ging, über der Hütte, da, wo der kleine Bach den Hang herunterfließt? Er sagte, er fühle sich erhitzt und wolle sich abkühlen, und dann kniete er am Rand des Bachs nieder und begann sich auszuziehen. Ich wollte nicht hinsehen, aber ich tat es doch, und schon bald befand Jun sich in einem Zustand äußersten Glücks wie du, geliebter Wu, wenn du nachts zu mir kommst. Er sagte, es sei eine große Qual für ihn, so glücklich zu sein, und ich könnte ihn erlösen, ohne dass irgendjemand davon erfährt. Ich wollte nicht hinsehen, doch ich musste, weil ich mich nicht bewegen konnte. Ich war wie erstarrt, wie eine Statue aus Stein, und ich wünschte mir, ich wäre stattdessen eine der kleinen glitzernden Wellen, ich könnte mit ihnen den Bach hinunterfließen, immer weiter, fort von Jun und seinem Glück, weiter und weiter, bis ins Meer hinaus und dort im Ozean verschwinden.

Ich stand so und sehnte mich nach dir und fühlte Kummer und Scham, und ich fragte mich, wie ich nur so vertrauensselig hatte sein können, so dumm. Jun aber lachte nur und sagte, ich würde schon noch Gefallen an ihm finden, so lange wie du, mein Mann, noch fern von mir und unserem Lager sein würdest. Sonst ist nichts geschehen, geliebter Wu, das musst du mir glauben. Ich liebe dich zu sehr, um auch nur an das Glück eines anderen zu denken.

Der Commissaris las und spürte die Erinnerung zurückkehren, obwohl er es nicht wollte. Er fühlte sich plötzlich so müde, als könnte er sich nie wieder rühren, während Ailings Worte um ihn herumwirbelten und nach oben in die Nacht entschwebten gleich schwarzen Schneeflocken. Wie die Kreaturen über dem Kopf der schlafenden Vernunft auf Goyas Zeichnung.

Geliebter Wu, ich dachte, vielleicht wird er von mir ablassen, doch stattdessen nimmt sein Werben – ja, nun weiß ich, dass es wirklich ein Werben ist – an Heftigkeit und Ungestüm zu. Manchmal wird er wütend, und ich bekomme es mit der Angst zu tun. Jun ist ganz anders als du, geliebter Wu, er ist keine Muschel. Er ist schön von außen, aber von innen nicht, und ich weiß vor Traurigkeit oft nicht, wohin, denn ich kann mit niemandem darüber reden, was mit mir geschieht. Die Schande wäre nicht auszumalen, da stimmst du mir doch sicher zu? Soll ich mich weiter wehren, ihn schneiden wie die Muschel? Soll ich ihm nachgeben? Wie lange kann ich zur Statue werden, und wie lange will ich es? Ist nicht allein diese Frage schon eine schreckliche Sünde?

Warum rufst du mich nicht endlich an, um zu sagen, ich habe das Geld nun zusammen, geliebte Ailing, nimm dir ein Flugzeug über den Ozean? Ich selbst verfüge ja über nichts, und Jun sorgt dafür, dass mir niemand etwas gibt, ja, er behauptet sogar, wir seien hoch verschuldet bei ihm, du und ich, sodass ich gar nicht weiß, ob man mir dein Geld überhaupt aushändigen würde. Oh, Wu, meine Welt ist von hoffnungsloser Düsternis erfüllt, und selbst in den Zedern höre ich deine Stimme nicht mehr. Bin ich denn überhaupt noch mehr als der Schaum, der mit dem Abfall auf dem Wasser treibt, dort, wo der Bach seine Klarheit verliert?

Der Commissaris dachte an Zheng Wu in seiner Zelle in der Untersuchungshaft, und dann dachte er an Margriet und Gerrit, und schließlich dachte er an Sim und den Mann in Italien. In einer Ehe gab es alle möglichen Arten von Fallen, in denen man sich fangen, an denen man sich verletzen konnte, bis man innerlich verblutete.

Es gab offene Lügen, es gab Schweigen. Es gab verborgene Wahrheiten und wunde Punkte, an die man nicht rühren durfte, um die man einen Bogen machte. Es gab Verzweiflung und Verachtung und Eifersucht und schreckliche Angst. Es gab Tretminen, vor denen man sich auf Schritt und Tritt in Acht nehmen musste, sodass man irgendwann nicht mehr wagte, sich zu regen, bis man in Bitternis erstarrt war. Es gab Herzen, die sich nicht mehr berührten aus lauter Angst, einander zu verletzen.

Und manchmal gab es Briefe, die besser nie geschrieben worden wären. Aber natürlich, dachte der Commissaris, gab es auch all die anderen Ehen, die von Liebe und Vertrauen bestimmt waren, und ihnen allen gemeinsam war nur, dass am Ende niemand überlebte, nicht mal in der glücklichsten Ehe. Du verstehst es wirklich, die heiteren Seiten des Lebens zu würdigen, dachte er.

Er faltete die Briefe wieder zusammen und steckte sie in das Kuvert zurück, und das Kuvert legte er auf den Trenchcoat. Die beiden Paare, zwei der Männer und eine der Frauen waren verschwunden. Eine andere Frau hatte sich an ihren Tisch gesetzt und blätterte ungeduldig in einer Illustrierten. Sie trug ein elegantes, schiefergraues Kostüm und eine Brille mit einem extravaganten, korallenroten Gestell, und sie schlug die Seiten schnell und heftig um, und jedes Mal klang es wie ein ferner Peitschenschlag.

Als der Kellner den Hamburger brachte, war das Fleisch genau so, wie es sein musste. Auch an den Kartoffeln gab es nichts auszusetzen. Van Leeuwen aß, und als er fast fertig war, ließ der Regen nach, und hinter den nassen Fenstern konnte man wieder die Lichter von Amsterdam sehen. Von den Bahnsteigen drang das Geräusch anfahrender und haltender Züge herein und die Lautsprecherdurchsagen, die ihnen vorausgingen. Die Art-déco-Lampen waren jetzt eingeschaltet worden, denn draußen brach die Dunkelheit herein, und Van Leeuwen dachte: Was für ein schöner Ort. Was für ein schöner Ort doch ein Bahnhof war.

»Darf ich mich zu Ihnen setzen, Commissaris?«, erklang eine Frauenstimme, und er blickte überrascht auf.

Er brauchte einen Augenblick, bis er die Frau erkannte. »Was machst du denn hier, Brigadier Tambur?«

Brigadier Julika Tambur rutschte neben ihm auf die Eckbank und sagte: »Ich dachte, ich könnte Ihnen Gesellschaft leisten.«

»Woher wusstest du, dass ich hier bin?«

»Es ist Sonntag. Sonntags gehen Sie auf den Friedhof, und anschließend sitzen Sie hier und …«

»… blasen Trübsal«, fiel Van Leeuwen ihr schroff ins Wort. »Das wolltest du doch sagen, oder?«

»Nicht mit diesen Worten.« Julika winkte einem der Kellner und bestellte einen doppelten Espresso. Sie saß nah genug, dass er ihr Parfum riechen konnte, süß, aber nicht zu schwer. »Bestimmt waren Sie früher oft mit Ihrer Frau hier«, bemerkte sie, nachdem der Kellner den Espresso gebracht hatte. Sie trank einen Schluck und sah zu dem Kakadu hinüber, der jetzt mit dem Kopf nach unten an dem Kletterbaum hing. »Sie sollten das vielleicht nicht machen – an Orte gehen, wo Sie zusammen glücklich waren. Dadurch wird es nur unnötig schwer.«

So ruhig er konnte, fragte Van Leeuwen: »Ich soll mir den Tod meiner Frau leichtmachen, ist es das, was du mir sagen willst? Bist du auch in der Lage, für Gott zu sprechen wie der Hoofdcommissaris?«

»Nein«, antwortete Julika. Sie trank den Kaffee langsam, mit kleinen Schlucken, und sie hielt die Tasse fest in den schlanken Fingern, an denen es keinen Schmuck gab. »Sie haben recht, ich habe mich vielleicht nicht richtig ausgedrückt. Aber wenn ich sehe, wie Sie das mitnimmt … und damit bin ich ja nicht allein … Wir – wir trauern doch alle mit Ihnen, verstehen Sie?!«

»Nein.« Mit einem Ruck schob Van Leeuwen seinen Teller in die Mitte des Tisches, weg von sich. »Trauer ist keine Gruppenaktivität, sie ist allein meine Angelegenheit! Wenn ich ein Gemeinschaftserlebnis haben will, fahre ich zum Kirchentag! Ich habe dich nicht gebeten, mir Gesellschaft zu leisten, doch wenn du es schon tun musst, dann rede nicht über den Tod meiner Frau oder darüber, wie er mich mitnimmt. Erzähl mir nicht, wie ihr alle Anteil nehmt und dass es gut für mich wäre, professionelle Hilfe in Anspruch zu nehmen, falls das der nächste Punkt auf deiner Liste sein sollte. Du denkst, ich idealisiere Simone, jetzt, da sie nicht mehr lebt und die Last ihrer Krankheit von meinen Schultern genommen ist, aber das tue ich nicht. Sie fehlt mir einfach mehr, als ich je gedacht hätte. Das ist alles!«

Julika stellte die Tasse ab und errötete. »Ich mache mir nur Sorgen«, sagte sie. »Und daran können Sie mich auch nicht hindern. Schließlich – so wie ich Sie damals in der Nacht gefunden habe, mit der Pistole in der Hand und …«

»Es war ein Unfall«, unterbrach Van Leeuwen sie.

»Manche Unfälle wiederholen sich.«

»Dieser nicht. Ich hatte den ganzen Tag an ihrem Bett gesessen, und dann war sie tot, und ich war müde und betrunken …«

Der Kakadu kletterte von der Stange und begann, über den Tresen zu stolzieren. Mit gesträubtem Kamm ging er bis zum Ende der Theke, wo er unschlüssig verharrte. Einer der Kellner hielt ihm die Hand hin, die er nach kurzem Zaudern bestieg. Der Kellner trug den Vogel zum Fenster. Der Kakadu beäugte die Regentropfen auf der Scheibe und die Lichter des Damrak auf der anderen Seite des Bahnhofsplatzes.

Ein anderer Kellner kam, um den Teller und die leere Tasse abzuräumen, und Van Leeuwen bestellte ebenfalls einen doppelten Espresso. »Ich habe nicht vergessen, was du damals für mich getan hast«, sagte er dann zu Julika, »aber es hat keine Bedeutung darüber hinaus. Damit meine ich, dass Simone die letzte Frau in meinem Leben gewesen ist.« Die erste und die letzte und die einzige, dachte er. »Es wird keine andere mehr geben. Ich habe dich nie ermutigt, oder?«

Julika sah wieder zu dem Kakadu hinüber. »Sie haben etwas Besseres verdient«, erklärte sie endlich trotzig. Nach ein paar Sekunden hörte sie auf, so zu tun, als gäbe es nichts Faszinierenderes auf der Welt als einen Kakadu, der aus dem Fenster spähte. »Ich sage nicht, dass ich das bin, aber ich will auch nicht, dass Sie so tun, als wäre ich nichts. Als wäre das, was ich sage oder kann, nichts. Ich will nicht, dass Sie mich behandeln wie ein Kind, nur weil ich vielleicht den falschen Zeitpunkt erwische. Ich will einfach den richtigen Zeitpunkt nicht verpassen. Sie wissen, dass ich nicht so jung bin, wie ich aussehe.«

»Aber ich bin so alt, wie ich aussehe«, sagte Van Leeuwen.

»Sie sind nicht alt«, entgegnete Julika. »Außerdem stehe ich auf alte Männer.«

»Es gibt noch viel ältere!«

Der Kellner brachte seinen Espresso. Van Leeuwen trank, und als er die Tasse geleert hatte, dachte er, dass er jetzt einfach aufstehen und Julika und dieses Gespräch hinter sich lassen konnte. Da sagte sie: »Sie haben mich vielleicht nie ermutigt, aber das brauchen Sie auch nicht. Ich kann das ohne Ermutigung. Ich brauche bloß bei Ihnen zu sein.«

»Hör auf, eine Figur in einem Kitschroman aus mir zu machen!«

»Und was tun Sie mit Ihrer Frau?!«

»Das ist etwas anderes.«

»Vergessen Sie da nicht etwas?«

»Und was?«

»Die Briefe. Den Mann in Italien.«

»Denk nicht an die Briefe!«, sagte Van Leeuwen. »Die Briefe sind nicht wichtig. Der Mann, der sie ihr geschrieben hat, ist nicht wichtig. Nichts davon ist mehr wichtig.«

»Was ist dann wichtig?«

Van Leeuwen antwortete nicht. Er dachte an das, was wichtig war. Er dachte daran, wie sie sich früher hier verabredet hatten, als es Simone noch gut gegangen war. In den ersten Monaten hatte sie jedes Mal überrascht gewirkt, wenn er sie vom Revier angerufen hatte, sogar wenn sie sich getroffen hatten und sie ihn erblickt hatte, so lange hatte sie gebraucht, um es wirklich zu glauben – dass sie verheiratet waren, dass jemand sie liebte, dass die Liebe anhielt. Sie war nicht schnell in diesen Dingen. Und wenn sie sich trennen mussten, weil er dienstlich verreisen musste, rief er sie an, bevor er heimkehrte – immer erst kurz, bevor er da war –, und dann erwartete sie ihn hier, und die ganze Zeit, während er zurückfuhr, wusste er schon, wie sie aussehen, wie sie dasitzen würde, hier an diesem Tisch. Er saß im Zug oder im Auto auf irgendeiner Landstraße und dachte, dass die Welt genau dafür gemacht war, für ihr Wiedersehen hier. Er dachte, dass sie auf dieser Welt wären, um glücklich zu sein; dass es kein Ich mehr gab, nur noch ein Wir, und für dieses Wir lebte er. Und jetzt, dachte er, jetzt ist das Glück nur noch einer von den ungehobenen Schätzen ganz tief unten, und an dem Tag, als es versank, wurde aus wir wieder ich.

»Was ist dann wichtig?«, beharrte Julika und schaute ihn jetzt an, von der Seite und aus viel zu großer Nähe. Sie zwang ihn, sie wahrzunehmen, und einen Moment lang sah er ihr Gesicht, wie sie es vielleicht wollte: ein schönes Frauengesicht, schön nicht im landläufigen Sinn, gleichmäßig, doch ohne vordergründige Harmonie. Die kleine Nase – gerade und sommersprossig – schien jünger zu sein als die Augen und der Mund. Die Haut spannte sich im warmen Licht der Lampen blass und wie poliert über den ausgeprägten Wangenknochen und der hohen Stirn. Er konnte all das sehen, und dann trat er innerlich einen Schritt zurück. Er sagte: »Wenn ich versuchen wollte, dir das zu erklären, würden Wochen, wenn nicht Monate vergehen, ehe du auch nur ansatzweise begreifst, wovon ich spreche. Aber die Quintessenz wäre in etwa: Ich habe in meinem Leben genug Liebe gehabt, jedenfalls von der einzigen Art Liebe, die für mich zählt.«

Julika sah ihn weiter an, unverwandt, bevor sie den Kopf senkte. Das Haar fiel ihr ins Gesicht, und sie strich es zurück. »Darf ich Ihnen etwas erzählen?«, fragte sie.

Ich weiß genug, dachte er, aber natürlich konnte sie seine Gedanken nicht lesen, deswegen begann sie: »Es hat mit meinem Vater zu tun, doch es ist keine von den Geschichten, die ich Ihnen schon erzählt habe. Es ist mehr ein Bild, wissen Sie – eins von den Bildern, die man nie vergisst. Ich bin – früher bin ich andauernd von zu Hause weggerannt, schon als Kind, lange bevor er sich betrunken ins Auto gesetzt und den Unfall verursacht hat, bei dem sie umgekommen sind, meine Mutter, meine Schwester. Ich konnte seine Trinkerei nicht ertragen. Und sein Schweigen, das auch nicht. Ich konnte es nicht mehr ertragen, wie er im Schlafzimmer auf der Bettkante saß, ohne was zu sagen, oder wie er wortlos in der Küche vor dem offenen Kühlschrank stand und minutenlang nur hineinstarrte oder wie er im Waschsalon um die Ecke neben der großen Trommel hockte und den Frauen Blicke zuwarf, betrunken und schweigend. Ich konnte es auch nicht mehr ertragen, wie er uns den Rücken zuwandte, meiner Mutter und mir – kalt und steif und teilnahmslos –, aber vor allem konnte ich es nicht mehr aushalten, ihm dabei zuzusehen, wie während dieses Schweigens sein Leben verrann – unser Leben! Wie er vor all den Schlägen, die er schon eingesteckt hatte, tiefer und tiefer in die Ecke zurückwich und wie er da stand, in dieser Ecke, mit gesenktem Kopf, zermürbt, und auf den Moment wartete, in dem er zu Boden gehen musste und für immer liegen blieb.«

Van Leeuwen griff nach dem Kuvert mit Ailing Wus Briefen auf seinem Trenchcoat und steckte sie zurück in die linke Innentasche seines Jacketts. »Ich muss gehen«, sagte er. »Ich habe das Gefühl, du redest zu oft über deinen Vater.«

Julika blinzelte, als hätte sie etwas gesehen, das gar nicht da war. »Wünschen Sie sich denn nichts mehr vom Leben?«, fragte sie.

»Doch. Dass es aufhört.«

»So sollten Sie nicht reden«, erwiderte sie heftig, fast wütend. »Das passt nicht zu Ihnen. Es passte zu meinem Vater, aber zu Ihnen passt es nicht!«

Der Kakadu am Fenster schlug mit den Flügeln und drehte sich um. Mit einem Fuß kratzte er sich den schräg gelegten Kopf, bevor er Van Leeuwen mit dem linken Auge anstarrte und dabei nicht weniger vorwurfsvoll aussah als Julika.

»Ach was«, meinte Van Leeuwen zu beiden. Gerade, als er das Kuvert verstaut hatte, vibrierte sein Handy in der anderen Brusttasche. Er holte es heraus und meldete sich.

Die Stimme in der Leitung gehörte Doktor Holthuysen. »Entschuldigen Sie, dass ich Sie am Sonntagabend anrufe, Mijnheer«, sagte er, »aber ich hatte gerade eine interessante Unterhaltung mit einem Kollegen in Haarlem. Dort ist vor zwei Tagen eine junge Frau tot aufgefunden worden. Die Autopsie hat eindeutige Parallelen zum Tod unseres jungen Lehrers vor anderthalb Wochen ergeben.«

Der Commissaris spürte, wie das Blut in seinen Adern kalt wurde. Er wusste, was das bedeutete.

»Das heißt, dass Sie es vielleicht mit einem Serientäter zu tun haben«, sagte der Pathologe.