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»Tarik Nasiz? Erinnerst du dich an mich?«

»Was wollen Sie?«

Der Junge, der Tarik Aziz hieß, stand neben einem Kinderwagen in der halb geöffneten Wohnungstür, und hinter ihm stand ein kleines Mädchen in einem geblümten Kleid. Das Mädchen hatte lockiges, dunkles Haar, das zu Zöpfen geflochten war. Es hielt sich mit einer Hand an Tariks Bein fest und schaute neugierig zu Van Leeuwen auf, und was es an Licht in dem engen Korridor gab, schien in ihren Augen zu liegen.

»Darf ich reinkommen?«, fragte der Commissaris.

Der Junge warf einen Blick über die Schulter zurück, über den Kopf des Mädchens, zum Ende des Korridors. Hinter ihm erklang arabische Musik, Töpfe schepperten. »Warum?«, fragte er.

»Ich will mit dir reden.«

»Worüber?«

»Über die Sache in der Straßenbahn.«

Der Junge legte dem Mädchen die Hände auf die schmalen Schultern, drehte es um und gab ihm einen sanften Schubs. »Geh zu Mama, Semira.« Dann sah er Van Leeuwen wieder an, mit gesenktem Kopf, von unten nach oben, und fuhr sich mit der Hand über das krause, kurz geschnittene Haar. »Sind Sie hier, um sich zu entschuldigen?«

»Nein«, erwiderte Van Leeuwen.

»Sie sind nicht hier, um sich zu entschuldigen?«

»Nein.« Van Leeuwen wunderte sich, wie ruhig er war, wie gelassen. »Aber ich bin hier, um dir zu sagen, dass es nicht in Ordnung war, wie ich mich verhalten habe. Es tut mir leid.«

»Und das ist keine Entschuldigung?«

»Nein, ist es nicht.«

»Ist gut, Mann.« Der Junge warf wieder einen Blick über die Schulter zurück, dann machte er Anstalten, die Tür zu schließen.

Van Leeuwen fragte: »Ist Semira deine Schwester?«

Tarik nickte.

»Wie würdest du es finden, wenn jemand sie ohrfeigt, in ein paar Jahren, nachts in einer Straßenbahn?« Van Leeuwens Handy klingelte. Er sagte zu Tarik »Entschuldigung« und wandte sich ab, bevor er sich meldete. Zuerst hörte er nichts, keine Stimme, nur ein Rascheln in der Leitung. »Hallo?« Er winkte Tarik kurz mit der verbundenen Hand, dann stapfte er die Stufen im Treppenhaus hinunter, vorbei an tausendundeinem arabischen Graffito an den schmutzigen Wänden. »Hallo, wer ist denn da?« Er trat aus dem Haus, auf den kleinen Platz vor der Moschee von Slootervaart, und jetzt erkannte er die Stimme des Anrufers. »Mijnheer Wu?«

»Wu bedauert neue Unannehmlichkeiten«, sagte der Chinese.

»Was für neue Unannehmlichkeiten?«, fragte der Commissaris und hatte plötzlich das Gefühl, als drückte eine Faust sein Herz zusammen. »Wo sind Sie, Mijnheer Wu?«

»In Wohnung«, sagte der Chinese.

»Ist Ihre Frau auch da?« Van Leeuwen begann zu laufen, ohne es zu merken. »Ist Ailing da? Kann ich sie sprechen?«

»Leider nein«, erklärte der Chinese. »Sie nicht kann sprechen mit Ihnen.«

»Warum nicht? Was ist mit ihr?«

Zheng Wu gab einen seltsamen Laut von sich, der wie ein tiefes Knurren klang, bevor er sagte: »Jeder Blick in Gesicht von Ailing war großer Schmerz. Jedes Wort aus lieblichem Mund von Ailing war wie schwerer Eimer, der wird herabgelassen in Wus Brust und nimmt Licht aus Brunnen seines Herzens, bis nur noch Dunkelheit da ist.«

»Das kenne ich«, erwiderte Van Leeuwen. Er rannte die Straße entlang, zur Ecke, denn er sah den Bus zum Zentrum, der langsam um die Ecke bog und auf die Haltestelle zusteuerte. Seine verletzte Hand begann wieder zu schmerzen, kaum dass er rannte. Die Sonne stand schon tief über den Häusern, sie schien ihm ins Gesicht und blendete ihn. Am Himmel trieben hohe Böen graue Wolken heran, denen Krähen mit verlorenen Schreien entgegenstiegen; die Luft roch kalt, weil es jetzt wirklich Winter wurde.

Van Leeuwen keuchte, als er den Bus erreichte, und er hielt noch immer das Handy ans Ohr. Er warf sich mit der Schulter gegen die Tür, weil der Bus gerade anfahren wollte, und brüllte: »Politie! Aufmachen, los!« Der Fahrer öffnete die Tür. Van Leeuwen rief: »Polizei! Commissaris van Leeuwen!« Und dann stand er in dem voll besetzten Bus und redete weiter mit Zheng Wu, der nicht mehr antwortete, sagte: »Ich bin gleich bei Ihnen«, sagte: »Bleiben Sie, wo Sie sind«, und sagte immer wieder: »Wir reden über alles, ich weiß, ich weiß«, weil er unbestreitbar wusste, was Wu fühlte.

Schließlich brach die Verbindung ab, und Van Leeuwen rief das Wijkteam in der Warmoesstraat an, damit sofort ein Beamter zur Wohnung des Chinesen geschickt wurde. Dann versuchte er, Zheng Wu zurückzurufen, aber in der Wohnung ging niemand ans Telefon. Als er endlich vor dem Haus am Zeedijk eintraf, raste sein Herz, als wäre er die ganze Strecke gerannt. Der uniformierte agent, den das zuständige Revier hergeschickt hatte, begrüßte ihn mit einem Schulterzucken und meinte: »Macht nicht auf, scheint niemand da zu sein!« Der Commissaris schob den jungen Polizisten beiseite und stürzte ins Haus. Er stürmte die Treppe hinauf, hämmerte mit der Faust gegen die Tür und rief: »Mijnheer Wu! Mijnheer Wu, machen Sie auf – Commissaris van Leeuwen hier!«

Eine Minute verging, dann noch eine. Van Leeuwen klopfte erneut und wartete auf das Geräusch von Zheng Wus Rollstuhl. Stattdessen hörte er wieder die schrille Musik aus der Wohnung weiter oben, die Schellen, Cymbeln und Flöten, und endlich einen Riegel, der zurückgeschoben wurde, nur Zentimeter von dem Ohr entfernt, das er gegen die Türfüllung presste. Die Tür ging auf, und dahinter saß der Chinese, lautlos herangerollt, und sagte: »Bitte, kommen in Wohnung.«

Zheng Wu trug seinen schwarzen Anzug, ein weißes T-Shirt und die Turnschuhe mit den roten und gelben Flammen an den Seiten. Seine Haare waren jetzt so lang, dass sie fast die Ohren bedeckten. Der Commissaris betrat die Wohnung, schob sich an dem Chinesen vorbei durch den Gang, und als er den kleinen Wohnraum erreichte, lag Ailing Wu in einem schlichen jadegrünen Seidenkleid auf dem nackten Boden vor dem Bett. Ihre Augen waren geschlossen, die Lippen leicht geöffnet. Um ihren Hals war ein orangefarbener Schal geschlungen, so eng, dass es aussah, als gäbe es weder Haut noch Fleisch zwischen Stoff und Nackenwirbeln. Der dünne Strahl verblassenden Sonnenlichts, der durch das winzige Fenster auf ihre flache Brust fiel, kam Van Leeuwen wie ein Leitstrahl des Himmels für ihre Seele vor.

Der Commissaris stand da und sah auf die junge Frau hinab, so wie er auf Jacobszoon hinabgesehen hatte und davor auf Van der Meer und noch vorher auf Muriel Brautigam und ganz am Anfang auf Gerrit Zuiker und Jun Wu, und das waren nur die Toten der letzten Wochen, nur die dieser letzten Herbsttage.

Sie wäre nicht hier, wenn wir sie nicht hergeholt hätten, dachte er; und sie läge nicht da, wenn ich mich weiter um sie gekümmert hätte. Dann dachte er, was er schon einmal gedacht hatte: Ich kann doch nicht noch in die Wohnungen gehen.

Er hörte den Rollstuhl und kurz darauf, wie Zheng Wu sagte: »Ailing sehr unglücklich, weil sie Wu gemacht hat zu Mann ohne Gesicht und sein Herz zu leerem Brunnen. Sie hat Wu gebeten, nehmen ihr Leben. Sie versteht, es war nicht möglich zu vergeben. Ailing und Cousin Jun, Wu hat sie immer vor sich gesehen, sie weiß das. Sie weiß, Wu kann ihr nicht mehr vertrauen, nie mehr! Sie verstehen das, Sie haben gleiche Erfahrung.«

Van Leeuwen hörte den Chinesen hinter sich reden, mit leiser, monotoner Stimme, aber die Worte bedeuteten ihm nichts; es war, als hörte er dem Sand in einer Eieruhr beim Verrinnen zu. Er schüttelte den Kopf wie ein Stier in einer Arena, der die banderillas in seinen Flanken abschütteln will. »Nein, ich verstehe ganz und gar nicht«, rief er, »und ich habe auch nicht die gleiche Erfahrung!« Seine Stimmbänder bebten vor Empörung. »Ailing hat Sie doch gar nicht betrogen. Sie hat gelogen – gelogen! –, um Ihnen vor Gericht zu helfen!«

Zheng Wu presste die Lippen zusammen. Er gab einen weiteren knurrenden Laut von sich. »Alle denken, es kein Lüge, sondern Wahrheit. Dass sie hat getan, statt nicht getan. Alle sehen Wu an und denken: Das ist Zheng Wu, den seine Frau hat betrogen mit Cousin. Ich sehe in ihre Augen, sehe meine Schmach und Schande!«

»Ist das die jahrtausendealte Weisheit Chinas – Scham und Schande, verlorene Ehre, verlorene Gesichter?!«, brüllte Van Leeuwen; er fand den inneren Knopf nicht, mit dem er seine Lautstärke regulieren konnte. »Ailing hat Sie geliebt, und Sie haben sie geliebt, und trotzdem töten Sie sie! Dabei hat sie Sie nicht mal betrogen! Aber meine Frau – meine Frau musste sterben, obwohl ich wollte, dass sie lebt und bei mir ist …!«

»Ja«, sagte der Chinese, »ja, Zheng Wu weiß und bedauert neue Unannehmlichkeiten für Commissaris.« Seine Augen waren flach wie schwarze Nagelköpfe, die sein ausgemergeltes Gesicht am Schädel festhielten. Zwei scharfe Linien zogen sich um seinen Mund und die dunklen, wie in die olivgelbe Haut gebrannten Nasenlöcher.

»Sie wissen gar nichts, Mijnheer Wu!« Der Commissaris hätte ihn am liebsten aus seinem Rollstuhl gezogen und geschüttelt. »Warum sind Sie nicht woandershin ausgewandert – nach Amerika, beispielsweise? Warum mussten Sie zu uns kommen? Haben Sie nie davon gehört, was da steht – im Hafen von New York – auf dem Sockel der Freiheitsstatue – über Menschen wie Sie!? Schickt uns eure Müden und Armen, steht da, das armselige Strandgut eurer überfüllten Küsten, schickt uns die Heimatlosen, die vom Sturm Gebeutelten.«

Sein Blick kehrte zu der erdrosselten jungen Frau auf dem Boden zurück. »Aber schickt uns bloß nicht eure Mörder«, fuhr er leiser fort, »die nicht! Die schickt ihr besser nach Amsterdam …«

Danach sagte er nichts mehr. Er setzte sich auf das Bett, vor dem Ailing lag. Er sah den Chinesen an, und der Chinese sah ihn an, bis sie einander in der Dunkelheit nicht mehr erkennen konnten. Van Leeuwen dachte an Sim und daran, dass er weder Scham noch Schande verspürt hatte. Wenn überhaupt, dann war ihre Affäre eine Wunde gewesen, und selbst diese Wunde war nichts im Vergleich zu der, die Sims Tod in seinem Leben hinterlassen hatte.

Aber eines Tages würde auch diese Wunde anfangen, sich zu schließen, wie alle Wunden, und nichts würde mehr an sie erinnern außer einer unsichtbaren Narbe auf seiner Seele. Unter dieser Narbe verschlossen läge dann alles, was ihre Liebe so innig und so tief gemacht hatte, Zärtlichkeit und Leid und Lust und Zufriedenheit, die schönen Tage und die schlechten. Hin und wieder würde er mit dem Finger der Erinnerung darüberstreichen und daran denken, was sie verursacht hatte, aber der Schmerz würde nicht wiederkehren und ebenso wenig das Glück, aus dem er mit dieser Wunde vertrieben worden war.

So wird es sein, dachte er, und damit musst du dann leben. Nach einiger Zeit, in der weder der Chinese noch er gesprochen hatten, nahm er sein Handy und rief einen Streifenwagen.