25
Zheng Wu schwieg. Er saß mit dem Rücken an die Zellenwand gelehnt, die nutzlosen Beine hingen über die Kante der Pritsche. Er trug einen grauen Schlafanzug mit schwarzen Knöpfen, und sein Haar war jetzt ein wenig länger. Er sah den Commissaris an, aber sogar seine Augen schwiegen. Das Licht, das kalt von der Decke fiel, ließ ihn alt und bitter wirken.
Der Commissaris stand am Fußende der Pritsche und schwieg ebenfalls. Es gab keine weitere Sitzgelegenheit in der Zelle außer Zheng Wus Rollstuhl, der zusammengeklappt an der Wand lehnte, gleich neben der Kloschüssel aus Edelstahl. Ein kleiner Tisch mit ein paar Büchern darauf hätte noch Platz gefunden, vielleicht sogar ein Fernsehapparat, doch auch die gab es nicht. Der Boden war so nackt wie die Wände; die einzige Ausnahme bildete das Foto von Ailing, das in Wus Wohnung auf der Kommode gestanden hatte.
Der Commissaris sah auf den Chinesen hinunter. Er hatte die Hände in den Taschen seines Trenchcoats vergraben. Jetzt zog er sie heraus, öffnete den Gürtel und knöpfte den Mantel auf. Er ging zu dem Rollstuhl und klappte ihn auseinander. Er setzte sich hinein, mit dem Gesicht zur Pritsche, und betrachtete den Chinesen noch einen Moment lang wortlos, dann wanderte sein Blick zu dem Foto von Ailing, ehe er sagte: »Was Sie noch nicht wissen, Mijnheer Wu – auch ich hatte eine Frau, die ich sehr geliebt habe.« Sein Blick kehrte zu Wu zurück. »Ihr Name war Simone, aber ich habe sie immer Sim genannt. Sie ist vor einigen Monaten gestorben.«
Der Chinese presste die Lippen so fest aufeinander, dass sie alle Farbe verloren. Er verschränkte die Arme vor der Brust, die Hände waren zu Fäusten geballt.
Van Leeuwen fuhr fort: »Bevor sie starb, ist sie sehr krank geworden. Es war eine schwere Krankheit, die lange gedauert hat, so lange, dass sie mir wie eine Ewigkeit vorkam. Sim, meine Frau, hat nämlich nach und nach alles vergessen – wer sie war, wer ich war, ihr ganzes Leben und mein ganzes Leben dazu. Ich war der Einzige, der noch wusste, wie wir uns begegnet waren und dass wir uns ineinander verliebt hatten und warum wir uns nach über dreißig Jahren noch immer liebten. Sie wusste ja nicht einmal, dass sie krank war. Aber auch ich wusste nicht alles. Ich hatte nämlich in den ganzen Jahren nie eine andere Frau gehabt, ich bin Sim immer treu gewesen. Sogar als sie krank und ein wenig unansehnlich geworden war, habe ich mich darauf konzentriert, vor allem uns beide zu bewahren, unser Leben, die Reste von Glück, die noch nicht in der Erinnerung geschmolzen waren. Und weil das so war, dachte ich, dass auch sie mir immer treu geblieben wäre.«
Van Leeuwen sah, dass Zheng Wus Haltung sich lockerte. »Ich hatte mich nie gefragt, ob ich ihr vertrauen könnte; ich tat es einfach, so wie sie mir vertrauen konnte. Aber eines Tages, als ich einen alten Koffer öffnete, fand ich darin die Briefe. Es waren Briefe, die ihr ein anderer Mann geschrieben hatte, ein Liebhaber. Schreckliche Briefe, in denen eine Frau vorkam, die ich gar nicht kannte und mit der ich doch verheiratet gewesen war und die es fertiggebracht hatte, zwei Männer zu lieben, wenn auch wohl nicht auf dieselbe Weise. Zu dem Zeitpunkt, als ich die Briefe fand, lebte sie noch, aber sie war schon krank und konnte sich nicht mehr erinnern.«
Der Chinese beugte sich vor; seine Fäuste waren jetzt geöffnet und lagen auf der Decke über seinen Oberschenkeln.
»Sie konnte sich nicht mehr erinnern«, wiederholte Van Leeuwen. »Ich wollte sie fragen, wer der Mann war, warum sie es getan hatte oder was es ihr bedeutete. Ich wollte sie fragen, was ihr bei mir gefehlt hatte, wie es dazu gekommen war. Ich hatte tausend Fragen, aber stellen konnte ich ihr keine einzige, denn sie wusste ja nichts mehr davon. Sie wusste nicht, wer ich war oder sie selbst oder dieser Sandro! Sie hatte mir so wehgetan, dass ich sie anschreien wollte, aber sie hätte nicht gewusst, warum. Ich habe sie trotzdem angebrüllt, weil es einfach gut getan hat. Aber eins weiß ich, Mijnheer Wu – ich weiß, was Eifersucht ist. Ich weiß, wie es sich anfühlt, wenn man völlig ohnmächtig ist.«
Wus Lippen zuckten. »Sie haben Ihre Frau vertraut«, sagte er plötzlich. »Warum?«
Warum?, dachte Van Leeuwen – warum, das geht dich nicht das Geringste an, mein chinesischer Freund! Stattdessen antwortete er: »Weil sie bereit war, mir zu vertrauen.« Sie hat mir immer vertraut, selbst als sie wusste, dass mein Vertrauen in sie nicht mehr gerechtfertigt war. »Einmal, ganz am Anfang, wachte ich mitten in der Nacht auf und sah sie neben mir schlafen. Sie lag auf dem Rücken und hatte die Arme über den Kopf geworfen, und ich weiß noch, dass ich sie angesehen und gedacht habe: Wer schläft so? Was war das für eine Frau, die so schlief – schutzlos, unverhüllt … Hatte sie keine Angst? Wie konnte sich jemand so preisgeben? War sie so furchtlos, so sicher? Und da, auf einmal, wurde mir klar, dass sie mir vertraute. Deswegen habe ich ihr vertraut.«
»Das sehr traurig«, meinte Zheng Wu. »Ein sehr traurige Geschichte.«
Van Leeuwen nickte. »Ich erzähle sie Ihnen, weil ich weiß, was in Ihnen vorgegangen ist, als Sie die Briefe Ihrer Frau erhalten haben, Mijnheer Wu. Und dabei hat Ihre Frau Sie nicht einmal betrogen. Sie ist Ihnen treu geblieben.«
»Ich weiß«, sagte Zheng Wu.
»Wenn Sie das wissen, warum haben Sie Ihren Cousin dann getötet?«, fragte der Commissaris.
»Früher oder später ihr Widerstand wäre ein wenig schwächer geworden«, antwortete Zheng Wu, »und dann noch ein wenig schwächer und schwächer, und am Ende Cousin Jun hätte sie nur noch pflücken brauchen wie reife Kirsche. Deswegen. Deswegen er musste sterben, bevor er pflücken konnte. Bevor sie entehrt für immer.«
Van Leeuwen rollte mit dem Stuhl auf die Pritsche zu. »Wie können Sie so sicher sein, dass Ailing ihm nicht doch widerstanden hätte?«
Der Chinese beugte sich vor. »Weil sie ein Frau ist. Ein Frau ist hilflos, wenn der Verführer sich nähert wie die Schlange. Sie Scham und Schande über sich und mich gebracht, so wie Ihr Frau Scham und Schande über sich und Sie gebracht.«
»Das hat sie nicht!«, widersprach Van Leeuwen heftig.
»Scham und Schande«, wiederholte Wu mit feuchten Lippen, »selbst wenn nur so ausgesehen hätte als ob. Selbst dann wäre mein Gesicht verloren, ja!« Jetzt wirkte er nicht mehr alt und bitter, sondern bis aufs Äußerste erregt. »Dieser Mann – haben Sie ihn gesucht und Ihr Ehre wiederhergestellt?«
»Gesucht ja, aber nicht gefunden«, gestand der Commissaris.
»Sie kannten seinen Namen nicht, ja? Die Briefe waren ohne Absender?«
»Und Sie haben nicht weitergesucht?«
»Er lebt in einem anderen Land.«
»Cousin Wu lebte auch in anderem Land. Sie haben Beine. Warum gehen Sie nicht in Land und töten Mann?«
»Ich glaube nicht, dass ich ihn überhaupt töten möchte«, antwortete Van Leeuwen. »Höchstens mit ihm reden, vielleicht.«
Der Chinese betrachtete ihn ungläubig. Er hob eine Hand und ließ sie wieder sinken, als wären angesichts so beschämender Kleinmütigkeit jede Geste und jedes weitere Wort gänzlich sinnlos. »So«, sagte er bedauernd, »so.«
Einen Moment lang schwiegen beide und sahen sich nur an. Dann fragte der Commissaris: »Was stand in dem Brief, den Sie Ihrem Cousin geschrieben haben, Mijnheer Wu?«
»Wer sagt, dass ich geschrieben habe?«
»Ailing Wu«, erklärte der Commissaris. »Ihre Frau hat das gesagt.«
»Und wann soll sie gesagt haben?«
Der Commissaris legte die letzte Karte auf den Tisch, das Ende der Straße. »Heute Nachmittag, als ich sie vom Flughafen abgeholt habe. Willkommen in Amsterdam.«
Zheng Wus Stimme zitterte. »Ailing ist hier? In Amsterdam?«
Der Commissaris nickte.
»Aber – wann kann ich sehen?«
Der Commissaris seufzte. »Ach, Mijnheer Wu, wenn es nur von mir abhinge, sofort.«
»Wovon hängt denn noch ab?«
»Von Ihnen, Mijnheer Wu. Ailing wird Licht in Ihr Dunkel bringen, wenn Sie Licht in mein Dunkel bringen. Also, noch einmal: Was haben Sie Cousin Wu geschrieben?«
Zheng Wu schloss die Augen, und als er sie nach einer Weile wieder öffnete, hatte ihr Ausdruck sich verändert; sie schienen durchlässiger geworden zu sein. »Ailing schreibt mir viele Briefe«, meinte er endlich. »Sie schreibt von Sehnsucht, aber auch von Cousin Wu, der meine Abwesenheit ausnutzt ohne Zögern. Mit jedem Tag und jedem Brief wächst mein Angst, und meine – wie sagt man – Qualen werden größer mit jede Stunde. Diese Scham, diese Schande … Ich sehe sie vor mir. Ich sehe, wie meine zarte Ailing langsam ihr Widerstandskraft verliert, so deutlich, wie wenn geschieht genau vor meine Augen. Meine Beine fangen an zu zittern, und ich muss hinsetzen, aber ich sehe es immer noch, immer deutlicher. Ich sitze auf mein Bett, so wie ich jetzt hier, und spüre, wie ich mein Gesicht verliere. Auch wenn nur ich, Ailing und Jun davon wissen und keiner von uns je einem anderen davon erzählt, bin ich entehrt und gibt nur ein Weg, mein Ehre wiederherzustellen. Ich muss Ailing verstoßen, und Jun muss sterben. Als ich wieder aufstehen will, meine Beine gehorchen nicht mehr.«
Wu schlug sich mit den Fäusten auf die Oberschenkel, und die Füße wippten wie die einer Marionette. »Ich kann nicht nach Hause reisen, um ihn zu töten, und ich kann auch niemand in Fengdu bitten, es an mein Stelle zu tun, denn darf ja niemand wissen, was geschehen ist!«
»Deswegen haben Sie Ihren Cousin hierher gelockt«, stellte der Commissaris fest.
»Es war ganz leicht.« Zheng Wu fletschte seine gelblichen Zähne zu einem Grinsen, das wie in eine Kürbisschale geschnitzt wirkte. »Ich schreibe Jun, hier liegt das Geld auf der Straße, man muss sich nur bücken und aufheben. Ich schreibe, ich bin schon nach kurze Zeit reich, sehr reich, und auch er kann hier schnell – wie sagt man? – ein Vermögen machen, ja? Jun ist faul und dumm, und alles, was ich habe, will er auch haben, und so muss ich ihn nicht lange überreden. Er fragt nicht einmal, warum ich Ailing nicht zu mir hole, wenn ich bin so reich. Er leiht sich Geld so wie ich, um zu kommen, und als er hier ist, bitte ich ihn, mir mit Schnursenkel behilflich sein, und dann ich töte ihn, wie er vor mir kniet. Geht sehr schnell.« Er schien sich in Gedanken an die Geschwindigkeit des Todes zu verlieren. »Sie müssen wissen, dass Fengdu bedeutet Stadt der Geister. Unser Glaube sagt, hier kommen Tote vorbei, wenn in Jenseits gehen – Pforten von Hölle …«
Schnürsenkel, dachte Van Leeuwen; es heißt Schnürsenkel. Erst in diesem Moment fiel ihm auf, wie still es um ihn herum war, auf dem Gang, in den anderen Zellen. Er hörte keinen Laut, jetzt, da Zheng Wu schwieg, nur das Klopfen seines eigenen Herzens.