8
Cousin Wus Brust stand offen, und die Lungenflügel spreizten sich zu beiden Seiten des Herzens wie die blattlosen Ranken von wildem Efeu. Die blutleeren Adern bildeten mit den Verästelungen der Luftröhre ein bläulich graues Dickicht aus Gefäßen, Nerven und Muskeln, das dicht über dem Nabel zu wurzeln schien. Reste von Blut glitzerten feucht im grellen Licht der OP-Lampe über dem Seziertisch. Die Arterien waren nicht mehr blau und die Venen nicht mehr rot, und das Herz wirkte klein und eingefallen. Man konnte fast sehen, dass die Seele schon irgendwo anders hingezogen war.
In der Luft hing der süßliche Fäulnisgeruch, der jede Leiche umgab, der Geruch von zersetztem Fleisch, von Fäkalien und Urin, und trotz der auf Hochtouren laufenden Klimaanlage war er so stark, dass der Commissaris einen Anflug von Unruhe im Magen spürte, ein Aufbegehren. Er dachte an Menthol, an eine Rose in voller Blüte. Es gab Kollegen, die Leichen nur noch mit den Augen wahrnahmen. Sie konnten keinen Urin mehr riechen, keine Ausscheidungen, egal, welcher Art; ihr Gehirn verweigerte sich dem Geruch des Todes.
Doktor Holthuysen deutete auf das Mikrofon über dem Seziertisch und fragte: »Soll ich Ihnen das Band mit dem Leichenöffnungsprotokoll vorspielen?«
»Eine Zusammenfassung der wichtigsten Punkte reicht mir«, sagte der Commissaris. »Auf die Finessen freue ich mich dann in Ihrem schriftlichen Bericht.«
Der Pathologe nickte, als hätte er in der Tat einige raffinierte Kostbarkeiten forensischer Natur vorbereitet, deren wahrer Wert erst auf dem Untergrund weißen Papiers oder im Rahmen eines Computerbildschirms zur Geltung kam. Er hielt die Hände in den grünen Latexhandschuhen abgewinkelt, damit die blutbedeckten Fingerkuppen nicht mit dem offenen Kittel, dem karierten Hemd oder der ausgebeulten Cordhose darunter in Berührung kamen. Die Farbe des Blutes passte nicht ganz zum rötlichen Hennaton seiner Haare, und die Haltung der Hände erinnerte den Commissaris an die Darstellung des Gottessohnes auf den bunten Votivbildern aus seiner Messdienerzeit.
»Also dann«, begann der Pathologe, »Name: Jun Wu, gefunden in der Wohnung von Zheng Wu am Zeedijk einhundertsiebzehn von Mijnheer Bruno van Leeuwen, Commissaris der Kriminalpolizei Amsterdam-Amstelland. Eintritt des Todes: gestern zwischen siebzehn und achtzehn Uhr. Offizielle Todesursache: Tod durch akuten Sauerstoffmangel infolge Erdrosselns mit einer Drahtschlinge. Die Drosselmarke befindet sich oberhalb des Kehlkopfes und lässt darauf schließen, dass der Täter das Drosselwerkzeug nur ein Mal um den Hals des Opfers gelegt hat. Im Nacken findet sich eine freie Stelle, keine Zwischenkammblutung. Zustand der Leiche: gut.« Er gab ein glucksendes Geräusch von sich. »Der Tote war siebenunddreißig Jahre alt und wog sechzig Kilogramm. Durchgeführt wurde die normale Autopsie – eine toxikologische Untersuchung, die feingewebliche Analyse und die obligatorische Drei-Höhlen-Obduktion, das heißt, ich habe mir Bauch, Brustkorb und Kopf angeschaut.« Er unterbrach sich, um erklärend zu ergänzen: »Tod durch Sauerstoffmangel bezeichnen wir als Ersticken, das sind alle Todesarten, bei denen innere Organe, insbesondere das Gehirn, ihren Dienst versagen, weil ihnen kein Sauerstoff mehr zugeführt wird. Nach mindestens zwanzig Sekunden und höchstens zehn Minuten erstickt dann jeder, weil die Hirnzellen irreparabel geschädigt sind.«
Holthuysen begleitete seine Worte mit ausgreifenden Bögen, die er schwungvoll in die Luft zeichnete, wobei das feuchte Blut an den Fingerkuppen im blassen Licht der Leichenhalle feurige Leuchtspuren hinterließ. Anders als der Jesus Christus auf den Heiligenbildchen aus Van Leeuwens Jugend hatte er ein gerötetes, von verborgenen Leidenschaften und ihrer lustvollen Befriedigung gezeichnetes Gesicht. Zahllose Sommersprossen bedeckten die von geplatzten Äderchen durchzogene, runzelige Haut, und das Haar kräuselte sich hinter den Ohren und im Nacken, wo es über den Hemdkragen bis auf den weißen Kittel reichte. Die kleinen, traurigen Augen schienen sich desillusioniert tief in ihre Höhlen zurückgezogen zu haben. Über den schmalen Brauen wölbte sich eine Stirn, die Van Leeuwen bei jeder Begegnung höher vorkam, als müsste dahinter von Mal zu Mal mehr Raum für das schreckliche Gedränge der Leichen geschaffen werden, die statt in Särgen und Gräbern in seinem Kopf ihre letzte Ruhestätte gefunden hatten.
»Sehen Sie, die Lungenflügel sind fast luftkissenartig gebläht, und da, da und da haben wir auch die unvermeidlichen subpleuralen Flecken, wo aufgrund der massiven Lungenerweiterung beim Tod die Kapillaren zerrissen sind«, erklärte der Pathologe und deutete nacheinander auf mehrere Stellen unter dem zurückgeklappten Lungenfell im ypsilonförmig aufgeschnittenen Brustkorb des jungen Chinesen. »Stauung und Zyanose des Gesichts sind ein typisches Zeichen für asphyktisches Ersticken, ebenso die Anämie der Milz, der Leber und der Niere.«
»Die kleinen roten Punkte unter den Augen …«
»Geplatzte Äderchen, ausgelöst durch den Blutstau im Gehirn«, kommentierte Holthuysen. »Weitere Stauungszeichen können Sie an den Bindehäuten und der Rachenschleimhaut erkennen. Am Hals finden sich Hämatome und Ecoriationen, ein klassisches Indiz für Tötung durch Erdrosseln. Außerdem liegt eine Fraktur der Trachea vor, was darauf schließen lässt, dass der Täter die Schlinge schnell und mit großem Kraftaufwand zugezogen hat. Stumpfe Gewalt wurde in diesem Fall nicht angewandt.«
Der Commissaris versuchte, sich vorzustellen, wie Zheng Wu seinen Cousin erdrosselte: Er sah Jun vor dem Rollstuhl knien, die Schlinge um Hals und Nacken geschlungen; sah sein schmerzverzerrtes Gesicht mit den weit aufgerissenen Augen, während Zheng hinter ihm die Fäuste mit dem Draht drehte und zog und zog, und wie sein Gesicht dabei fast genauso rot wurde wie das seines sterbenden Cousins.
Unterdessen setzte Doktor Holthuysen zu einem kleinen Divertimento an. »Es gibt vier Mechanismen, die den tödlichen Mangel an Sauerstoff bewirken können: A – die Halsweichteile werden zusammengedrückt und die Schlagadern verschlossen; B – der Zungengrund oder der gequetschte Kehlkopf drücken die Atemwege nach oben, die Atmung wird also mechanisch verhindert; C – der Genickbruch mit Quetschung des oberen Halsmarks, der sogenannten hangman’s fracture, und D – der Reflextod, bei dem die Nervenknoten seitlich am Hals geschädigt werden. In all diesen Fällen lässt sich Fremdeinwirken anhand der Spuren einigermaßen leicht nachweisen. So auch bei der Tötung von Jun Wu«, Ende der Variation und Rückkehr zum Thema, »in dem die Kompression des Halses durch ein Werkzeug – in unserem Fall eine Drahtschlinge – vorliegt. Durch den Druck werden die beiden wichtigsten Arterien, die im Hals verlaufen, und die weiter innen liegenden Venen abgeschnürt. Dazu ist es nicht einmal nötig, dass der Draht, Strick oder Gürtel den Hals vollständig umschließt.«
Der Commissaris verdrängte das Bild des sterbend vor seinem Cousin knienden Chinesen. Er rieb die Hände gegeneinander, denn die Temperatur in dem klimatisierten Sektionssaal war niedrig genug, um tiefgefrorene Rinderhälften vor dem Auftauen zu bewahren. Dann warf er einen letzten Blick in Jun Wus offenen Brustkorb und auf die verschlüsselten Botschaften, die Wus Innereien für Doktor Holthuysen enthielten.
»Aber kommen wir jetzt vom allseits bekannten Prototyp gewaltsam herbeigeführten Sauerstoffmangels zu der neuen, verbesserten Version mit weniger Zucker und mehr Geschmack«, verkündete der Pathologe heiter und wandte sich der zweiten Leiche einen Tisch weiter zu, wobei die Gummisohlen seiner Turnschuhe ein quietschendes Geräusch verursachten. Er beugte sich über Gerrit Zuiker, dessen Brustkorb ebenfalls erst kürzlich nach dem klassischen Y-Schnittmuster geöffnet worden war. »Die Karosserie dieses Modells weist Prellungen im Bereich der Schläfe, des Nasenrückens und des linken Wangenknochens auf, wahrscheinlich infolge von Faustschlägen, außerdem kleine Schnittwunden an Fingern und Handtellern. Wovon die herrühren, weiß ich noch nicht …«
»Von Scherben«, erklärte der Commissaris. »Von Splittern eines zerbrochenen Spiegels.«
»Sieh an, das alte Sprichwort stimmt also«, stellte der Doktor fest. »Aber daran ist er nicht gestorben. Überhaupt deutet zunächst überhaupt nichts auf einen gewaltsamen Tod hin. Vor allem gibt es keinerlei Hinweise auf eine wie auch immer geartete Strangulation – keine Fingerabdrücke am Hals oder im Nacken, keine Faserspuren, keine Würgemale von einem Strick oder Draht, keine inneren Verletzungen im Bereich der Luftröhre oder der anderen Atemwege. Auch keine Zyanose im Gesicht, kein Schaumpilz in der Lunge. Kein, kein, kein, kein – es handelt sich also um die typische Ausschlussdiagnose. Selbst die Autopsie ergab zunächst nicht den geringsten Verdacht, denn wenn man nicht gezielt danach sucht, ist Tod durch Ersticken ohne diese äußeren Anzeichen bei einer routinemäßigen Untersuchung kaum festzustellen. Manchmal gibt es petechiale Blutungen, die aber auch bei anderen – natürlichen – Todesarten vorkommen, etwa dem Plötzlichen Kindstod, und wenn es keine Druckstellen im Gesicht oder Einblutungen der Lippen gibt, die auf den gewaltsamen Verschluss von Mund und Nase durch ein Kissen oder die Hand schließen lassen, ist die ganze Sache ein mühsames Geschäft. Hätten Sie nicht verlangt, dass man auch in diesem Fall wie bei einer Mordermittlung vorgeht – und ohne das heute Morgen gelieferte chinesische Importmodell mit geradezu lehrbuchmäßig ausgeprägten Spuren von akutem Sauerstoffmangel im Gehirn –, wäre ich wahrscheinlich nicht so schnell auf gezieltes Fremdeinwirken gekommen.«
»Gebeten«, warf der Commissaris ein, »ich habe darum gebeten, es aber nicht verlangt.« Er spürte, wie sein Herz leichter wurde.
Holthuysen fragte: »Wie sind Sie eigentlich auf den Gedanken gekommen – dass es sich um Mord gehandelt haben muss, meine ich?«
»Ich dachte, es müsste einen Grund gehabt haben, dass gerade ich ihn gefunden habe, so kurz nach seinem Tod.«
Der Pathologe sah ihn an, als könnte er nicht glauben, was Van Leeuwen gerade gesagt hatte. Der Commissaris lächelte fast. Sein Herz war jetzt ganz leicht: Sein Instinkt hatte ihn nicht getrogen, und er musste nicht mehr befürchten, dass er durch Simones Tod völlig aus der Bahn geworfen worden war. Du bist immer noch ein guter Polizist. »Es handelt sich also tatsächlich um Mord«, stellte er fest.
»Tötung durch Ersticken«, bestätigte Holthuysen und vollführte eine weitere ausgreifende Bewegung mit seinen blutigen Leuchtspurhänden. »Meine Theorie ist: Jemand hat ihm eine Plastiktüte über den Kopf gestülpt und so lange festgehalten, bis er keine Luft mehr bekommen hat.«
Der Commissaris betrachtete Zuikers weißlich graues Gesicht und stellte es sich mit einer Plastiktüte darüber vor. »Kann er das auch selbst gemacht haben?«
»Theoretisch ja, ich halte es allerdings für unwahrscheinlich. Wer auf solche Weise Selbstmord begehen will, marschiert im Allgemeinen nicht in eine derart belebte Gegend, wo er jederzeit gestört werden kann, nicht wahr?«
»Wohingegen jemand, der auf solche Weise einen Mord begehen will«, sagte der Commissaris, »gerne mal eine derart belebte Gegend als Schauplatz für sein Verbrechen wählt. Verstehe ich Sie da richtig?«
»Die Motive und Vorgehensweisen eines Mörders sind ein weites Feld, das ich leider Sie allein bestellen lassen muss, Mijnheer.«
Holthuysen zog seine Handschuhe aus und langte nach oben, um die OP-Lampe auszuschalten. Einen Moment lang ließ sein Schatten an der weiß gekachelten Wand ihn wie eine riesige Statue erscheinen, die bis zur Decke reichte – Denkmal des unbekannten Forensikers. Er seufzte und meinte: »Warum bin ich nicht Schönheitschirurg geworden? Ich könnte meinen Patienten von morgens bis abends in den parfümierten Räumen einer luxuriösen Klinik zu klassischer Musik die Brüste vergrößern, das Fett absaugen oder die Nase brechen, und wenn die Narkose nachlässt, würden alle wieder aufwachen, und jeder wäre schöner und glücklicher als vorher. Ich wäre umgeben von dankbaren Gesichtern, deren Schwellungen allmählich zurückgehen, statt sich immer mehr zu zersetzen, und ich könnte unglaublich hohe Rechnungen ausstellen, die an unglaublich reiche Leute gehen. Können Sie mir sagen, warum ich nicht Schönheitschirurg geworden bin?«
»Weil unglaublich reiche Leute ihre Rechnungen immer erst so spät bezahlen«, gab der Commissaris zurück.
»Die Rechnungen bezahlen sie überhaupt nicht, erst die Mahnungen«, sagte der Pathologe. »Und da, wo Skalpell und Spritzen nicht hinreichen, bleiben sie so hässlich wie die Methoden, mit denen sie ihr Geld gemacht haben. Aber trotzdem – diese Posten! Alles hätte einen Preis. Stellen Sie sich vor«, er deutete auf Jun Wu und auf Gerrit Zuiker, »an all das könnte man ein Preisschild hängen! Man könnte es addieren und jemand die Rechnung schicken.«
»Es hängt schon ein Preisschild dran«, sagte Van Leeuwen, »und jemand wird die Rechnung bekommen.« Er wandte sich von dem Edelstahltisch ab und ging zur Tür. Kurz bevor er sie erreicht hatte, blieb er stehen und drehte sich noch einmal um. »Warum hat er sich nicht stärker gewehrt? Warum ist er nicht weggelaufen?«
Holthuysen gluckste wieder, als hätte er gerade einen weiteren Posten entdeckt, den er auf seine Rechnung setzen könnte. »Wir Forensiker unterscheiden zwischen dem hypoxischen Ersticken, bei dem der Sterbende noch ausatmen kann, und dem bereits eingangs erwähnten asphyktischen – pulslosen – Ersticken, bei dem sowohl die Zufuhr von Sauerstoff als auch das Ausatmen verhindert werden. Das beim asphyktischen Ersticken nicht ausgeatmete Kohlendioxid drückt auf das Atemzentrum, was zu hochschnellender Atemfrequenz, beschleunigtem Herzschlag und erhöhtem Blutdruck führt. Bevor er das Bewusstsein verliert, hat der Sterbende das Gefühl, keine Luft mehr zu kriegen, und leidet unter Todesangst. Dieses Phänomen liegt bei unserem chinesischen Importmodell hier vor.«
Er deutete auf Cousin Wu, ehe er den ausgestreckten Zeigefinger zu dem im Schatten der ausgeschalteten OP-Lampe liegenden Gerrit Zuiker wandern ließ. »Bei diesem da, gefertigt und zugelassen in Holland, handelte es sich um die hypoxische Variante, bei der ein Sterbender nicht das Gefühl hat zu ersticken – im Gegenteil: Er verspürt ein Hochgefühl, eine Art Euphorie. Das heißt, er kommt gar nicht auf die Idee, sich zu wehren oder zu fliehen, weil er den Sauerstoffmangel nicht als bedrohlich empfindet. Und wenn die Sauerstoffzufuhr nachhaltig genug unterbrochen wird, ist man in knapp zehn Sekunden bewusstlos und nicht mehr in der Lage, sich wieder zu befreien.«
»Was bedeutet das im Fall von Mijnheer Zuiker?«, fragte der Commissaris.
Holthuysen strahlte. »Der Mörder wollte ihn vielleicht glücklich sterben lassen.«