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»Während der ganzen Rückfahrt spukte Doktor van der Meer durch meine Gedanken«, erzählte der Commissaris, »er und die Gemälde in seinem Büro und die Frage, an welchen Platz im Puzzle sie gehören. Ich habe die Teile immer wieder betrachtet, aus jedem Blickwinkel, von allen Seiten, und nach einer Verbindung zwischen den toten Kindern von Steenwijk und dem Plastiktütenmörder gesucht. Ich war mir sicher, dass es eine Verbindung gab, es musste eine geben. Aber als wir Amsterdam erreichten, hatte ich immer noch nicht mehr als eine Ahnung, und immer wenn ich mich dieser Ahnung zu nähern versuchte, gelangte ich an diesen scheußlichen kleinen Punkt, an dem ich lieber an etwas anderes dachte.

Ich hatte das Gefühl, von einer Reise in die tiefste Nacht zurückzukehren, einem Horrortrip in die schwärzeste Dunkelheit, und ich freute mich auf die Stadt, auf die von Menschen wimmelnden Straßen, den Lärm, die Touristenboote und die Trambahnen mit ihrem andauernden Klingeln, das immer so ungehalten klingt. Ich freute mich auf die kleinen Plätze und verborgenen Winkel, die malerischen Ecken, deren Geheimnis einzig und allein darin liegt, dass es sie noch gibt. Ich freute mich auf die von Schlingpflanzen überwucherten Kaimauern, die tangbewachsenen Brückenpfeiler, die Kanäle mit ihren plätschernden Wellen, die wir sonst gar nicht mehr hören. Ich freute mich auf alles, auf die schlanken Ulmen und die knorrigen Platanen an den Uferstraßen und die altmodischen, umgebauten Gaslaternen und ihr sanftes Licht. Sogar auf die Möwen, die von morgens bis abends das Kopfsteinpflaster und das schwarze Wasser der Grachten nach Nahrung absuchen, den ganzen Tag, und dabei geben sie dieses komische, quietschende Krächzen von sich wie ein ungeöltes Eisenscharnier.

Ich freute mich auch auf die hohen, schmalen Häuser mit ihren vorspringenden Giebeln, Treppen und Balkonen, fast so, als gehörten sie mir, als wäre ich einer dieser gerissenen, scharf rechnenden Kaufleute, die hinter ihren Fassaden die ganze Welt ausbeuten und immer ausgebeutet haben, um ihre schamlos erworbenen Vermögen weiter zu vergrößern. Ich freute mich auf mein Café an der Ecke, die Coffeeshops überall, die Märkte und Kirchen und, ja, auch auf die violetten Fenster, hinter denen schöne Frauen aus der halben Welt ihre Körper für Geld verkaufen, weil sie weder Schiffe noch Computer oder Privatkanzleien besitzen, aber oft mehr Scham, Herz und Anstand als alle Anwälte, Bankiers und Börsenmakler zusammen.

Ich freute mich, weil die Stadt keine Geheimnisse vor mir hat. Egal, wie glitzernd und farbig die Clubs und Geschäfte sind, wie hoch die Quadratmeterpreise steigen und wie tief die Kriminalitätsrate sinkt, wie viele kleine Krämerläden in Nobelboutiquen mit Designerkleidung und Silberrasseln für das Großstadtbaby von heute und Bitte-Klingeln-Schildern neben der Eingangstür umgewandelt werden – es ist immer noch meine Stadt, ich kenne sie. Jetzt, da meine Frau nicht mehr lebt, ist sie das Einzige, was ich so lange kenne und immer noch liebe. Selbst wenn sie sich ständig verändert, wenn viele alte Handwerksbetriebe weichen müssen, damit diese ganzen von jenseits des Ozeans ferngesteuerten Fast Food Diner, Wok-a-gogo-Schnellküchen und Coffee-to-go-Filialen in den besten Gegenden landen können, und selbst wenn chromblitzende Wellness- und Hair- und Beauty-Salons ganze Viertel entkernen, sie ist ganz anders als das, was ich in den letzten Stunden da draußen in Overijssel gehört hatte; ich kann sie verstehen.

Ich saß in unserem Wagen und sah die Lichter auftauchen und freute mich, obwohl ich wusste, dass ich eigentlich keinen Grund hatte, nicht den geringsten. Ich dachte ja auch an den Mörder, dessen erstes bekanntes Opfer Conrad Mueller gewesen war, und ich dachte, vielleicht ist er eins dieser Lichter. Es war ein komischer Gedanke, weil ich auch dachte: Vielleicht bin ich das andere, das zu ihm gehört. Er hatte denselben Weg genommen: Er hat den Dörfern den Rücken gekehrt und sich durch das halbe Land gemordet, und jetzt ist er hier und tötet weiter. Ich kann ihn fassen, ich denke, dass ich das kann. Aber selbst, wenn es mir gelingt, wenn ich es schaffe, den Fall zu lösen, alle Fragen zu beantworten und die Motive des Täters ans Licht zu bringen, bleibt das größte Geheimnis trotzdem ungeklärt, nämlich: Was nützen die Antworten, wenn sich trotzdem nichts ändert? Wenn die Menschen so sind, wenn die Welt so ist, dass alle diese Dinge geschehen konnten und schon morgen dieselben oder noch schlimmere passieren können? Wenn das, was wir herausfinden, immer etwas ist, mit dem wir hinterher leben müssen, egal, wie unerträglich und grauenhaft es auch sein mag? Das waren so die Gedanken, bei denen mir klar wurde, dass ich eigentlich keinen Grund hatte, mich zu freuen. Aber wissen Sie, was? Ich hab’s trotzdem getan. Ich habe mich gefreut, wieder da zu sein.«

»Was war das für eine Ahnung, die Sie nicht weiterverfolgen wollten?«, fragte Doktor Menardi.

Van Leeuwen antwortete nicht. Sie saßen in seinem Büro, in dem es langsam dunkel wurde, und er zögerte den Moment hinaus, in dem er das Licht einschalten musste. Feline Menardis Gesicht schimmerte matt, ein bisschen wie Kupfer, ihre Zähne waren weiß und die Augen hell und lebhaft. Sie trug eine burgunderrote Nappalederjacke mit hohem, eng abschließendem Kragen und einem überbreiten Reißverschluss, dazu eine beige Leinenhose und teure Wildleder-Sneakers. Er fragte sich, wie alt sie sein mochte; Anfang vierzig vielleicht, dachte er. Ein gutes Alter, in dem man bereits die feineren Gewürze zu schätzen wusste. Sie hatte die Beine übereinandergeschlagen, die Hände lagen im Schoß, und jetzt fragte sie:

»Haben Sie Doktor van der Meer schon auf die Bilder und die damaligen Ereignisse in Overijssel angesprochen?«

»Nein.«

»Warum nicht?«

»Ich weiß noch nicht genug.«

»Genug wofür?«

»Um zu merken, wann er lügt.«

»Glauben Sie denn, dass die toten Kinder irgendetwas mit den Morden zu tun haben, die Sie untersuchen?«

Van Leeuwen nickte. »Der Täter tötet immer an zwei Tagen im Jahr, am sechsundzwanzigsten September und am dritten Oktober. Der Tag, an dem Conrad Mueller das Baby auf Sara Scheffers Balkon fand, war ein dritter Oktober.«

»Und Sie verdächtigen Van der Meer?«

Wieder blieb Van Leeuwen stumm. Sie hakte nicht nach, respektierte sein Schweigen. Stattdessen sagte sie: »Kindstötungen waren bis weit ins neunzehnte Jahrhundert hinein sehr verbreitet, wussten Sie das? Die Zuchthäuser waren voll mit Frauen, die aus Not ihre Neugeborenen getötet haben. Ledige Mütter wurden geächtet, an den Pranger gestellt, mit Füßen getreten, sie waren gesellschaftlich derart isoliert, dass sie ihre Kinder lieber getötet haben.«

Sie saßen in Van Leeuwens Büro und warteten darauf, dass die Besprechung begann, die der Hoofdcommissaris für den frühen Abend angesetzt hatte. Seit der Rückkehr aus Overijssel waren anderthalb Tage vergangen, in denen Van Leeuwen gespürt hatte, dass sich die Atmosphäre veränderte, auf den Gängen des Präsidiums, auf den Straßen der Stadt; die Luft schien dichter zu werden, wie vor einem Gewitter.

Der Commissaris schüttelte den Kopf. »Aber acht Kinder in fünfzehn Jahren, die Leichen in Blumentöpfen auf dem Balkon aufgereiht wie eine Bastion. Dieses Bild werde ich nicht los, genauso wie es dort niemand loswurde. Und das Kind, das der Feuerwehrmann gerettet hat – der Junge, der überlebt hat … Ich frage mich, was er empfunden hat, als er alt genug war, um zu erfahren, was seine Mutter seinen Geschwistern angetan hatte – was sie ihm angetan hatte! Nur noch ein paar Sekunden, und er wäre in der Blumenerde erstickt. Was macht ein solches Erlebnis aus einem Menschen?«

Doktor Menardi berührte langsam ihr linkes Ohrläppchen, eine zarte, seltsam verlegene Geste und wie in Zeitlupe ausgeführt, das einzige Anzeichen für ihre innere Betroffenheit. Diesmal schwieg sie, als käme ihr die naheliegende Antwort zu beliebig vor. Er sah zum Fenster hinüber, vor dem die frühe Dunkelheit aus den Straßen aufstieg wie Rauch.

»Ich glaube, dass in dem Dorf bei Steenwijk sieben Kinder gestorben sind und eins als Mörder wiedergeboren wurde«, sagte er.

»Ist das der Punkt, an dem Sie aufgehört haben weiterzudenken?«, wollte Feline Menardi wissen.

»Ich habe es versucht«, antwortete der Commissaris. »Aber die Gedanken haben sich von selbst weitergedacht.« Er stand auf und fuhr in das Sakko seines Leinenanzugs, das er über die Stuhllehne gehängt hatte. »Was mich nicht loslässt, ist der Umstand, dass sie ungefähr beide gleich alt sind: Conrad Muellers Sohn Roelof und das überlebende Kind von Sara Scheffer.«

»Sie fragen sich, ob die beiden sich wohl je begegnet sind?«

Van Leeuwen nickte. »Ich weiß nicht, wer Sie zur Polizei geholt hat«, meinte er, »aber eine bessere Wahl hätte er nicht treffen können.«

»Danke«, ein schnelles Lächeln, »ich hoffe, Sie ändern Ihre Meinung nicht, wenn Sie hören, dass der Hoofdcommissaris mich auch der Sonderkommission zugeteilt hat, die er gleich vorstellen wird.«

»Was für eine Sonderkommission?«, fragte Van Leeuwen überrascht.

Auf dem Gang streckte eine agentin in Uniform ihren Kopf aus einem der verglasten Büros und fragte: »Mijnheer van Leeuwen, hat man Ihnen eigentlich ausgerichtet, dass während Ihrer Abwesenheit mehrmals jemand von der Presse für Sie angerufen hat? Von einer Zeitung?«

Der Commissaris blieb stehen. »Nein, wer?«

»Ein Mann aus der Redaktion einer Kolumne, Samariter oder so ähnlich. Ich habe ihm erklärt, Sie wären dienstlich auf Reisen und er sollte es nach Ihrer Rückkehr noch mal versuchen.«

»Hat er um Rückruf gebeten?«

»Davon hat er nichts gesagt.«

»Wo ich war, hast du ihm nicht erzählt?«

»Nein, das wusste ich ja gar nicht. Ich habe nur …« Die Polizistin runzelte die Stirn. »Ich weiß nicht, ob ich nicht einen Fehler gemacht habe. Ich habe ihn nämlich gefragt, ob er wegen des Wagens anruft. Sie haben doch Ihren Alfa inseriert. Erst hat der Mann gesagt, nein, aber dann hat er noch einmal angerufen und wollte genau wissen, um was für einen Wagen es sich handelt und wo er steht. Wo er ihn sich ansehen kann. Ich hab’s ihm gesagt, ich meine, Sie wollen ihn doch gern verkaufen …«

»Schon in Ordnung, Linda. Hat der Anrufer einen Namen hinterlassen?«

»Den habe ich nicht notiert. Aber wenn Sie wollen, kann ich da anrufen …«

»Nein, schon gut, danke.« Der Commissaris drehte sich zu Doktor Menardi um, die ihr Handy aus der Tasche geholt hatte und mit einem suchenden Daumen über das Display fuhr. Sie hielt das Gerät in Gürtelhöhe vor sich wie jemand, der eigentlich eine Brille tragen sollte.

»Sie verkaufen Ihren Wagen?«, fragte sie.

»Ja, Ihretwegen.«

»Meinetwegen?« Sie sah auf und schob das Handy in die Seitentasche zurück.

»Bei unserer ersten Begegnung haben Sie mir geraten, mich nach und nach von Dingen zu trennen, die mich zu sehr an meine Frau erinnern«, erklärte er, während sie weitergingen. »Kurz bevor sie krank wurde, hatte sie einen Alfa Romeo gekauft, den ich von ihr übernommen habe, aber eigentlich brauche ich keinen Wagen. Ich dachte nur, ich müsste ihn behalten. Vor ein paar Tagen habe ich ihn inseriert. Heute Abend kommt ein Interessent, der ihn sich ansehen will.«

»Fällt es Ihnen schwer, sich davon zu trennen?«

»Es fiel mir schwer, mich von ihr zu trennen.«

Er sah Ton Gallo, Vreeling und Julika im Großraumbüro an ihren Schreibtischen sitzen, klopfte gegen die Glasscheibe und deutete auf seine Armbanduhr. »Was für eine Sonderkommission?«, fragte er noch einmal. »Wieso weiß ich davon nichts?«

Sein Handy vibrierte in der Brusttasche seines Sakkos. Er holte es heraus, und weil der Anruf von der Staatsanwaltschaft kam, meldete er sich.

»Piryns hier«, sagte die Stimme am anderen Ende der Leitung. »Wie kommen Sie in den Mordfällen Zuiker und Soeteman voran?«

»Wir machen Fortschritte«, sagte der Commissaris vorsichtig, denn er glaubte eine ungewohnte Gereiztheit in der Stimme des Staatsanwalts zu erkennen.

»Mijnheer van Leeuwen«, fuhr Piryns nach einer kurzen Pause fort, »Sie wissen, dass ich Ihre Arbeit immer geschätzt habe und keiner der Staatsanwälte bin, die sich unablässig in die Ermittlungen der Polizei einmischen. Aber in diesem Fall – diesen Fällen, um genau zu sein – möchte ich ab jetzt über jede neue Entwicklung auf dem Laufenden gehalten werden, egal, welche. Und vor allem will ich auf gar keinen Fall wieder so unliebsame Überraschungen wie im Fall Wu erleben.«

»Im Fall Wu haben wir uns auf das Geständnis des Täters und die ursprüngliche Aussage der Ehefrau gestützt.«

»Der Richter hat Wu bis zur nächsten Verhandlung auf freien Fuß gesetzt«, berichtete Piryns, »und zwar ohne weitere Auflagen. Er musste lediglich seinen Pass abgeben. Ich habe meine Einwände vorgebracht, schwerwiegende Einwände, wie ich finde, aber unser Advocaat Manhijmer war wieder einmal unwiderstehlich.«

»Auf freien Fuß?!«, wiederholte Van Leeuwen. »Zheng Wu hat seinen Cousin hierher gelockt und kaltblütig ermordet! Wenn seine Frau uns nicht belogen hätte …«

Ganz uncharakteristisch für Piryns, fiel ihm der Staatsanwalt ins Wort. »Mijnheer van Leeuwen, ich verstehe Ihre Empörung, aber vielleicht bräuchte sie jetzt nicht ganz so heftig auszufallen, wenn Sie vorher etwas sorgfältiger gearbeitet hätten. Und in den Fällen Zuiker und Soetemann erwarte ich, dass sich diese Fehler nicht wiederholen. Ehrlich gesagt, habe ich nach einem Gespräch mit Hoofdcommissaris Joodenbreest nicht den Eindruck, dass Sie und Ihr Team wirklich Fortschritte machen. Ich unterstütze daher seinen Vorschlag, eine Sonderkommission unter seiner Leitung zu bilden, ausdrücklich.«

Van Leeuwen wandte Feline Menardi den Rücken zu, weil er merkte, dass sie sein Mienenspiel beobachtete. Er spürte sein Blut, das zu schnell floss, und zwang sich, ruhiger zu atmen. Die Tür des Konferenzraums am Ende des holzgetäfelten Gangs stand offen, und jetzt erschien Hoofdcommissaris Joodenbreest im Türrahmen und winkte ihnen. Auf seinem Gesicht glänzte eine Schicht von Fettcreme, unter der sich die höhensonnenverbrannte Haut schälte. »Ich muss Schluss machen«, sagte Van Leeuwen. »Wo finde ich Mijnheer Wu, falls ich noch Fragen an ihn haben sollte?«

»In seiner Wohnung«, antwortete der Staatsanwalt. »Sie wissen ja, wo die ist.«

»Danke, Doktor Piryns.« Der Commissaris unterbrach die Verbindung, ohne sich zu verabschieden; Gereiztheit zeigen konnte er auch.

»Unangenehme Neuigkeiten?«, erkundigte sich Feline Menardi.

»Wahrscheinlich nur ein Vorgeschmack«, vermutete Van Leeuwen, und als er und die anderen Teilnehmer an der Besprechung um die Walnussholztische im Konferenzraum saßen und hörten, wie der Hoofdcommissaris fragte: »Hat jemand von Ihnen in den letzten Tagen mal die Zeitungen gelesen?«, wusste er, dass er richtig vermutet hatte. Er konnte sehen, dass Gallo, Vreeling und Julika genauso überrascht waren, nur Doktor Menardi kritzelte unbeeindruckt etwas auf einen Block, der plötzlich vor ihr lag.

»Das habe ich mir gedacht«, fuhr Joodenbreest fort und hielt eine Ausgabe des N RC Handelsblad hoch wie ein in Blau und Gold uniformierter Zeitungsjunge, der ein Extrablatt schwenkte. »Vorgestern erschienen, ein Artikel über eine Reihe seltsamer, unaufgeklärter Todesfälle im ganzen Land, die angeblich alle demselben Täter zugeschrieben und jetzt von uns fieberhaft untersucht werden, obwohl einige schon Jahrzehnte zurückliegen. Ich zitiere: Ein ranghoher Offizier der Amsterdamer Kripo ist dem Vernehmen nach mit einem Team von drei Beamten nach Overijssel gereist, um in Steenwijk und Umgebung Spuren zu sichern und den Weg der unheimlichen Mordserie nachzuzeichnen. Herrje, Bruno, habt ihr eigentlich gedacht, ihr könnt so was geheim halten?!«

Van Leeuwen erwiderte: »Das war nie unsere Absicht, Jaap.«

Joodenbreest bedachte ihn mit einem eisigen Blick, dann warf er die Zeitung vor sich auf den Tisch. »Bis jetzt ist es nur ein kleiner Artikel im Lokalteil, aber wenn wir die Glut nicht sofort austreten, genügt ein Lufthauch, und wir haben einen Buschbrand. Auf keinen Fall will ich noch mal so eine Massenpanik wie vor anderthalb Jahren, als der Kannibale aus Neuguinea hier die Leute abgeschlachtet hat! Und was so eine Mordserie und die dazugehörige negative Publicity für den Tourismus bedeutet …«

»Wir sprechen hier nicht vom weißen Hai«, warf Van Leeuwen ein.

»Sehr komisch, Bruno, aber leider nicht besonders konstruktiv. Mein höchster Beamter, der eigentlich am Schreibtisch sitzen und mich bei der Schulterung der immensen administrativen und politischen Lasten unserer Arbeit nach Kräften unterstützen sollte, reißt stattdessen wieder einmal die Ermittlungen an sich und lässt unsere ganze Truppe wie einen Haufen Trottel aussehen, indem er wie ein popeliger Hoofdinspecteur selbst auf der Straße herumeiert.«

»Hört, hört«, sagte Hoofdinspecteur Gallo.

Joodenbreest warf auch ihm einen Blick zu, der Atemluft sichtbar werden lassen konnte. »Wie auch immer, nachdem der Schaden nun einmal angerichtet ist, sehe ich nur eine Möglichkeit, die Kuh vom Eis zu kriegen. Und deswegen habe ich beschlossen, eine Sonderkommission zusammenzustellen. Zunächst wird davon aber nur die Presse unterrichtet. Wenn wir sie einbinden, weckt das vielleicht ihr Verantwortungsgefühl, und sie hilft uns, die Sache unterm Deckel zu halten. Zu der Kommission gehören die Anwesenden, einschließlich Doktor Menardi als psychologische Beraterin, sowie ein halbes Dutzend Beamte aus den besonders betroffenen Regionen, wo sich die meisten unaufgeklärten Todesfälle finden.«

»Wer wird die Leitung der Sonderkommission übernehmen?«, erkundigte sich Hoofdinspecteur Gallo.

»In Anbetracht der Brisanz der Angelegenheit und des eklatanten Mangels an Fortschritten, die im Zuge der bisherigen Ermittlungen gemacht wurden, werde ich das selbst tun«, verkündete Joodenbreest. »Und trotz größter Bedenken habe ich mich entschlossen, Teile der laufenden Untersuchungen in den Händen von Commissaris van Leeuwen zu belassen, sofern er …«

»Was für Bedenken?«, erkundigte sich Van Leeuwen so leise, dass er seine eigene Stimme kaum hören konnte.

»Das können wir im Anschluss an diese Besprechung unter vier Augen erörtern, und dann …«

»Ich möchte gern, dass wir es hier und jetzt erörtern«, entgegnete der Commissaris.

»Dieselben Bedenken, derentwegen du erst jetzt und hier von meinem Vorgehen erfährst«, antwortete Joodenbreest. »Auch wenn es anderslautende Meinungen gibt«, er streifte Doktor Menardi mit einem Seitenblick aus dem Repertoire Zweifel und Irritationen, »bin ich der Überzeugung, dass du noch nicht wieder voll auf dem Damm bist. Außerdem ist weiterhin diese leidige Dienstaufsichtsbeschwerde gegen dich anhängig, der zufolge du deinen Rang und deine Uniform als Polizeioffizier der Königin beschmutzt hast, indem du nachts in der Straßenbahn einem farbigen minderjährigen Jungen gegenüber gewalttätig geworden bist.«

»Erstens hatte ich gar keine Uniform an«, widersprach Van Leeuwen, jetzt bereits etwas lauter. »Und außerdem habe ich ihm lediglich einen sanften Klaps gegeben …«

»Sein Anwalt sagt, du hättest ihn grün und blau geschlagen …«

»Das gibt dem Begriff ›Farbiger‹ doch mal eine ganz andere, neue Bedeutung«, warf Vreeling ein.

Joodenbreest beugte sich vor. »Früher hätte ich dich das nicht gefragt, Bruno, aber unter den gegebenen Umständen muss ich es: Hast du ihn dir vorgeknöpft, weil er jung und Ausländer ist?«

»Ich habe ihn mir vorgeknöpft, weil er jung und dumm ist«, antwortete Van Leeuwen. »Er hat seine Freundin geohrfeigt, mehrmals, und niemand in der Straßenbahn fand daran etwas auszusetzen.«

»Daran, dass du ihn geohrfeigt hast, haben jedenfalls eine Menge Leute etwas auszusetzen. Ich habe dem Anwalt gesagt, dass du dich persönlich bei dem Jungen entschuldigen wirst …«

»Das werde ich nicht tun«, erwiderte Van Leeuwen.

»Dann lässt du mir keine andere Wahl …«

»Meine Herren, Sie haben beide Ihren Standpunkt ausreichend klargemacht«, meldete Menardi sich zu Wort, ohne von ihrem Notizblock aufzusehen.

»Das denke ich auch«, bestätigte der Hoofdcommissaris und stand auf. »Morgen geht die Meldung über die Sonderkommission an die Medien, und sobald ich über ihre endgültige Zusammensetzung entschieden habe, treffen wir uns wieder hier. Da der Täter anscheinend nur an zwei Tagen im Jahr zuschlägt und diese beiden Tage jetzt erst mal hinter uns liegen, haben wir ja keine übermäßige Eile. Wir können uns genügend Zeit lassen, ihn in den nächsten Monaten einzukreisen, und vielleicht sogar in einem Jahr auf frischer Tat ertappen.«

Jetzt sah Doktor Menardi auf. »Dafür gibt es keine Garantie«, erklärte sie. »Sein Tempo kann sich beschleunigen, er kann den Rhythmus ändern. Das ist durchaus nicht unüblich.«

»Wie kann er das vor sich rechtfertigen?«, fragte Gallo.

»Das muss er nicht«, sagte die Psychologin. »Oder wenn, dann erfindet er irgendeinen Grund. Beispielsweise könnte er sich einreden, seine Opfer würden sich selbst töten. Er rammt ihnen ja kein Messer in die Brust, und er zerfetzt ihr Fleisch nicht mit einer Kugel – im Grunde sind es ihre eigenen Anstrengungen unter der Plastiktüte, die zu ihrem Tod führen. Wenn er nicht mehr der Täter ist, fühlt er sich auch an kein festes Datum mehr gebunden. Er stülpt seinen Opfern nur die Tüte über und umwickelt sie mit Isolierband, mehr tut er nicht.«

»Wenn er keine Schuldgefühle hat, warum lässt er sie dann nicht einfach mit der Tüte über dem Kopf und seinen Fingerabdrücken darauf liegen?«, wollte der Hoofdcommissaris wissen.

Menardi sagte: »Wenn er gefasst würde, könnte er niemandem mehr helfen, darum nicht.«

»Wie auch immer, ich will ihn nicht verstehen, ich will ihn verhaften«, erklärte Joodenbreest, und da er offenbar glaubte, dass ein besseres Schlusswort nicht gefunden werden konnte, verließ er den Raum grußlos und bevor dies jemand kommentieren konnte.

Einen Moment lang herrschte Schweigen. Van Leeuwen sah, wie Doktor Menardi wieder die Hand ans Ohrläppchen führte, diese fragile Geste, bei der ihm ihr Vorname einfiel, Feline, einfach so. Es gefiel ihm, wie sie dem Hoofdcommissaris widersprochen hatte, sachlich und bestimmt. Er fragte sich, wie es sein mochte, einen Tag mit ihr zu verbringen; das verblüffte ihn.

Gallo brach das Schweigen als Erster. Er sah Van Leeuwen an und meinte: »Willst du wissen, was der Unterschied zwischen dir und dem Ayatollah ist? Du bringst im Mörder den Menschen zum Vorschein. Jaap Joodenbreest schafft es, im Menschen den Mörder zu wecken.«

Van Leeuwen sah Feline lächeln und dachte, es wäre gut, ihr zu zeigen, was er konnte. »Ihr habt den Hoofdcommissaris gehört. Wenn es also nichts anderes mehr gibt, gehen wir wieder an unsere Arbeit. Ich möchte, dass ihr alle Meldeämter befragt – in ganz Amsterdam-Amstelland –, wer von der infrage kommenden Altersgruppe unter den hier Gemeldeten aus der Gegend um Steenwijk stammt, wann er hierher gezogen ist und ob er zwischendurch woanders gewohnt hat. Ich brauche die Namen der Feuerwehrmänner, die mit Conrad Mueller in das Haus gegangen sind, und eine Liste ihrer Familienangehörigen und Verwandten des fraglichen Alters. Verschafft euch Zugriff auf die Datenbänken der Finanzämter, der Krankenversicherungen, was auch immer.« Er überlegte einen Moment. »Wie weit sind wir mit Sara Scheffers Sohn? Wissen wir inzwischen, was aus ihm geworden ist? Wie er heißt? Er müsste jetzt etwa zweiundvierzig Jahre alt sein, genauso wie Conrad Muellers Junge, Roelof. Wer kann mir etwas über Roelof Mueller erzählen?«

Er sah in alle Gesichter, und auf keinem las er eine Antwort. Am Ende hat Jaap recht, dachte er enttäuscht, wir machen keine Fortschritte.

Endlich hob Gallo die rechte Hand. »Ich habe eine Frage an Doktor Menardi.«

»Ja, bitte«, meinte die Psychologin und warf einen kurzen Blick auf ihren Notizblock, um sich seinen Namen in Erinnerung zu rufen, »Hoofdinspecteur Gallo.«

»Können Sie uns erklären, wie wir uns die Zielperson vorstellen sollen?«, fragte Gallo. »Ihr Verhalten weist keinerlei Ähnlichkeit mit dem üblichen Muster der uns bekannten Serientäter auf. Zwar hat sie stets den gleichen MO, aber sie hinterlässt keine Signatur, nichts verweist auf ihr mögliches Motiv oder ihre innere Triebfeder. Sie sammelt keine Trophäen. Sie schickt uns auch keine Botschaften. Sie gibt uns keine versteckten Hinweise oder fordert uns heraus wie andere Serienmörder. Sie spielt nicht mit uns, es scheint uns für sie gar nicht zu geben. Sie sucht keine Aufmerksamkeit, will nicht ins Rampenlicht. Weder erfährt sie sexuelle Befriedigung, noch hat sie ein Anliegen, für das sie Öffentlichkeit sucht. Sie ist kein Schlächter, kein Kannibale, kein wahllos um sich schießender Amokläufer. Also, was ist sie? Wonach suchen wir?«

Menardi nickte. »Zunächst mal – ich bin kein Profiler, aber als Psychologin kann ich wenigstens so viel sagen: Wir haben es auf alle Fälle nicht mit dem Serienmörder aus dem Bastelkasten für Drehbuchautoren zu tun, dem Psychopathen mit der Ledermaske, der eine Spur von abgeschlachteten Teenagern wie Lebkuchenkrümel hinter sich herzieht. Zu den Punkten, die Sie schon genannt haben, könnte man noch ergänzen, dass er seine Opfer nicht zu seinem Publikum macht. Er fesselt und knebelt sie nicht vor der Tat, er hält sie auch nicht gefangen. Er respektiert ihre Würde, deswegen lässt er sie wahrscheinlich auch nicht mit der Plastiktüte über dem Kopf liegen.«

»Kann es sein, dass er Stimmen hört?«, erkundigte sich Remco Vreeling. »Dass jemand ihm Botschaften schickt?«

»Das glaube ich nicht«, antwortete Menardi, »obwohl man es nicht ausschließen kann. Wahrscheinlicher ist jedoch, dass er seine Opfer schon vorher kannte, dass sie sich vielleicht sogar an ihn gewandt haben, seine Hilfe suchten. Wenn er Stimmen hört, dann sind es ihre Stimmen. Ich nehme an, dass er vom Leben so abgestoßen ist, wie wir es von seinen Taten sind.«

»Soll heißen?«, fragte Brigadier Tambur. Sie beobachtete die Frau auf der anderen Seite des Tisches genau, abwägend, schien jede Bewegung zu registrieren, und wenn ihre Augen nicht auf der Psychologin ruhten, um ihr Mienenspiel zu deuten, wanderten sie zu Van Leeuwen, als wollte sie überprüfen, ob er dasselbe sah wie sie.

»Suchen Sie nicht nach dem Klischee, sondern nach dem Wahrhaftigen«, erklärte Doktor Menardi, »nach etwas in ihm, in seinen Taten, das sich auch in Ihnen findet. Sonst können Sie ihn nicht verstehen.«

»Und wie soll das gehen?«, hakte Brigadier Tambur nach. Etwas an ihrem Tonfall war anders, neu, eine unterdrückte Schärfe, und auf einmal begriff der Commissaris, woher dieser neue Ton kam: Sie sah Feline Menardi als Frau, nicht als Kollegin, sogar als Rivalin.

»Denken Sie einfach bestimmte Seiten von sich selbst weiter«, antwortete die Psychologin und sah Julika direkt in die Augen, »erinnern Sie sich an Situationen, in denen Sie das Gefühl hatten, Sie müssten etwas tun, einfach, weil Sie keine Wahl hatten. Oder Sie hatten eine, haben Sie aber nicht erkannt. Es war vielleicht sogar so, dass Sie das, was Sie taten, wie von außen gesehen haben, und Sie wussten, es war falsch, aber eben irgendwie auch richtig. Denken Sie sich eine solche Situation als inneren Zwang, der Sie immer häufiger und stärker heimsucht.«

»Aber was hat es mit den Daten auf sich, dem sechsundzwanzigsten September und dem dritten Oktober?«, erkundigte sich Vreeling.

»Wir wissen nicht, warum er gerade an diesen Tagen tötet«, sagte Menardi, »doch für ihn liegt es auf der Hand. Mijnheer van Leeuwen hat auf das Datum hingewiesen, an dem das letzte Baby von Sara Scheffer gefunden wurde – der dritte Oktober 1966. Damit könnte es zu tun haben. Irgendwann werden Sie es herausfinden. Und wenn es so weit ist, werden Sie nicht glauben können, dass darin der Schlüssel zu all seinen Taten liegt, so verstiegen wird es Ihnen vorkommen. Für ihn jedoch ist es vollkommen zwangsläufig, denn in seinem Kopf ist das Verstiegene das Logische. Vor allem aber dürfen wir eins nicht vergessen: Der Täter hat keinerlei Schuldgefühle. Er sieht sich als Erlöser, als barmherzigen Samariter.«

»Ist es vielleicht möglich, dass wir irgendetwas übersehen?«, fragte Gallo.

Die Psychologin fuhr sich mit der Hand durch das braune Haar, das sie heute offen trug, und es sah aus, als flösse es zwischen ihren Fingern, glänzend im Schein der Deckenbeleuchtung. »Absolut.«

»Und was wäre das?«, hakte Brigadier Tambur nach.

»Ich weiß es nicht, aber man übersieht immer etwas.« Feline Menardi lächelte fast verlegen, als wäre diese menschliche Schwäche ihr ganz persönlicher Fehler. »Eine Kleinigkeit. Ein Detail oder auch mehrere. Manchmal sieht man sogar nur die Details. Sie kennen den Spruch: Der Teufel steckt im Detail. In unserem Fall könnte er lauten: Der Teufel steckt hinter den Details. Sie bilden ein Gestrüpp, hinter dem wir ihn nicht sehen können, obwohl er vielleicht ganz in unserer Nähe ist. Und gar nicht aussieht wie ein Teufel, sondern nur wie ein weiteres Detail.«

Sie hat recht, dachte der Commissaris. Denk an den Schlüssel, denk an das Loch in der Tür. Das war seine Theorie: Jeder Mord war ein Loch, ein negativer Raum, und in dieses Loch passte ein Schlüssel. Der Mörder hatte das Loch geschaffen, aber nicht den Schlüssel entworfen. Trotzdem war der Schlüssel im selben Moment da wie das Loch, irgendwo in der Nähe. Man musste ihn nur finden, dann konnte man ihn in das Loch stecken und die Tür öffnen, hinter der sich der Mörder versteckte. Und dann wurde aus dem negativen Raum ein positives Ereignis.

»Unsere einzige Chance, ihn hervorzulocken«, fuhr Doktor Feline Menardi fort, »besteht darin, das Menschliche im Unmenschlichen zu finden und sich mit diesem Teil seiner Seele zu verbünden.«

Der Commissaris spähte durch das Schlüsselloch. Er saß im grellen Licht des Konferenzraumes an dem großen runden Tisch mit der Platte aus Walnussholz und spähte durch das Loch und sah sieben in Blumenerde erstickte Neugeborene und eins, das überlebt hatte, weil es in letzter Minute entdeckt worden war. »Es gibt kein Geburtenregister«, bemerkte er.

Alle verstummten und sahen ihn an.

»Es gibt keine Eintragungen in ein Geburtenregister, weil niemand gewusst hat, dass Sara Scheffer schwanger war«, sagte er. »Und es gibt keine Vermerke in einem Sterberegister, denn die toten Kinder sind gleichfalls unentdeckt geblieben, bis auf eins, das letzte. Wir sind bisher davon ausgegangen, dass das Baby an demselben Tag geboren wurde, an dem es vergraben wurde, weil das bei den anderen so gewesen ist. Aber vielleicht hat es überhaupt nur deshalb überlebt, weil es schon stärker war als seine Geschwister. Weil es nicht am selben Tag geboren wurde, sondern bereits eine Woche früher, am sechsundzwanzigsten September.«

»Und zum zweiten Mal am dritten Oktober«, ergänzte die Psychologin und streckte kurz die Hand aus, als wollte sie Van Leeuwen berühren und ihrer Anerkennung spontan tieferen Ausdruck verleihen als mit Worten.

Der Täter hat keinerlei Schuldgefühle. Er sieht sich als Erlöser, als barmherzigen Samariter.

Unvermittelt fand der Commissaris sich wieder an dem Punkt, an dem er bisher mit seinen Gedanken stets umgekehrt war. Jetzt ging er weiter, ging aber nicht vorwärts, sondern zurück, geradewegs in das winzige, dunkle Studio des TV-Senders Veronica, ans Ende seines Gesprächs mit Kornelis Jacobszoon.

Eine solche Einsamkeit, hatte Jacobszoon gesagt, das ist, als wäre man lebendig begraben. Als wäre man sein eigenes Grab.