Neunzehn

 

Roman kam sich feige vor, als er vor Pilars Apartment auf und ab ging. Mitten in der Nacht war er aufgewacht und nicht mehr eingeschlafen, weil er vergeblich versuchte, sich die passenden Worte zurechtzulegen. Mit Sicherheit fielen sie ihm auch nicht in den kommenden fünf Minuten ein. Er straffte die Schultern und drückte auf den Klingelknopf.

Über ihm öffnete sich ein Fenster. »Du? Warum hast du nicht angerufen? Ich hätte dich doch vom Flughafen abgeholt!«

Pilar verschwand aus seinem Blickfeld. Wenige Sekunden später hörte er den Türöffner summen. Er stemmte sich gegen die schwere Holztür und ging die Stufen nach oben.

»Eigentlich sollte ich stinksauer sein!« Pilar stand mit in die Hüften gestemmten Fäusten in der Wohnungstür. »Aber ich bin einfach nur froh, dich wiederzuhaben.« Sie beugte sich zu ihm, um ihn zu küssen.

Roman ließ es zu, erwiderte aber den Kuss nicht. Pilar zog augenblicklich die Stirn kraus. »Was ist mit dir?«

»Lass uns drinnen reden.« Er drückte sich an ihr vorbei und fühlte sich lausig. »Ich muss dir was erklären.«

Pilars Stirn lag immer noch in Falten. Zusätzlich verengten sich ihre Augen, und sie schob ihre Unterlippe vor.

Die Reisetasche deponierte er gleich im Flur. »Ich war nicht in Holland. Diesen Kumpel gibt es nicht.«

»Warst du bei einer anderen Frau?«, flüsterte Pilar.

Roman schüttelte den Kopf. »So ist es nicht. Aber ich habe dir etwas verheimlicht, und das holt mich gerade wieder ein. Ich weiß nur, dass es für uns keine gemeinsame Zukunft gibt. Zumindest nicht als Paar. Ich hab dich sehr gerne, aber ich liebe dich nicht so, wie du es verdienst. Ich dachte, das käme noch, aber ...«, brach er ab.

Pilar ließ sich in einen Sessel fallen, beugte sich nach vorn und stützte den Kopf auf die Hände.

Er kniete sich vor sie und strich ihr über das Haar. »Es tut mir leid.«

Mit Tränen in den Augen blickte sie zu ihm auf.

»Lass mich von vorn beginnen.« Roman stand auf und setzte sich ihr gegenüber. »Vor einigen Wochen erlitt ich einen Blackout. Mir fehlen viele Details aus meinem Leben. Ich dachte, ich könnte damit umgehen, aber irgendwie schaffe ich es nicht. Ich muss wissen, was in dieser Zeit geschehen ist. Meine Freunde machten sich große Sorgen um mich. Sie fragten mich auch nach einem Mädchen namens Naomi.«

Roman bemerkte, wie Pilar zusammenzuckte. »Auch an sie kann ich mich nicht erinnern. Erst dachte ich, es wäre unwichtig, weil sie weggezogen war und ich mir nicht einmal ihr Gesicht in Erinnerung rufen konnte. Doch dann fand ich beim Packen etwas in meinen Unterlagen, was mich zweifeln ließ, ob ich tatsächlich alles einfach vergessen könnte. Dem will ich nun auf den Grund gehen. Sie wohnt in Deutschland. Dahin bin ich gefahren und nicht nach Holland. Ich habe sie aber nicht gesehen. Ihre Mutter hat mir erklärt, sie sei hier in Barcelona. Also habe ich nach ihr gesucht, bis mir klar wurde, dass es unfair ist, dich weiterhin zu belügen. Du verdienst die Wahrheit.«

Pilar bekam ein Heulkrampf. Ihr Körper wurde durchgeschüttelt und Roman hörte sie laut schniefen. »Ich wollte dich nicht verletzen. Du bist eine wunderbare Frau. Ich muss aber zuerst mit mir selbst klarkommen, verstehst du?«

Pilar nickte zaghaft.

»Ich packe nun besser meine Sachen zusammen und gehe.«

»Das musst du nicht.« Pilar wischte sich die Tränen von der Wange. »Eigentlich habe ich es immer gespürt. Du warst oft geistesabwesend und hast mir nicht richtig zugehört. Ich hätte auch das Alphabet aufsagen können, und es wäre dir nicht aufgefallen. Ich habe es ignoriert und gehofft, es würde hier funktionieren. In einer anderen Umgebung, weg von allem. Aber ich habe mich geirrt.«

Pilar stand auf, ging in die Küche und kam mit einem Glas Rotwein zurück. »Diese Naomi ist also in Barcelona?« Sie trank das Glas halb leer. »Was hältst du davon, wenn ich dir helfe, sie zu finden?«

 

*

 

Walter Thursfield saß in dem verschossenen Lehnstuhl im Büro der Kanzlei und starrte aus dem Fenster. Von der Blamage im Wald hatte er sich noch nicht erholt. Zu tief saß der Schmerz der erneuten Niederlage. Romina hatte ihn wie einen räudigen Köter davongejagt. Die Suche nach Leandra und Naomi blieb weiterhin ohne Ergebnis. Sie waren wie vom Erdboden verschluckt. Mit Sicherheit waren sie zurück in Deutschland. Um sie dort zu finden, wäre ein Wunder notwendig. Kein Anhaltspunkt, kein kleiner Hinweis, der die Suche wenigstens auf eine Region einschränkte.

Geoffrey ging zu ihm und legte ihm die Hand auf die Schulter. »Was will Sammy von uns?« Er sah auf seine Armbanduhr. »Er ist mal wieder überfällig. Typisch für ihn, uns hier wie Dienstpersonal warten zu lassen.«

Walter stieß geräuschvoll die Luft aus. »Was wird er schon wollen? Mich zur Sau machen, weil sie uns entkommen sind.«

Das schrille Klingeln ließ Walter zusammenfahren. Mit dem Kopf nickte er zum Telefon. Geoffrey eilte zum Apparat, stellte den Lautsprecher an und meldete sich.

»Habt ihr sie gefunden?«, fragte Sammy ohne eine Begrüßungsfloskel.

»Nein. Bisher nicht.« Walter hörte sein Blut in den Ohren rauschen. »Wir werden sie schon noch finden.«

Ein höhnisches Lachen drang durch den Lautsprecher. »Ja. Klar.« Einen Moment lang herrschte Schweigen.

Walter wartete ab. Er hatte ohnehin nichts zu sagen.

»So. Nun spitz deine Ohren. Ich weiß, wo sie sich aufhalten.«

Geoffrey riss die Augen auf. Walter schluckte, bevor er nachfragte, woher Sammy wisse, wo sie sich aufhielten.

»So ganz genau weiß ich es nicht. Aber sie sind in Barcelona. Und ihr werdet dorthin fahren. Du kennst den Treffpunkt, und Pilar wird dich dort treffen.«

»Diese Pilar. Kann man ihr trauen? Naomi wird vermutlich nicht alleine am Treffpunkt sein. Wenn Romina oder jemand anders von ihrem Clan dort auftaucht, und diese Pilar das Weite sucht, bin ich geliefert.« Walter rieb sich seinen Oberschenkel.

»Mach dir um Pilar keine Sorgen. Sie will sich an Naomi rächen. Und an ihrem Ex-Lover gleich mit.«

Walter konnte Sammys breites Grinsen vor seinem geistigen Auge sehen. Sammy hasste diese Naomi offenbar ebenso sehr, wie er selbst Romina hasste. »Trotzdem könnte es Probleme geben. Warum kommst du nicht auch? Das wäre in diesem Fall wirklich hilfreich.«

»Ich kann nicht. Ein kleiner Autounfall. Nichts Dramatisches. Aber für einen Kampf reicht meine Kraft noch nicht aus. Dabei würde ich Naomi liebend gerne selbst gegenüberstehen.« Sammy räusperte sich. »Walter, es darf nichts schiefgehen. Hörst du? Sorge dafür, dass keiner aus ihrem Clan das Treffen lebend verlässt. Nimm Geoff mit.«

»Geoffrey? Das ist viel zu gefährlich. Was könnte der schon ausrichten?«, fragte Walter mit einem Blick zu seinem Sohn.

»Du begreifst wirklich nichts. Geoffrey soll sich mit einem Gewehr im Wald verstecken und im richtigen Moment den Abzug drücken.«

 

*

 

Romina zuckte die Schultern. »Ich kann mir das nicht erklären. Er kann sich unmöglich an dich erinnern.«

»Warum sucht er dann nach mir?«, fragte Naomi nach.

Iker verschränke die Arme vor der Brust und lehnte sich an die Wand.

Romina legte den Kopf schief und schien nachzudenken. »Wir werden es irgendwann herausfinden.«

»Es spielt im Moment auch keine Rolle«, meinte Iker. »Wir müssen Roman finden. Das Mädchen, diese Pilar, hat ihn nach Barcelona gebracht. Also steckt Neophars Clan dahinter. Ich weiß nicht, inwieweit dieses Mädchen den Anweisungen des Clans folgt. Aber sie hat Angst um ihren Vater. Das konnte ich deutlich hören. Und das macht sie unberechenbar.«

Plötzlich betrat Dorothea das Wohnzimmer. »Iker sollte das nächste Mal mit zur Lichtung kommen. Wenn diese Pilar auftaucht, erfahren wir wenigstens, was in ihr vorgeht.« Sie trat auf Naomi zu. »Du musst Naomi sein. Ich freue mich, dich kennenzulernen.« Dorothea streckte ihr die Hand hin. »Entschuldige, dass ich nicht näher komme, aber diese Grippe ...« Bestätigend kramte sie ein Taschentuch aus ihrer Hosentasche und schnäuzte sich. »Und du bist Leandra«, wandte sie sich an Naomis Großmutter. »Schön euch wiederzusehen.«

Naomi starrte Dorothea an.

»Hey, ihr gehört zu meiner Familie.« Dorothea lächelte. Aufgrund der Brandnarben in ihrem Gesicht hob sich nur der rechte Mundwinkel. Die linke Gesichtshälfte bewegte sich kaum.

»Na ja, da musste ich doch nach euch sehen«, plauderte sie unbefangen weiter.

Leandra drückte sich tiefer in ihren Sessel, starrte sie kurz an und wandte dann ihren Blick ab.

»Ich gebe euch noch ein paar Minuten, um mich anzustarren, dann wäre es schön, wenn wir uns auf das Wesentliche konzentrieren könnten.« Sie lächelte immer noch.

»Äh, entschuldige, ich wollte dich nicht anstarren. Aber es ist ... du siehst keinen Tag älter als Zwanzig aus.« Naomi ging einen Schritt auf sie zu. »Dabei bist du ...«

»Fünfhundertfünfzig. Und ich fühle mich momentan auch keinen Tag jünger.« Dorothea setzte sich Leandra gegenüber, die weiter auf einen unsichtbaren Punkt auf dem Tisch sah.

»Leandra. Ich kann mir vorstellen, dass es für dich als Außenstehende nicht leicht ist zu begreifen, was hier vor sich geht. Darum gibt es diese Regel, dass kein Mensch von uns wissen darf. Ich selbst habe sie gebrochen und teuer dafür bezahlt. Und damit meine ich nicht die Brandnarben. Alles, was ich liebte, habe ich durch Barthel verloren. Wie er mein Geheimnis aufgedeckt hat, weiß ich nicht, aber wenn ich Paul damals verlassen hätte, wäre es nicht dazu gekommen. Alles hat seinen Preis. Und manchmal ist er verdammt hoch.«

Naomi räusperte sich. Dorotheas Vortrag klang, als wolle sie Naomi davon überzeugen, nicht nach Roman zu suchen. Doch das konnte sie nicht. Er schwebte in Gefahr. Sie musste eingreifen. Alles andere würde sie sich niemals verzeihen. »Wenn du auf Roman anspielst, dann muss ich dich enttäuschen.«

»Du bist eigensinnig.« Dorothea schnäuzte sich erneut. »Das liegt wohl in der Familie. Ich wusste, du würdest so reagieren.« Sie legte eine kurze Pause ein. »Die Situation ist heute anders, als damals bei mir. Roman befindet sich bereits im Visier unserer Feinde. Das eigentliche Ziel bist aber du. Wir sind zu viert, und darin liegt unser Vorteil. Wir werden den Clan vernichten, damit ihr in Frieden leben könnt. Keiner weiß, wo wir uns aufhalten. Doch wir wissen den Aufenthaltsort von Pilar und Roman. Zumindest mehr oder weniger. Und mit Pilar werden wir fertig. Auf die eine oder andere Weise.«

Iker rieb sich nachdenklich das Kinn. »Ich soll mit? In den Wald?«

Dorothea nickte. »Falls Pilar auftaucht, brauchen wir deine Fähigkeiten. Und mein Gefühl sagt mir, sie wird kommen.«

»Falls ich Roman nicht vorher finde«, wandte Naomi ein.

Romina mischte sich ein. »Naomi, Barcelona ist groß, und es bleiben nur noch zwei Tage bis zum nächsten Vollmond. Er wäre ein großer Zufall, wenn du ihn tatsächlich in dieser kurzen Zeit finden würdest.«

»Dann werde ich besser gleich damit anfangen. Denn ich habe absolut keine Lust auf diese Pilar zu treffen«, knurrte Naomi und erhob sich. Bevor sie durch die Wohnzimmertür schritt, blieb sie stehen und drehte sich nochmals um. »Ich nehme nicht an, dass mich jemand begleiten will.«

»Naomi. Du hast kein Foto, und wir wissen nicht, wie Roman aussieht. Es bringt nichts. Warte einfach diese zwei Tage ab, bis wir uns auf der Lichtung treffen.« Romina sah sie eindringlich an.

»Den Teufel werde ich tun.« Sie wandte sich ab. Auf dem Weg zur Haustür rief sie noch: »Oma. Warte nicht auf mich. Es wird mit Sicherheit spät.

 

Nach zehn Stunden gab Naomi auf. Sie kannte jeden Winkel der Fußgängerzone und der kleinen Gassen, die in die Viertel El Raval, Ciutat Vella, Barrí Gòtic und La Ribera führten. Die Touristenkarte kannte sie auswendig. Der einzige Teil der Innenstadt, den sie noch nicht mehrfach abgegangen war, lag nördlich der Plaza Catalunya. Im Anschluss folgten nur noch die großen Hauptverkehrsadern, wo es sowieso hoffnungslos wäre, nach ihm zu suchen. Ihre Füße schmerzten, ihr Mund brannte vor Durst und sie fühlte sich erschöpft.

Bevor sie in das Motel zurückkehren wollte, ging sie einen Supermarkt und kaufte sich zwei Colas, zwei Wasser und drei Stücke eines Gebäcks, das aussah, als sei es eine Paprikapizza. Auf dem Schild stand coca de trampó.

Auch wenn sie enttäuscht war, dass sich nicht wenigstens ihre Großmutter dazu bereit erklärt hatte, sie zu begleiten, ging sie nochmals zurück, um auch für sie etwas zu essen zu besorgen. Leandra war zwar nicht mehr gut zu Fuß, doch hätte ihr etwas Gesellschaft Mut gemacht, und wenn es nur für eine Stunde gewesen wäre.

Immerhin hatte sich Karsten bereit erklärt, gemeinsam mit Alice durch Barcelona zu streifen, um ebenfalls nach Roman Ausschau zu halten. Karsten hatte sich das letzte Mal vor zwei Stunden bei ihr gemeldet. Nichts. Außer, dass Alice mit einer angehenden Migräne kämpfte und er sie nach Hause bringen wollte, gab es auch von Karsten nichts Neues. Er wollte nach der Vorlesung am kommenden Vormittag nochmals nach Roman suchen.

Naomi betrat die Lobby und ging mit einem müden Nicken am Rezeptionisten vorbei. Ohne zu klopfen, öffnete sie die Zimmertür, und Leandra sprang vom Bett auf.

»Und?«, fragte sie.

»Nichts.« Naomi legte die Einkäufe auf dem Nachttisch ab und zog ihre Jeansjacke aus. »Bist du noch lange geblieben?«

Leandra nickte. »Bis nach dem Abendessen. Hier wird ja erst gegen einundzwanzig Uhr gegessen. Die Zeit verging so schnell. Meine Mutter und ich hatten endlich die Möglichkeit ausführlich miteinander über alles zu sprechen. Iker hat mit Dorothea im Nebenzimmer über die kommende Vollmondnacht gesprochen. Ich glaube, er fürchtet sich ein bisschen, nach so langer Zeit wieder in den Wald zu gehen. Dorothea ist noch nicht ganz gesund und hat sich noch vor dem Abendessen wieder hingelegt.«

Naomi bekam ein schlechtes Gewissen. Nicht eine Sekunde hatte sie daran gedacht, dass ihre Großmutter sich nach einem Gespräch mit ihrer Mutter sehnte. Dass es für sie wichtig war, alte Geschichten aufzuwärmen und sich gegenseitig etwas aus ihrem Leben zu erzählen. Für sie hatte es nur Roman gegeben. »Was hältst du eigentlich von Dorothea? Sie ist ein bisschen merkwürdig, oder nicht?«

»Ich glaube sogar, ihr seid euch sehr ähnlich.« Leandra strich sich durchs Haar. »Überhaupt merkt man, dass es sich um eine Familie handelt. Du bist genauso stur und eigenwillig, wie Dorothea es wohl in jungen Jahren gewesen war, und optisch bist du das Ebenbild von Romina.« Sie griff sich eine Wasserflasche und trank einen kräftigen Schluck. »Und weißt du was? Dieses ungute Gefühl bricht schon wieder über mich herein. Das Gefühl, das irgendetwas geschehen wird. Es kriecht mir eiskalt den Rücken hoch und setzt sich wie eine schwere Last in meinem Genick fest.«

Naomi griff nach einer der Pizzaschnitten und biss hinein. »Sieht aus wie Pizza. Ist es aber nicht.«

»Hörst du mir überhaupt zu?«

Naomi grunzte. »Ja. Und soll ich dir was sagen? Du bist mit diesem Gefühl nicht alleine. Darum muss ich Roman finden.« Naomi hatte mit einem Mal die Bilder aus ihren Albträumen wieder vor Augen. Roman auf dieser Lichtung, bevor ihn plötzlich die Dunkelheit verschluckte. Sie ließ die Schnitte sinken. »Oma. Ich habe echt Schiss, dass etwas schiefgehen wird.«

 

*

 

Roman setzte sich auf eine Holzbank und blickte aufs Meer hinaus. Pilars Angebot, ihm bei seiner Suche nach Naomi behilflich zu sein, hatte ihn überrascht.

Seit ihrem Gespräch waren nur wenige Stunden vergangen. Als Pilar am späten Nachmittag zurück ins Apartment gekommen war, hatte sie freudestrahlend verkündet, sie wisse, wo Naomi sich aufhielte, und heute Abend würden sie sich treffen können. Pilar würde ihn zu ihr bringen.

Wie hatte sie das so schnell herausgefunden? Ihre Begründung, Naomi sei an der Uni eingeschrieben, und über ihren Vater hätte sie die Telefonnummer ergattert, konnte stimmen. Naomis Mutter hatte ihm nicht den Grund für ihre Reise nach Barcelona erzählt. Trotzdem fand er es sehr merkwürdig.

Überhaupt reagierte Pilar außergewöhnlich. Warum sollte sie ihm helfen, eine andere Frau zu finden? Bei Pilars Temperament hätte er damit gerechnet, dass sie ihn zum Teufel jagte, ihn beschimpfte oder ihm etwas an den Kopf warf, um ihrem Ärger Luft zu machen. Hatte er sich in Pilar getäuscht? War sie gar nicht so besitzergreifend, wie er es zuerst empfunden hatte? Er fand keine Erklärung dafür.

Nachdem er noch eine Stunde hin und herüberlegt hatte, entschied er sich selbst zur Uni zu gehen und nachzufragen. Das Gelände kannte er. Immerhin sollte er dort in einigen Tagen als Gastdozent seinen Job antreten. Mit einem Satz sprang er auf die Beine, wandte sich vom Meer ab und spazierte gedankenverloren die La Rambla hoch. An der Plaza Catalunya bog er links ab, bis er vor dem Universitätseingang stehen blieb. Ob er tatsächlich im Sekretariat Auskunft erhielte, würde er gleich herausfinden.

»Mensch, Roman!«, rief es hinter ihm. »Das glaub ich jetzt echt nicht.«

Roman drehte sich herum und sah in ein bekanntes Gesicht. Nur der Name wollte ihm nicht einfallen.

»Karsten. Du erinnerst dich?«

Er suchte in allen Winkeln seines Gedächtnisses, wann und wo er Karsten kennengelernt hatte. Doch es wollte ihm beim besten Willen nicht einfallen. »Sorry. Aber hilf mir bitte auf die Sprünge.« Roman ging einige Schritte auf Karsten zu, der kurz zögerte.

»Wie? So lange ist es doch nun auch wieder nicht her. Wir haben uns getroffen, als ich Naomi in Stillwater besucht habe. Klingelt´s jetzt?«

Roman nickte, auch wenn er nicht die geringste Ahnung hatte, wovon Karsten sprach. Er konnte sich einfach nicht erinnern. Sein Gesicht kam ihm bekannt vor, auch wenn er nicht wusste, woher. Aber dieser Karsten kannte Naomi.

»Lass uns was trinken gehen. Wir suchen dich schon seit Tagen!« Karsten kramte in seiner Tasche. »Ich muss kurz Naomi anrufen, damit sie Bescheid weiß.«

Romans Gedanken überschlugen sich. Warum sollte Naomi nach ihm suchen? Gegen einundzwanzig Uhr wollte Pilar mit ihm losfahren, um Naomi zu treffen. Was hatte Pilar geplant?

»Kann ich ...«, dann brach er ab. Was sollte er zu Naomi sagen? Besser er wartete ab, bis sie sich gegenüberstanden. Roman winkte ab, als Karsten ihm das Handy entgegenstreckte. »Nein. Besser nicht.«

Karsten zuckte die Schultern und meldete sich nicht mit Namen. »Ich hab ihn gefunden. Kannst du kommen?«

Roman beobachtete, wie Karsten die Stirn in Falten legte.

»Ja, und? Was macht das schon?« Karstens Gesicht verkrampfte sich. »Also gut. Dir ist aber schon klar, dass du nicht ganz normal bist, oder?«

Roman konnte sich anhand der Sätze nicht zusammenreimen, worum es in dem Gespräch ging.

»Ja. Ich verspreche es dir.« Kopfschüttelnd beendete Karsten das Telefonat.

»Ich brauch jetzt ein Bier.« Karsten kratzte sich nachdenklich am Kopf. »Komm mit. Ich lad dich ein.«

»Was hat sie gesagt?«, wollte Roman wissen.

»Dass sie es heute nicht schaffen wird, weil sie eine Verabredung außerhalb von Barcelona hat, die sie nicht aufschieben kann.« Karsten wirkte durcheinander. »Und das, obwohl sie ...«

»Was?«, fragte Roman. »Hat sie was wegen des Treffens heute Abend gesagt?«

Karsten schüttelte den Kopf. »Welches Treffen?«

Roman atmete tief ein. »Lass uns alles bei einem Bier besprechen. Ich wüsste gerne, was du davon hältst, okay? Denn ich verstehe so langsam überhaupt nichts mehr.«

 

»Hm, und du weißt echt nicht mehr, wer Naomi ist? Krass. Echt krass.« Karsten leerte sein Bierglas und bestellte bei der Bedienung zwei weitere Gläser.

»Na ja. Das mit dem Blackout ist eine Sache. Was ist aber mit dieser Verabredung? Pilars Verhalten passt einfach nicht. Ich an ihrer Stelle, würde mir die Pest an den Hals wünschen. Es passt einfach nicht zusammen, wenn sie zu mir sagt, wir würden heute Abend Naomi sehen, und diese weiß von nichts. Hat Naomi dir erzählt, mit wem sie sich treffen will?« Roman fühlte sich bedeutend wohler, endlich mit jemandem über das Thema sprechen zu können. Obwohl er sich nicht mehr genau an ihr erstes Zusammentreffen erinnern konnte, vertraute er Karsten sofort. Die Chemie stimmte. Karsten wirkte aufrichtig und interessiert, war nicht übermäßig neugierig, und trotzdem hakte er an den richtigen Stellen nach. Merkwürdig fand er allerdings, dass auch er, als angeblich bester Freund von Naomi, nichts über die Hintergründe ihrer Abreise aus Stillwater kannte. Einen Moment lang glaubte er jedoch, Karsten verheimliche ihm etwas. Aber auch das würde er noch aus ihm herauskitzeln.

»Nein. Sie hat nur gesagt, sie sei schon unterwegs.« Karsten zog eine Augenbraue hoch. »Ich kenne keinen einzigen Menschen, der so selbstlos reagiert, nachdem er abserviert wurde.« Karsten griff nach dem frischen Bier. »Ich würde zu gerne herausfinden, was deine Ex vorhat. Weißt du, wo der Treffpunkt ist?«

»Pilar sagte, Naomi sei nördlich von Barcelona wegen eines Studienkurses, aber das glaub ich ihr nicht.« Er leerte sein Bier und schob das Glas beiseite. »Irgendwas ist faul an dieser ganzen Sache. Vielleicht will sie mich doch bestrafen. Keine Ahnung.« Roman überlegte, ob er Pilar eine Gemeinheit zutraute, und schüttelte den Kopf. »Karsten. Hast du einen Wagen?«

Karsten schüttelte den Kopf. »Nein, ich fahre immer mit der U-Bahn. Warum?«

»Vielleicht wäre es ganz gut, wenn du Pilar und mir folgen würdest. Nur für den Fall, dass sie mich irgendwo in der Prärie aussetzt.« Roman kaute auf seiner Unterlippe.

»Alleine hätte ich dich sowieso nirgendwohin gelassen. Ich musste Naomi versprechen, dich nicht aus den Augen zu lassen. Mietwagenfirmen hat es hier genug. Wir sollten uns beeilen, nicht dass die schließen, bevor ich einen fahrbaren Untersatz habe.« Karsten warf einen zehn Euroschein auf den Tisch und stand auf.

Eine halbe Stunde später parkte Karsten den Wagen in der Nähe von Pilars Apartment.

»Da steht ihr Auto. Und du glaubst wirklich, dass wir uns in diesem Verkehr nicht verlieren?«, fragte Roman. Fahren würde er auf jeden Fall. Was sollte schon passieren?

»Roman. Das hier ist ein Mietwagen. Ich habe meine deutsche Adresse angegeben. Wenn ich also über rote Ampeln brettere, um an euch dranzubleiben, dann zahlt die Agentur die Strafzettel. Außer sie machen sich wirklich die Mühe herauszufinden, wo ich wohne, um die Strafen einzufordern. Und dann zahlst du sie. Das ist ja wohl klar, oder?«

»Sicher.« Roman stieg aus und sah auf die Uhr. »In einer Stunde geht´s los. Ich zähle auf dich.«

»Kannst du.« Karsten grinste ihn an. »Außer ich schlafe hier ein, weil ihr zu lange braucht.«

Roman sah an Karstens blitzenden Augen, dass er einen Witz gemacht hatte. »Und danke. Immerhin kennst du mich überhaupt nicht.«

»Dafür kenne ich Naomi. Und die würde mir den Hals umdrehen, wenn ich nicht an dir dranbleibe.« Karsten zwinkerte ihm zu. »So langsam verstehe ich auch, warum. Kaum ist sie weg, tröstest du dich mit einer anderen. Jetzt hast du eine Ex an der Backe, die mit dir eine verhängnisvolle Affäre nachspielt.«

Ein heiseres Lachen entrang Romans Kehle. So konnte es von außen betrachtet aussehen, auch wenn es ziemlich übertrieben war, denn Pilar hatte nichts getan. Noch nicht, warnte ihn eine leise Stimme in seinem Inneren. »Auf alle Fälle hast du bei mir was gut.«

Karsten winkte ab und lehnte sich im Fahrersitz zurück. »Endlich passiert hier mal was. Meine Freundin wird sich totärgern, dass sie mit einer Migräne flachliegt.«

 

*

 

Naomi legte auf. »Karsten hat Roman getroffen. Es geht ihm gut und er ist in Sicherheit. Karsten hat mir versprochen, ihn nicht aus den Augen zu lassen.« Sie ließ sich seufzend in den Sessel zurückfallen.

Leandra stand auf, ging zu ihr und setzte sich neben sie. »Dann ist ja alles bestens. Passt heute Abend aber trotzdem gut auf. Sollte diese Pilar auftauchen ...«

»Dann ist Iker da, um zu sehen, was sie im Schilde führt«, beendete Romina den Satz. »Mach dir keine Sorgen, Leandra. Es kann überhaupt nichts passieren. Alleine wird sie es nicht wagen, etwas zu unternehmen.«

»Hoffentlich behältst du recht. Aber Iker war lange nicht draußen und Dorothea ist durch die Grippe geschwächt.« Auf Leandras Gesicht zeichnete sich ihre Sorge ab. Die dunklen Schatten unter ihren Augen ließen sie um Jahre älter aussehen.

Naomi drückte ihr das Knie. »Oma, das weiß Pilar aber nicht. Sie wird sehen, dass wir zu viert sind und abhauen. Wenn sie sich überhaupt zum Treffpunkt wagt.« So selbstsicher, wie Naomi sich gab, war sie keinesfalls.

Aber Roman war außer Gefahr und nur das zählte. Karsten würde den Abend über mit ihm zusammen sein und auf ihn achten. Was sollte Pilar in diesen zwei Stunden schon ausrichten?

»In einer Stunde geht´s los. Ruht euch aus. Vor allem du Naomi, nachdem du den ganzen Tag auf den Beinen warst. Es dürfen uns keine Fehler unterlaufen. Wir müssen vorsichtig sein.«

Romina hatte recht. Sie musste sich ausruhen. Ausgelaugt von der vergeblichen Suche nach Roman, war sie vor einer halben Stunde bei ihrer Familie angekommen. Dorothea ruhte schon seit dem Mittagessen, Iker tigerte unruhig im Wohnzimmer auf und ab, während Romina versuchte, Ruhe und Gelassenheit auszustrahlen. Zwei Mal hatte Naomi ein nervöses Augenzucken bei ihr entdeckt, was sie annehmen ließ, dass Romina nicht weniger aufgeregt war, als sie selbst.

Karstens Anruf beruhigte Naomi ein wenig. Vergangene Nacht hatte sie wieder diesen verrückten Traum gehabt. Auch wenn sie wusste, dass Roman bei Karsten war, so kreisten ihre Gedanken doch immer wieder um diesen Albtraum. Sie streifte sich die Schuhe ab. Auf dem Sofa ausgestreckt gähnte sie herzhaft.

»Iker, komm schon. Auch du solltest dich ausruhen.« Romina verließ mit leisen Schritten das Wohnzimmer.

»Naomi. Mach dir keine Sorgen wegen des Traums. So wird es nicht kommen. Es ist nur deine eigene Angst, die dich im Griff hat. Glaub mir.« Iker nickte ihr kurz zu, bevor auch er das Zimmer verließ.

»Was für ein Traum?«, fragte Leandra.

»In Deutschland träumte ich doch von Roman und dieser fremden Lichtung. Gestern kam der Traum wieder. Er bricht immer an derselben Stelle ab.« Naomi drehte sich auf die Seite und stopfte sich ein Sofakissen unter den Kopf. »Iker hat recht. Es ist nur ein Traum. Karsten und Roman veranstalten eine Kneipentour und schlagen sich die Nacht um die Ohren.«

Leandra nickte. »Eben. Was hätte er auch im Wald zu suchen?«

Naomi schloss die Augen und sah wieder das Bild, wie Roman auf der Lichtung stand.

Weder Karsten noch Roman wussten, dass ihnen Pilar gefährlich werden konnte. Naomi musste die beiden vor ihr warnen. Naomi war davon überzeugt, dass Karsten sein Versprechen, Roman nicht aus den Augen zu lassen, halten würde. Trotzdem wäre es besser, wenn sie Karsten noch eine Warnung per SMS schickte. Sie griff nach ihrem Handy und schrieb: Du musst Roman von seiner Freundin Pilar fernhalten. Unter keinen Umständen darf er mit ihr alleine sein. Bitte. Es ist wichtig. Ich erkläre dir alles später. Danke Naomi. Nachdem sie den Text nochmals durchgelesen hatte, schickte sie die Nachricht an Karsten. Eine passende Erklärung für ihr Verhalten musste sie sich noch einfallen lassen.

 

Eineinhalb Stunden später fuhr Naomi mit Romina, Iker und Dorothea in Richtung Norden auf der Carretera Cerdanyola. Kaum hatten sie Barcelona hinter sich gelassen, schlängelte sich die schmale Straße durch einen dichten Wald. Die Sonne ging gerade unter, als Iker in eine Seitenstraße einbog. Keiner im Wagen sprach ein Wort. Jeder hing seinen Gedanken nach.

Dorothea starrte aus dem Fenster, während Romina am Radio herumspielte, um einen Sender einzustellen, der Musik nach ihrem Geschmack brachte. Nachdem sie das fünfte Mal den Kanal gewechselt hatte, schaltete sie das Radio ab.

Naomi kam das alles unwirklich vor. Sie fuhren zu viert in den Wald, als unternähmen sie einen Familienausflug. Eigentlich handelte es sich dabei sogar um einen. Nur, dass niemand einen Picknick-Korb eingepackt hatte.

Iker brummte. »Weißt du, wie lange ich nicht mehr draußen war? Ich meine, wirklich draußen im Wald? Ich komme keinen Baum mehr hoch.«

»Damit bist du nicht alleine. Naomi wird das auch noch nicht schaffen«, meinte Romina. »Euch fehlt es beiden an Übung.«

Und ob sie das konnte! Iker zuliebe schluckte sie die Bemerkung hinunter. Sie fing Ikers Blick im Rückspiegel auf. Er zog eine Augenbraue nach oben. Er hatte wieder in ihren Gedanken gelesen. Vielleicht hielt sich Romina aus diesem Grund niemals mit ihrer Meinung zurück. Ob sie nur darüber nachdachte, oder es gleich laut aussprach, spielte keine Rolle. Iker erfuhr es sowieso.

 

*

 

Pilar stieg mit Roman in ihren Wagen. In ihren Ohren klang immer noch Sammys Warnung. Sie fühlte sich hilflos, da sie wusste, Sammy würde seine Drohung wahr machen. Alleine konnte sie ihren Vater nicht schützen und sie wusste nicht, wie stark Sammys Clan war und wo sich seine Verbündeten aufhielten. Wie gerne wäre sie einfach, wie früher, in den Wald gegangen, um diese schrecklichen Nächte hinter sich zu bringen, die sie alleine durchstehen musste.

Sammy hatte ihr eindeutig erklärt, was sie zu tun hatte. Sie sollte Roman und auch Naomi umbringen. Ausgerechnet sie! Pilar hasste Naomi dafür, dass Roman sie wegen ihr verlassen wollte, doch war es für sie nicht Grund genug, beide zu töten. Wie sollte sie das auch anstellen?

»Willst du mir nicht endlich sagen, wohin wir fahren werden?«, fragte Roman.

»Nach Norden. Der Ort liegt gleich außerhalb von Barcelona. Wenn ich dir den Namen nenne, hilft dir das doch auch nicht weiter, oder?«

Roman nickte. »Warum treffen wir Naomi eigentlich nicht hier in der Stadt in einem Bistro?«, stocherte er weiter.

»Wir können auch hierbleiben.« Pilar schaltete den Motor aus und sah ihn an. »Es ist nicht meine Schuld, dass sie in der Pampa wohnt. Wenn ich mich verfahre, hat sich das Treffen sowieso erledigt.«

»Tut mir leid. Ich bin dir ja dankbar, dass du das für mich tust.« Er lehnte sich im Beifahrersitz zurück und schnallte sich an.

Sie nickte und ließ den Motor an. Beim Ausparken krachte sie an die Stoßstange des Wagens hinter ihr, bevor sie aus der Parklücke ausscherte. Ihre Nerven lagen blank.

Pilar kurvte durch die Innenstadt und klammerte sich am Lenkrad fest.

»Warum tust du das?«, fragte Roman.

»Was?«, fragte Pilar zurück.

»Du weißt genau, wovon ich rede.«

Pilar kniff die Lippen zusammen. Dann antwortete sie: »Ich weiß es nicht. Irgendwie bleibt mir keine andere Wahl.«

»Das verstehe ich nicht«, erwiderte Roman.

»Da gibt es auch nichts zu verstehen. Es ist, wie es ist. Können wir diese Unterhaltung bitte lassen? Ich will nicht darüber sprechen, okay. Es fällt mir schwer, das zu tun.« Pilar beobachtete Roman, der aus dem Fenster starrte. Mit Recht fragte er nach. Sie selbst würde ihr Verhalten auch als merkwürdig empfinden. Wäre nicht Sammys Drohung, hätte sie Roman einfach aus ihrer Wohnung geworfen und darauf gehofft, dass er bald wieder zu ihr zurückkäme.

Barcelona blieb hinter ihnen zurück. In Schlangenlinien wand sich die Straße zwischen hoch aufragenden Bäumen durch die hügelige Gegend. Die Dämmerung brach herein und Pilar schaltete die Scheinwerfer ein.

Roman seufzte. »Bist du sicher, dass du dich noch nicht verfahren hast?«

Sie nickte.

Nach geschätzten fünf Kilometern bog Pilar in einen schmalen Feldweg ein. Plötzlich hielt sie an.

»Was willst du hier?«, fragte Roman.

»Aussteigen.« Pilar kramte in ihrer Handtasche, bis sie fand, was sie suchte. »Ein Stück weiter den Weg hoch soll diese Jagdhütte liegen, wo Naomi im Moment wohnt. Ich dachte, ich könnte es, aber ich kann es nicht. Tut mir leid.« Schwungvoll öffnete sie die Fahrertür und stieg aus.

Roman verließ ebenfalls den Wagen. »Was kannst du nicht?«

»Mit dir hochfahren. Fahr du alleine. Du kommst schon klar.« Pilar lehnte sich gegen das Fahrzeug.

»Ich kann dich doch nicht einfach hierlassen. Mitten im Nirgendwo.« Roman ging um das Auto und blieb neben ihr stehen.

»So schlimm ist es nicht. Wir sind kaum vier Kilometer von der Stadt entfernt. Ich komm schon zurecht.« Sie deutete in das Wageninnere. »Fahr. Ich ertrage es nicht, euch zusammen zu sehen.«

Er nickte und setzte sich auf den Fahrersitz. »Danke. Das werde ich dir nie vergessen.«

Pilar biss sich auf die Unterlippe.

»Hast du die Schlüssel?«, fragte Roman, als er den Wagen anlassen wollte. Die linke Hand am Lenkrad beugte er sich in den Fußraum des Wagens, um sie dort zu suchen.

Pilar bückte sich zu ihm hinunter. Im ersten Moment musste Roman annehmen, sie wolle ihn zum Abschied küssen und hielt ihr die linke Wange hin.

Mit schnellen Handbewegungen drückte sie die Zahnrasten zusammen. Fast zeitgleich schloss sie die Handschellen erst um das Lenkrad, dann um sein linkes Handgelenk und trat zwei Schritte zurück.

Die Überraschung stand Roman ins Gesicht geschrieben. Er rüttelte an den Handschellen. »Mensch, Pilar. Lass den Blödsinn. Mach mich los.«

»Später. Erst muss ich was erledigen.« Sie ging um den Wagen, nickte ihm zu und ließ ihn zurück. »Es tut mir leid«, flüsterte sie, auch wenn Roman sie nicht mehr hören konnte, da sie bereits im Wald verschwand.

Roman rief noch mehrfach ihren Namen. Sie hielt sich die Ohren zu, weil sie es nicht ertrug. Tränen stiegen ihr in die Augen.

Zum ersten Mal in den vergangenen zwei Jahren spürte sie, dass sie etwas in diesen Wald zog. Bisher hatte es sie zwar auch in den Wald gedrängt, aber niemals zu einem bestimmten Ort. Immer war sie alleine geblieben. Immer hatte sie sich von dieser merkwürdigen Situation überfordert gefühlt. An diesem Tag empfand sie etwas Anderes.

Auch wenn alles in ihr schrie, sie solle umkehren, zu Roman zurückgehen, ihn losmachen, lief sie weiter, um zu vollenden, was Sammy ihr befohlen hatte. Sie durfte das Leben ihres Vaters nicht aufs Spiel setzen.

Ihre Schritte verlangsamten sich, als eine Lichtung vor ihr auftauchte. Die letzten Sonnenstrahlen tauchten die Stelle in ein mystisches Licht. Inmitten der Waldschneise ragte die größte Steineiche auf, die Pilar je gesehen hatte. Sie beschattete ein freies Feld.

Nur wenige Strahlen des verblassenden Sonnenlichts durchdrangen das dichte Blätterdach. Für einen kurzen Moment war sie versucht, auf die Lichtung zu treten, die Eiche zu berühren, um ihrem inneren Drang nachzugeben.

Ein Geräusch ließ sie herumfahren. Pilar ging in die Hocke und lauschte. Jemand näherte sich. Sie hörte Stimmen. Naomi kam offensichtlich nicht alleine. Wie sollte sie gegen mehrere Gegner kämpfen?

Pilar schüttelte den Kopf, als sie sah, dass drei Frauen und ein Mann sich unter der Eiche niederließen. Zwei der Frauen sahen sich zum Verwechseln ähnlich. Auf dem Gesicht der dritten Frau lag ein Schatten, sodass es Pilar nicht möglich war, ihre Gesichtszüge zu erkennen. Der Mann schien älter zu sein als die Frauen. Sammy hatte kein Wort darüber verloren, dass Naomi mit Freunden hier auftauchen könnte.

Mit lautlosen Schritten vergrößerte sie den Abstand zwischen sich und den Fremden. Nach der Verwandlung wollte sie die anderen einige Zeit aus der Ferne beobachten und dann entscheiden, was sie unternehmen wollte.

 

*

 

Roman schob den Sitz zurück, griff mit der rechten Hand nach der Kette, stemmte den Fuß ans Armaturenbrett und zog. Nichts. Die Handschellen erwiesen sich als stabil. Nachdem er nicht in der Lage war, sich selbst zu befreien, kroch er mühsam rückwärts aus dem Fahrzeug, stand auf und sah den Feldweg entlang. Karsten müsste längst hier sein.

Nur herumstehen und abwarten brächte ihn auch nicht weiter. Er setzte sich wieder auf den Fahrersitz und kramte mit der rechten Hand unter dem Beifahrersitz. CDs, eine Straßenkarte und eine Plastiktüte. Nichts was ihm nützlich sein konnte. Im Handschuhfach entdeckte er außer den Fahrzeugpapieren einen Kugelschreiber. Mit der Spitze stocherte er im Schlüsselloch herum, rutschte ab und fluchte.

»Was ist denn mit dir passiert?«

Roman fuhr herum und stieß sich am Türrahmen den Kopf. »Mensch, hast du mich erschreckt! Wo hast du nur gesteckt?«

Karsten grinste ihn an. »Nachdem ich mich nicht erwischen lassen wollte, bin ich langsam den Weg entlang gefahren, vor jeder Kurve ausgestiegen und erst weitergefahren, wenn als Luft rein war. Da hat Pilar ja ganze Arbeit geleistet.«

Roman brummte. »Keine Ahnung, wie sie zu diesen Handschellen gekommen ist.«

»Na ja, die gibt´s schließlich in jedem Sexshop zu kaufen.« Karsten stemmte die Hände in die Hüften. »Die große Preisfrage ist, wie wir dich daraus befreien. Mit dem Stift schaffst du das jedenfalls nicht. So was klappt nur in Filmen.«

»Und wie dann? Hast du eine Säge oder Zange in der Hosentasche?« Roman ließ sich zurück in den Sitz sinken. »Warum hat sie mich hier überhaupt festgemacht?«

Karsten zuckte mir den Schultern. »Mal sehen, was ich im Kofferraum finde. Wo steckt Pilar eigentlich? Hatte sie ein anderes Auto hier geparkt und ist weggefahren, oder was war los?«

»Sie ist in den Wald gegangen.« Roman konnte es sich nicht erklären. »Was ist, wenn sie Naomi hierher gelockt hat? Vielleicht ist sie ja doch durchgeknallt.« Roman zerrte erneut an der Kette. »Mach mich endlich los!«

Karsten streckte den Kopf hinter dem Kofferraum hervor. »Hier gibt es nichts Brauchbares. Hm, vielleicht klappt es ja damit.«

Roman wandte sich um. Karsten stand mit dem Wagenheber vor ihm. »Was willst du mit diesem Monstrum?«

Karsten schob seine Unterlippe nach vorn. »Versuch mal auf den Beifahrersitz zu klettern.«

Roman kroch seitlich über die Gangschaltung.

»Doch, das könnte funktionieren.« Karsten hob den Wagenheber an und bewegte ihn in einem Bogen auf das Lenkrad zu. »Der Winkel passt. Zieh dein Handgelenk unter das Lenkrad, und nimm den Kopf zurück, damit ich dich nicht verletze. Vielleicht kann ich die Dinger kaputt schlagen.«

Roman lehnte sich so gut es ging in Richtung Handschuhfach, zog seinen linken Arm nach unten, damit die Kette gespannt war und Karsten direkt auf den Stahlring am Lenkrad schlagen konnte.

Karsten holte aus und ließ den Wagenheber mit voller Wucht auf das Lenkrad sausen. Ein Knall folgte.

Roman zerrte an der Kette. Er schielte am Airbag vorbei.

»Den habe ich ganz vergessen.« Karsten saß auf seinem Hintern und rieb sich das rechte Ohr. »Mist. Hätte nicht gedacht, dass diese alte Karre überhaupt einen eingebaut hat. Bist du in Ordnung?«

»Alles klar. Außer, dass ich immer noch an diesen Dingern hänge. Versuch es noch mal.« Roman wollte aus diesem Fahrzeug heraus. »Dein Handy hat gerade geklingelt.«

Mit einem Griff zog er das Telefon aus der Hosentasche. »Eine Nachricht von Naomi.« Kasten schüttelte den Kopf. »Super. Naomi schreibt, ich soll dich nicht mit deiner Ex alleine lassen. Die Nachricht kommt ein bisschen spät, nicht?« Er drückte den aufgeblähten Ballon zusammen und legte die Kette zurecht. Wieder holte er aus, schlug zu; doch nichts tat sich.

»Es muss einfach klappen. Sonst musst du alleine los.« Roman sah Karsten an. »Naomi könnte in Gefahr sein.«

»Du glaubst echt, Pilar würde ihr was antun?« Karsten schlug erneut zu. Es knirschte und die Stahlschelle verbog sich. Nach einem weiteren Treffer sprang die Schelle endlich auf. »Na also. Jetzt aber los.«

Roman rieb sich das schmerzende Handgelenk. Die Handschelle baumelte daran. Wie er sich ohne einen Schlüssel daraus befreien sollte, war ihm im Moment gleichgültig. Wichtig war nur die Suche nach Pilar. Sie würde ihn zu Naomi führen. Außer, es wäre tatsächlich so, dass Pilar woanders einen Wagen geparkt hatte und ihn im Wald für eine Nacht bestrafen wollte, weil er sie verlassen hatte. Doch nach Naomis Nachricht glaubte er nicht mehr daran.

»Und wohin sollen wir gehen?«, fragte Karsten.

Er zeigte auf die Stelle, wo Pilar in den Wald gelaufen war. »Hier entlang. Und dann gehen wir einfach geradeaus.«

»Prima. Ich wollte schon immer mal eine Nachtwanderung unternehmen.« Karsten folgte Roman, der zielstrebig durch die Bäume schritt.

Roman und Karsten gingen schweigend nebeneinander her. Beide versuchten, so wenig Geräusche wie irgend möglich zu verursachen, was sich in Anbetracht der zunehmenden Dunkelheit als schwierig erwies. Bei jedem Knacken zuckten sie zusammen, verharrten und lauschten in die Nacht. Roman wäre am liebsten schneller gegangen, doch Karsten mahnte ihn zur Ruhe, um Pilar nicht aufzuschrecken, sollte sie sich in der Nähe aufhalten.

»Wie lange suchen wir eigentlich schon?«, flüsterte Roman Karsten ins Ohr.

Karsten sah auf die Uhr. »Kurz nach Elf.« Plötzlich legte er den Zeigefinger an die Lippen.

Roman zuckte mit den Schultern, um Karsten zu signalisieren, dass er nichts gehört hatte, als er doch ein leises Rascheln vernahm. Es konnte sich um ein Tier handeln, aber es könnte auch Pilar sein. Behutsam tasteten sie sich voran, bis Roman erschrocken stehen blieb. Vor ihm lag Pilars Kleidung. Selbst ihre Schuhe standen daneben.

Karsten betrachtete den ordentlich zusammengelegten Stapel, runzelte die Stirn und sah ihn fragend an.

Roman schüttelte den Kopf, um zu erklären, dass er es ebenso wenig verstand. Er ging um die Kleidungsstücke herum, um in die Richtung zu gehen, aus der vorher das Geräusch gekommen war.

Wieder hörten sie Geraschel. Dieses Mal lauter. Sie schlichen weiter, bis vor ihnen die vom Vollmond hell erleuchtete Lichtung auftauchte. Im Schatten der Pinien blieben sie stehen. Ungläubig sah sich Roman nach Karsten um. Dieser stand reglos mit aufgerissenen Augen hinter ihm. Irgendetwas an dieser Situation kam Roman bekannt vor.

Als Karsten sich aus seiner Starre löste, zog er Roman behutsam am Ärmel zurück. Roman starrte auf die eleganten Tiere, schlug sich mit der Hand auf den Mund, als plötzlich Erinnerungsfetzen über ihn hereinbrachen.

 

*

 

Nach ihrer Verwandlung verbrachten sie die erste Zeit mit Warten. Doch niemand erschien. Naomi versuchte, sich die Bilder aus ihren Träumen in Erinnerung zu rufen, doch das Bild blieb vor ihrem inneren Auge verschwommen. Es könnte diese Lichtung sein, doch sie könnte sich ebenso gut auch täuschen.

Iker schlich am Rande der Lichtung auf und ab, in der Hoffnung irgendwann einen Gedanken aufzuschnappen. Entweder es hielt sich tatsächlich keiner in ihrer Nähe auf, oder seine Fähigkeiten versagten ihm den Dienst.

Dorothea ruhte unter der Eiche und nagte an einer ihrer Krallen. Romina beobachtete Iker, der immer noch am Waldrand entlanglief, und Naomi wusste nicht, was sie tun sollte. Dieses Treffen hatte sie sich ganz anders vorgestellt. Jetzt war sie endlich nicht mehr alleine und trotzdem trainierte niemand mit ihr. Mit hängendem Kopf tapste sie zu Dorothea und stupste sie aufmunternd an.

Dorothea sah sie an. »Ich bin noch zu schwach, um große Rennen zu veranstalten. Diese Grippe hat mich ausgelaugt. Geh und frag Romina, ob sie einen Kampf mit dir simuliert.«

»Wenn sie auch nicht will, könntest du dich dann wenigstens woanders hinlegen, damit ich auf die Eiche klettern kann?«, dachte Naomi.

Dorothea antwortete nicht, nur ein leises Fauchen drang aus ihrer Kehle. Naomi nahm es als Zustimmung und rannte auf Romina zu.

Romina funkelte sie an. »Warum kannst du nicht einfach Ruhe geben? Du lenkst Iker ab«

»Weil ich seit Monaten darauf brenne, mit jemandem zu trainieren. Und jetzt sitze ich wieder nur tatenlos herum.«

»Sei ruhig. Iker tut sein Bestes und du störst ihn mit deinem lauten Genörgel.« Romina wandte sich ab.

Naomi schlenderte in die Mitte der Lichtung. Sie betrachtete die Eiche. Es wäre ein Leichtes diesen Baum zu erklimmen. Dorothea lag aber immer noch darunter, und so entschied sie sich, einige Sprünge aus dem Stand zu üben. Sie zog die Sprunggelenke zusammen, schnellte hoch und kam zwei Meter links von ihrem Ausgangspunkt auf. Kaum spürte sie den Boden unter den Pfoten, sprang sie erneut in die Luft. Noch bevor sie wieder auf dem Waldboden landete, vernahm sie Ikers Warnung.

Die Augen fest auf Iker gerichtet, beobachtete sie, wie er sich rückwärts in die Lichtung zurückschob. Romina trat hinter ihn. Neben Romina erschien Iker wie ein Halbwüchsiger, obwohl er bedeutend größer und kräftiger als Naomi war.

»Komm schon aus diesen Büschen heraus«, forderte Iker. »Ich höre deine Gedanken. Lass uns darüber sprechen. Keiner kann dich zwingen, etwas zu tun, was du nicht tun willst. Wir können dir helfen. Noch hast du nichts getan.«

Naomi hörte es im Gebüsch rascheln. Der Vollmond verschwand hinter einer Wolke, und die Stelle, an der die Katze die Lichtung betrat, lag in tiefem Schatten.

Wegen der kleinen Statur schätzte Naomi, dass sie in etwa gleich alt sein mussten.

Langsam und in geduckter Haltung ging der Neuling auf Iker zu.

Iker setzte sich auf die Hinterpfoten. »Du musst Pilar sein. Ich habe dich bereits am Flughafen entdeckt. Bevor ich mit dir reden konnte, warst du in der Menge verschwunden. Keine Angst. Ich wollte dir damals schon helfen.«

»Wieso solltest du mir helfen?«, fragte die Fremde.

»Du wirkst verzweifelt. Deswegen.« Iker saß immer noch ruhig da, obwohl sich die Unbekannte näherte.

Romina ließ Pilar nicht aus den Augen. Offensichtlich traute sie ihr nicht.

Naomi stand inmitten der Lichtung und beobachtete, wie Iker versuchte, Pilar zu überzeugen, dass es besser für sie wäre, sich ihm anzuvertrauen.

»Achtung! In Deckung! Es ist eine Falle!«, dachte Iker laut, fuhr herum und suchte den Waldrand ab. »Es ist noch jemand hier!«

Die Wolke gab den Mond frei und erhellte die ganze Szenerie. Ein metallisches Klacken hallte durch die Nacht und plötzlich kam Bewegung in Dorothea, die bisher unter der Eiche gelegen hatte.

Mit großen Sätzen rannte sie auf Naomi zu, die ungeschützt inmitten der Lichtung kauerte. Ein Knall zerriss die Stille. Dorotheas Körperspannung gab nach. Mit ihrem letzten Sprung war sie bei Naomi gewesen, wo sie nun wie ein Stein neben ihr auf die Erde fiel. Ein scharfer Schmerz durchzuckte Naomis rechten Hinterlauf.

Schnelle Schritte, gefolgt von einem entsetzten Schrei drangen durch die Dunkelheit.

Romina reagierte sofort, als das metallene Klicken erneut zu hören war. Sie preschte in die Richtung, in die Iker sah. Ihr Lauf stoppte jäh, als ein Panther aus dem Gebüsch brach und über sie herfiel. Ihr Körper wurde zur Seite geworfen, und innerhalb von Sekunden verkeilten sich die beiden Tiere wie ein Fellbündel ineinander.

Naomi sah zu Iker, der Pilar nicht aus den Augen ließ. Sie kauerte sich dicht auf dem Boden zusammen.

Dorothea lag immer noch reglos neben ihr. Naomis Hinterlauf brannte wie Feuer, aber sie konnte ihn noch bewegen. Jemand musste auf sie geschossen haben. Doch wenn sie selbst getroffen worden war, warum stand Dorothea nicht auf? Sie stupste sie an der Schulter an. »Dorothea, steh auf.«

»Hilf Romina. Es muss Walter sein. Und noch jemand mit einer Waffe. Als die Wolke den Mond freigab, sah ich das Glitzern im Wald. Ich habe gesehen, dass der Lauf auf dich gerichtet war. Er darf nicht nochmals schießen. Such ihn, vernichte ihn. Lauf.«

Naomi entdeckte ein Einschussloch in Dorotheas Körper. Blut quoll aus ihrem Bauch. Ohne Hilfe würde sie die Verletzung nicht überleben. Sie zögerte, weil sie Dorothea nicht zurücklassen wollte.

»Geh endlich!«, flehte Dorothea.

Nach einem letzten Blick auf Dorothea gehorchte sie. Mit weiten Sätzen überquerte sie die Lichtung, stürmte an Romina und Walter vorbei in den Wald. Die Kampfgeräusche auf der Lichtung dröhnten durch die Nacht.

Naomi hetzte durch die Büsche auf der Suche nach dem Schützen, der vermutlich immer noch versuchte, einen weiteren Treffer zu landen. Mit jedem Satz brannte das Feuer in ihrem Hinterlauf heißer. Sie musste ihn einfach finden.

Dann vernahm sie Knacken und Schritte rechts von sich. Leise pirschte sie sich voran. Karsten stand mit einer Flinte im Anschlag vor ihr, zielte auf Roman und Geoffrey, die sich auf dem Boden wälzten und aufeinander einprügelten. Karsten entdeckte sie und hielt den Lauf auf sie.

Naomi duckte sich zusammen. »Nicht. Karsten, ich bin es.«

Doch Karsten konnte sie nicht verstehen. Mit angstgeweiteten Augen starrte er sie an. Sein Finger zuckte.

»Lass sie in Ruhe, du Idiot«, brüllte Roman. Er hatte Naomi ebenfalls bemerkt. Der kurze Moment der Ablenkung genügte Geoffrey, um Roman einen Kinnhaken zu verpassen. Roman fiel auf den Rücken. Geoffrey beugte sich über ihn und holte erneut aus.

Naomi setzte zum Sprung an, schnellte hoch und riss Geoffrey von Roman herunter. Mit ihrer rechten Pranke fuhr sie ihm quer über die Brust. Sein gellender Schrei ließ sie zusammenzucken. Mit ihrer Schnauze berührte sie seine Kehle. Naomi war bereit zuzubeißen.

»Naomi, bitte, tu´s nicht.« Roman kniete zwei Meter vor ihr und sah sie flehend an. »Er ist es nicht wert.«

In diesem Moment begriff Naomi. Roman wusste, wer und was sie war. Wenn sie Geoffrey jetzt tötete, wäre sie für ihn eine Bestie. Dieser Biss würde alles zerstören. Ihre Wut auf Geoffrey kämpfte gegen die Vorstellung an, Roman zu verlieren. Und das würde sie unweigerlich, wenn sie ihrer Wut nachgäbe. Sie konnte es in seinen Augen sehen. Mit einem Fauchen ließ sie von Geoffrey ab.

Karsten richtete die Flinte auf Geoffrey und beobachtete Naomi aus den Augenwinkeln. Mit einem letzten Blick auf Roman zog sie sich zurück. Hier drohte keine Gefahr mehr. Sie musste zu den anderen.

Romina kauerte neben Dorothea. Am Waldrand lag Walter mit zerfetzter Kehle. Iker und Pilar saßen ebenfalls bei Dorothea.

»Pilar wusste nichts von diesem Hinterhalt«, erklärte Iker Romina. »Es ist nicht ihre Schuld.«

»Wie geht es Dorothea?«, fragte Naomi.

Rominas Fell zuckte. »Sie stirbt.«

Mit der Schnauze strich Naomi über Dorotheas Vorderlauf. »Du hast mir das Leben gerettet.«

»Ja. Und mit etwas Glück sterbe ich heute endgültig«, vernahm sie Dorotheas leisen Gedanken.

»Naomi, werde glücklich. Kämpfe dafür. Es lohnt sich. Folge immer deinem Herzen.« Ihr Atem ging rasselnd, bis er schließlich aussetzte.

»Das verspreche ich dir.« Dieses Mal kam ihr Versprechen von Herzen. Sie würde für ihr Glück kämpfen. Und wenn sie ihr Leben dafür geben müsste.

»Hast du den Mistkerl getötet?«, fragte Romina.

»Nein. Vor Karsten und Roman konnte ich es nicht tun.«

»Roman ist hier? Ich hatte ihn doch mit Handschellen ans Lenkrad gekettet.« Pilar stand auf und ging einige Schritte rückwärts.

Aus Rominas Kehle entwich ein heiseres Grollen. »Wer ist Karsten?«

»Mein bester Freund.« Naomis Körper verspannte sich. »Und ich werde weder Roman noch Karsten verlassen. Nicht dieses Mal.«

»Wir werden sehen.« Iker strich an ihrem Leib entlang. »Das müssen wir nicht heute entscheiden.«

Naomi hatte sich längst entschieden. Nichts brächte sie von ihrem Entschluss ab. Und wenn sie deswegen von ihrem eigenen Clan verstoßen würde, dann sollte es eben so sein.

Hinter ihnen knackten Zweige. Romina hob den Kopf, bereit für den nächsten Angriff.

Neben der Eiche stand Roman mit nacktem Oberkörper im silbernen Mondlicht. Es handelte sich um das Bild aus Naomis Träumen. Sie sprang auf die Beine. Doch nichts veränderte sich. Keine Wolke schob sich vor den Mond, keine Dunkelheit hüllte ihn ein; das Gefühl von drohender Gefahr war nicht mehr greifbar.

Karsten trat hinzu. Auch er trug kein Hemd mehr. Das Gewehr hielt er in der Hand. Der Lauf zeigte zu Boden.

»Ich weiß nicht, ob ihr mich verstehen könnt«, begann Roman. »Der Kerl, der auf euch geschossen hat, liegt verschnürt im Wald. Sonst haben wir niemanden gesehen.«

Karsten setzte sich im Schneidersitz unter die Steineiche. »Wir bleiben hier, bis es hell wird. Falls noch jemand auftauchen sollte ...« Er hielt die Flinte hoch und nickte.

Die restliche Nacht grübelte Naomi darüber nach, was Karsten und Roman in den Wald geführt hatte. Karsten sollte Roman den Abend nicht aus den Augen lassen, was er auch tatsächlich getan hatte, sonst wären sie nicht beide hier. Was sie auch immer hierher geführt hatte, es war ein glücklicher Zufall. Alle versammelten Clanmitglieder mussten zugeben, dass diese Nacht ohne die beiden mit Sicherheit schlechter geendet hätte. Geoffrey hätte die Möglichkeit zu weiteren Schüssen gehabt, wenn er nicht so schnell überwältigt worden wäre.

In dieser Nacht starb Dorothea zum letzten Mal. Naomi bedauerte, sie nicht besser kennengelernt zu haben.

Am purpurnen Horizont zeichnete sich das Ende der Nacht ab. Naomi ging zu Roman und Karsten. Jeder Schritt schmerzte sie. Doch die Wunde würde heilen, und immerhin war sie am Leben.

Roman stieß Karsten an, als er sah, dass Naomi auf ihn zukam. Beide sprangen auf die Beine.

Naomi stupste erst Roman und dann Karsten an. Sie schienen nicht zu verstehen. Die nächsten Stöße fielen etwas heftiger aus und sie ging einige Meter auf den Wald zu.

»Wir sollen gehen?«, fragte Roman.

Karsten nickte. »Ich glaube schon. Die Nacht ist vorbei, also lass sie alleine.«

Roman drehte sich nochmals zu ihr um. »Wir warten dort hinten auf euch.« Er zeigte in die Richtung, in die sie weitergingen.

Naomi sah ihnen nach, wandte sich ab und legte sich zu den anderen unter die Eiche.

 

*

 

Naomis Großmutter stand an der Haustür und starrte mit ungläubigem Blick auf die drei Fahrzeuge, die in der Hofeinfahrt zum Stehen kamen.

Roman sprang aus dem Wagen, öffnete die Beifahrertür und half Naomi aus dem Auto. Leandra rannte auf sie zu, als Roman sie hochhob, um sie ins Haus zu tragen.

»Was ist mit dir?«, rief sie.

Naomi rang sich ein Lächeln ab. »Es ist nicht so schlimm, Oma. Wirklich nicht.«

»Leandra, beruhige dich.« Romina griff nach Leandras Arm. »Naomi kommt wieder in Ordnung.«

Romina wandte sich an Iker. »Er soll sie in Dorotheas Zimmer tragen. Bring ihnen Verbandszeug und etwas zum Desinfizieren.« Iker stieg vor ihnen die Treppen hoch in den ersten Stock.

»Wo ist Dorothea?«

Naomi hörte die Panik in Leandras Stimme und schloss die Augen.

»Was zum Teufel ist heute Nacht passiert? Und, was machst du eigentlich hier?« Leandra drehte sich zu Karsten um, der reglos im Flur stand. Dann zeigte sie auf Roman. »Und wer ist das?«

»Das ist Roman«, sagte Karsten.

Romina schob Leandra ins Wohnzimmer. »Komm mit. Ich werde dir alles erklären.«

Roman trug Naomi nach oben. Sie konnte es kaum glauben, ihn endlich wieder bei sich zu haben. Behutsam legte er sie aufs Bett.

Mit einem Köfferchen in der Hand betrat Iker das Schlafzimmer. »Lass mich mal sehen.«

»Ich übernehme das«, mischte sich Roman ein. »Bitte.«

Iker zögerte einen Moment, bevor er nickte und das Zimmer verließ.

Schweigend zog Roman ihr die blutbefleckten Hosen aus. »Gott sei Dank ist es nur ein Streifschuss.«

Naomi nickte und sah ihm in die Augen. »Es tut mir leid.«

»Das muss es nicht.« Er zog einen Wattebausch aus dem Verbandskasten, tränkte ihn mit dem Desinfektionsmittel und betupfte die Wunde an ihrem rechten Oberschenkel. »Aber du schuldest mir eine Erklärung. Du hast mich einfach zurückgelassen. Ohne ein Wort.«

Sie biss die Zähne zusammen, bis das Brennen in ihrer Wunde nachließ. »Ich muss dir viel erklären«, flüsterte sie.

Roman nickte. »Lass mich hier erst fertigmachen.«

Schweigend untersuchte er die Verletzung. Naomi beobachtete ihn, wie er behutsam den Verband anlegte. Es war nur ein schmerzhafter Kratzer, nicht weiter gefährlich.

»Im Wald«, begann Roman. »Da konnte ich mich plötzlich an alles wieder erinnern. An dich, den Kampf ...«

Beinahe schüchtern setzte er sich neben sie. Naomi sah ihn an, zog ihn an sich und küsste ihn. »Du weißt noch längst nicht alles.« Sie lehnte sich an seine Schulter und begann, ihm ihre Geschichte zu erzählen.

 

*

 

»Es ist doch klar, dass ich keinem auch nur ein Wort verraten werde«, sagte Karsten und ließ sich zurück in die Polster sinken. »Das würde mir sowieso niemand glauben. Ich habe es mit eigenen Augen gesehen und glaube es kaum.«

»Alice wird fragen, wo du die Nacht verbracht hast«, wandte Naomi ein.

»Sie wird es mir schon abnehmen, wenn ich ihr erkläre, ich wäre mit Roman durch die Kneipen von Barcelona gezogen. Die erste Zeit wird sie zwar schmollen, aber wenn ich ihr erzähle, ich hätte euch wieder zusammengebracht, wird sie einlenken und mir verzeihen.«

Iker sah zu Romina. Diese zuckte nur mit den Schultern. »Das könnte funktionieren. Karsten macht weiter mit seinem Studium. Und Naomi geht mit Roman und Leandra nach Deutschland.«

Leandra saß im Wohnzimmersessel und schüttelte immer wieder den Kopf. »Arme Dorothea«, flüsterte sie.

»Ich habe Walter einfach zu spät gehört.« Iker marschierte im Wohnzimmer auf und ab. »Es ist meine Schuld. Ich hätte mich nicht ausschließlich auf Pilar konzentrieren dürfen.«

Romina ging auf Iker zu und nahm ihn in den Arm. »Nein. Du konntest nicht wissen, dass Walters Sohn mit einem Gewehr auf uns wartet.«

»Trotzdem hätte ich aufmerksamer sein müssen. Dann hätte ich auch Walter gehört«, erwiderte Iker. »Ich war durch Pilars Gedanken, sie müsse Naomi töten, einfach zu sehr abgelenkt.«

»Das tut mir leid. Was wird eigentlich aus mir?« Pilar kaute an ihrem Daumennagel warf Roman einen traurigen Blick zu.

»Es tut mir leid, Pilar. Ich verdanke dir so viel. Können wir Freunde werden?« Romans Worte klangen aufrichtig, auch wenn seine Augen strahlten, als er Naomi ansah. »Mit Naomi verbindet mich unendlich viel. Ich liebe sie. Und ich werde Vater.«

Pilar kämpfte gegen ihre Tränen an.

Romina drückte sie an sich und strich ihr übers Haar. »Mach dir keine Sorgen. Alles ist vorbei.«

»Nein, das ist es nicht.« Pilar presste die Lippen aufeinander. »Sammy wird alles erfahren und meinen Vater töten; und vermutlich auch mich.«

Romina seufzte. »Sammy ist nicht mehr am Leben. Glaub mir doch. Mach dir um deinen Vater keine Sorgen. Ich habe Sammy vor sechs Tagen getötet.«

Naomi sah zu Pilar. Wenn Iker in Pilars Gedanken gehört hatte, dass Sammy sie zwingen wollte, sie zu töten, dann musste er gewusst haben, dass sie sich in Barcelona aufhielt.

Iker schlug sich mit der Hand vor den Mund. »Wie konnten wir das nur übersehen?«

»Was haben wir übersehen?« Mit verwirrtem Gesichtsausdruck sah Romina von Iker zu Pilar.

»Dass Sammy unmöglich tot sein kann«, rief Pilar. »Gestern Morgen habe ich noch mit ihm gesprochen. Das war, als Roman mir erzählte, dass Naomi in Barcelona sei. Ich war so wütend auf ihn, dass ich Sammy angerufen habe.« Sie sah zu Romina. »Wenn du ihn vor sechs Tagen getötet hast, warum kann er dann gestern noch mit mir telefonieren?«

Naomis Magen krampfte sich zusammen. Das konnte nicht sein. Unmöglich. Laut Ahnentafel kamen in diesem Jahr nur sie und dieses Mädchen Katie für die Erlangung von sieben Leben in Frage. Katie hatte sich noch nicht verwandelt und schied damit aus. Sie selbst hatte nur mit Roman geschlafen. Durch sie konnte Sammy auch nicht sieben Leben erhalten haben. Plötzlich wurde ihr heiß. Die Höhle. Sammy hatte sie bei ihrer ersten Verwandlung in diese Höhle gelockt und betäubt. Kai und sie hatten gerätselt, aus welchem Grund er sie dorthin geführt haben könnte. Schlagartig wurde ihr klar, was dort geschehen sein musste. Wie blind war sie nur gewesen?

»Weil er sieben Leben hat«, flüsterte Naomi. Mit Tränen in den Augen strich sie sich über ihren Bauch, da ihr in diesem Moment bewusst wurde, dass das Kind, das sie erwartete, Sammys Kind sein würde.

 

 

ENDE

TEIL 2 - DIE FÄHRTE