Drei

 

Naomi joggte auf dem schmalen Feldweg tiefer in die Heide hinein. Die Dolden der Glocken-Heide standen in voller Blüte, was den flachen Landstrich in einen purpurfarbenen Teppich verwandelte. Bienen flogen von Blüte zu Blüte. So sehr Naomi den Anblick auch genoss, so wenig mochte sie den Heidehonig, den man in der ganzen Gegend wie flüssiges Gold handelte. Sie roch den süßen Duft und wunderte sich, dass er ihr keine Übelkeit verursachte.

Langsam kam sie besser mit ihrer Schwangerschaft zurecht. Den Arzttermin hatte sie hinter sich und alles war in bester Ordnung. Bei der Untersuchung hatte der Arzt jedoch festgestellt, dass sie das war, was man eine schwangere Jungfrau nannte. Auf Naomis verwunderten Blick hatte er weitererklärt, dass dies gar nicht so ungewöhnlich sei, weil das Hymen bei vielen Frauen extrem dehnbar sei und oftmals erst später reißen würde. Gerade in muslimischen Ländern führe dieser Umstand häufig zu falschen Einschätzungen, was die Jungfräulichkeit anbelangte. Bei ihr würde es spätestens bei der Geburt einreißen.

Das erklärte einiges. Sie hatte sich kurz gewundert, dass nicht ein einziger Tropfen Blut auf den Laken gewesen war, als sie mit Roman geschlafen hatte; auch der viel beschriebene Schmerz war ausgeblieben, aber wirklich Kopfzerbrechen hatte es ihr nicht bereitet.

Laut Arzt sprach auch nichts gegen eine Flugreise, wobei er anmerkte, dass Start und Landung ihren Körper stärker belasteten, als man annehmen mochte. Naomi sei zwar jung und gesund; ein Restrisiko sei aber nicht auszuschließen. Ein Risiko wollte sie keinesfalls eingehen. Sicherheitshalber würde sie die lange Bahnfahrt nach London auf sich nehmen.

Naomi lief weiter, bis die ersten Bäume vor ihr auftauchten. Wo würden sie ihre Beine hinführen? Sie ließ sich treiben, verließ den Waldweg und drang tiefer in den Wald hinein. Die kommende Stunde hoffte sie auf ein Zeichen; bis endlich zwischen den Kiefern eine mächtige Trauben-Eiche vor ihr aufragte. Wie auf der Lichtung in Stillwater stand auch sie etwas abgerückt von den Kiefern und wirkte, als herrsche sie über den Platz.

Der Stamm durchmaß knapp zwei Meter und die dichten Eichenblätter ließen die Gesamthöhe des Baumes nur erahnen. Es war zwar keine Lichtung, aber trotzdem strahlte der Ort eine greifbare Ruhe aus. Naomi ging auf die Eiche zu, strich über die Rinde und setzte sich auf den Waldboden. War es hier? Sie schloss die Augen; lauschte in sich hinein. Ein tiefer Frieden umfing sie, das Gefühl, zu Hause zu sein: in Sicherheit.

Naomi schlug die Augen auf. Wie hatte sie nur einschlafen können? Und wenn sie doch jemand aus dem feindlichen Clan verfolgte? Wie unvorsichtig von ihr. Aufmerksam sah sie sich um. Nichts hatte sich verändert. Nichts deutete darauf hin, von jemandem beobachtet zu werden. Sie fühlte sich immer noch sicher und war überzeugt, den richtigen Platz für ihre Verwandlung entdeckt zu haben. Mit einem Klaps gegen den rauen Stamm verabschiedete sie sich von der Eiche, genauso, wie sie es früher mit der Ulme getan hatte. Obwohl sie nicht sagen konnte, wie sie zu diesem Ort gefunden hatte, da sie ziellos durch den Wald gelaufen war, fand sie problemlos den Rückweg.

Leandra saß auf dem Treppenabsatz und blinzelte in die untergehende Abendsonne. Offenbar wartete sie auf Naomi.

»Und?«, fragte Leandra und sprang auf die Beine. »Hast du ihn gefunden?«

Naomi nickte. »Ich denke schon. Die Frage ist nur, wie komme ich morgen Nacht aus dem Haus, ohne dass Mama etwas bemerkt?«

»Wozu hast du mich?« Leandra drückte Naomis Hand. »Ich werde sie schon austricksen.« Sie zwinkerte ihr verschwörerisch zu.

Naomi graute davor, sich aus dem Haus schleichen zu müssen; das größere Problem wäre allerdings, im Morgengrauen wieder unbemerkt in ihr Zimmer zu gelangen. Ihre Mutter war Frühaufsteherin und saß beim ersten Tageslicht in der Küche bei ihrer morgendlichen Tasse Kaffee.

»Übrigens, ich habe eine Freundin in London. Emma. Die will ich besuchen, und da ich als alte Frau nicht alleine reisen kann, musst du mich begleiten.«

»Du bist nicht so alt. Das kauft dir Mama nicht ab.« Naomi schüttelte den Kopf. »Und was ist, wenn sie mitkommen will?«

Leandra lachte. »Ich glaube nicht, dass sie mitfahren möchte. Luna verabscheut Großstädte. Sie hat London nie gemocht.« Mit einem Augenzwinkern rieb sie sich über den Rücken. »Außerdem machen mir meine Bandscheiben in letzter Zeit ziemlich zu schaffen.«

»Dann solltest du aber nicht aufspringen, wie eine Zwölfjährige. Wenn Mama das sieht, glaubt sie dir kein Wort.« Naomi ging an ihrer Großmutter vorbei in die Küche.

»Luna ist mit einer Freundin ausgegangen und sieht sich im Kino die Spätvorstellung an.« Leandra folgte ihr. »Also muss ich die Leidensmiene erst später aufsetzen.«

Naomi holte sich eine Wasserflasche aus dem Kühlschrank und seufzte. »Hätten sie sich nicht morgen diesen Film ansehen können?«

Sie zog die Stirn kraus. Wenn sie doch nur eine eigene Wohnung hätte. Oder wenigstens ein Zimmer im Erdgeschoss. Dann könnte sie durchs Fenster ausreißen. »Ich gehe duschen und lege mich ein paar Minuten hin. Ich bin total erledigt. Wenn dir einfällt, wie ich verschwinden kann, sag mir Bescheid. In solchen Sachen bist zu offensichtlich einfallsreicher, als ich.« Sie küsste Leandra auf die Wange und lief die Treppenstufen hoch in ihr Schlafzimmer.

 

Naomi schlich den ganzen Tag über durchs Haus, stets auf der Suche nach einem Weg unbemerkt zu entwischen. Sollte sich Luna in der Küche aufhalten, wäre es ihr schlichtweg unmöglich. Durch den hinteren Garten hinauszuschleichen, ginge wegen der hohen Hecke ebenso wenig, wie durch ein Fenster im Erdgeschoss. Alle Wege führten an der Küche vorbei. Die Sonne sank immer tiefer, und Naomis Unruhe wuchs. Sie musste gehen. Ohne Leandras Hilfe käme sie nicht aus dem Haus.

Naomi ging in die Küche und erklärte ihrer Mutter, sie sei müde und lege sich schon schlafen. Luna sah kurz von der Zeitung auf und wünschte ihr eine gute Nacht.

Ihrer Oma gab Naomi ein Zeichen, bevor sie die Treppe geräuschvoll nach oben stapfte und die Zimmertür von außen ins Schloss warf. Leise tastete sich Naomi die Stufen hinunter und gab Leandra den vereinbarten Wink, nun Luna aus der Küche zu locken.

Naomi hielt die Enge des Hauses kaum noch aus. Jede Faser ihres Körpers drängte nach draußen. Sie atmete flach ein und aus und konzentrierte sich auf ihre Atmung, um nicht hinauszustürzen.

Leandra ging in den hinteren Teil des Gartens und rief nach ihrer Tochter, sie solle sofort zu ihr kommen. Naomi hörte ihre Mutter murren. Luna schob den Küchenstuhl dröhnend nach hinten, und ihre leisen Schritte entfernten sich. Naomi linste um die Ecke, bis sie ihre Mutter im Garten verschwinden sah. Geräuschlos öffnete sie die angelehnte Haustür, schlüpfte hinaus und lehnte die Eingangstür wieder an. Leandra würde sie später absperren.

Naomi drehte sich nicht mehr um. Sie rannte den Feldweg entlang in Richtung Wald und spürte, wie das einengende Gefühl von ihr abfiel. Die aufwallende Hitze, die ihren Körper durchströmte, jagte ihr keine Angst mehr ein; ebenso wenig die überdeutlichen Geräusche der Tiere des im Dämmerlicht versinkenden Waldes.

Der noch warme Waldboden roch würzig, der süße Geruch der Glocken-Heide verlor mit jedem Schritt, der sie tiefer in den Wald führte, an Intensität. Die Eiche lockte sie, wie es noch letzten Monat die Ulme auf der Lichtung in Stillwater getan hatte. Ihr Gefühl hatte sie nicht getrogen; an der Eiche lag ihr geheimer Treffpunkt.

Sie legte ihren Jogginganzug ab. Dicht an den Stamm gekauert lag sie zwischen den Wurzeln. Eine angenehme Wärme erfüllte sie. Ihr Körper kribbelte, bevor sie tiefe Dunkelheit umhüllte.

Naomi öffnete ihre Augen, die sofort die nähere Umgebung absuchten. Keiner zu sehen. Ihr Körper erbebte, als sie sich herzhaft streckte, um die Muskulatur zu lockern, die sich zu Beginn immer verspannt anfühlte. Danach stand sie auf und erkundete die umliegende Gegend. Sie stellte die Ohren auf, lauschte in sämtliche Richtungen; bis auf die Waldgeräusche vernahm sie nichts. Auch drängte sich kein fremder Gedanke in ihren Kopf. Sie war allein.

Enttäuscht ließ sie den Kopf hängen. Was nun? Sie hatte gehofft, auf Mitglieder des Clans zu treffen. Dabei hatte sie die Vorstellung verdrängt, wie gering die Wahrscheinlichkeit war, dass sich in diesem Kaff tatsächlich noch jemand wie sie befände. Sie hätte sich nicht zu große Hoffnungen machen dürfen.

Auf den Hinterpfoten sitzend starrte sie die Eiche an. Und wenn sie doch am falschen Ort war? Nein. Keiner aus ihrem Clan konnte wissen, dass sie nicht mehr in Maine war. Dort wäre sie mit Sicherheit auf andere Mitglieder gestoßen.

Doch sie war nicht mehr in Stillwater. Und nicht mehr bei Roman. Roman. Der Gedanke an ihn verscheuchte ihre Enttäuschung. Auch wenn niemand hier war, so hatte sie von Kai doch gelernt, wie sie trainieren musste, um stärker zu werden. Jammern brachte sie nicht weiter. Solange keiner hier auftauchte, musste sie sich auch vor niemandem in Acht nehmen. Sie konnte zwei Nächte hart trainieren.

Nachdem sie ihren Plan gefasst hatte, begann Naomi, in größer werdenden Bögen, um die Eiche zu kreisen. Sollte doch noch jemand auftauchen, würde sie ihn wenigstens nicht verpassen. Die ersten Runden drehte sie in lockerem Trab, um zu sehen, wie stark sie ihre verletzte Schulter belasten konnte. Es ging. Sie legte eine Gangart zu und steigerte das Tempo in den Galopp. Den tief hängenden Ästen versuchte sie auszuweichen und galoppierte im Slalom zwischen den Bäumen hin und her, bis sie hechelnd ins Schritttempo verfiel. In ihrer Schulter pochte es, doch war der Schmerz auszuhalten. Als sie wieder zu Atem kam, betrachtete sie die Eiche. Sie nahm Anlauf, sprang ab, fuhr ihre Krallen aus und schlug sie in die Rinde. Mit vier Sätzen hatte sie den unteren Astkranz erreicht. Sie kletterte weiter nach oben, bis die Zweige unter ihrem Gewicht knackten und zu brechen drohten. Über ihr Gleichgewicht erstaunt, blieb sie reglos in den Ästen stehen und sah sich um. Der Schein des Vollmonds drang durch die Baumwipfel. Der Stamm einer Birke schimmerte silbern im Mondlicht und der Wind bewegte die Blätter, dass es den Anschein erweckte, als würde der Baum zittern.

Naomi genoss das friedliche Schauspiel, bevor sie sich zum untersten Kranz hinabarbeitete. Jetzt kam der Abstieg. Immer noch fiel ihr der Rückweg sehr schwer. Sie krallte die Vorderpranke in den Ast, drehte sich um und ließ ihren Körper rückwärts am Stamm hinabgleiten. Die Krallen der rechten Vorderpfote trieb sie in den Baumstamm. Im Wechsel löste sie die Klauen der Vorderpfoten, nur um sie weiter unten wieder ins Holz zu treiben. Für die letzten zwei Meter musste sie sich umdrehen. Eine schnelle Wende hatte Kai ihr geraten. Durch ihre linke Schulter zuckte ein beißender Schmerz, und sie zog unkontrolliert die Krallen ein. Prompt verlor sie den Halt. Sie versuchte zu wenden, um sich mit den Hinterpfoten vom Stamm abstoßen zu können – und schaffte es nicht.

Die Hinterläufe standen zu schräg und der Sprung gelang ihr nur unpräzise. Sie bemühte sich mit dem Schwanz zu steuern, was ihr insofern glückte, dass sie wenigstens mit der unverletzten rechten Vorderpfote zuerst aufschlug, die dadurch den härtesten Stoß abfing. Trotzdem überschlug sie sich, bevor sie zum Stehen kam.

Nun schmerzten beide Schultergelenke. Sie rollte sich zusammen und leckte sich über die rechte Schulter. Die leichte Massage lockerte die Muskulatur. Naomi war klar, dass sie heute keine großen Sprünge mehr vollführen konnte. Sie hatte sich übernommen und musste sich ausruhen. Das Dickicht würde ihr Schutz bieten, bis der Morgen graute und sie nach Hause konnte. Wenn ich doch nur nicht alleine hier wäre, dachte sie, und starrte missmutig vor sich auf den Waldboden.

 

Der Himmel färbte sich purpurn, als die ersten Sonnenstrahlen das Nachtblau vertrieben. Naomi fühlte sich ausgelaugt, und ihr ganzer Körper schmerzte von der ungewohnten Anstrengung. Sie stand auf und holte ihre Kleidung, um sich anzuziehen. Beim Überstreifen des Sweatshirts füllten sich ihre Augen mit Tränen. Das Gefühl der Einsamkeit setzte ihr mehr zu, als das Stechen zwischen ihren Schulterblättern. Wie sollte sie sich verbessern? Wie mehr über die Clans erfahren? Mit dem Ärmel wischte sie sich die Tränen fort.

Auf dem Rückweg überlegte sie, wie Leandra es anstellen wollte, sie unbemerkt in ihr Zimmer zu schmuggeln. Der Wald blieb hinter ihr zurück, und die Heidegräser boten ihr keinen Schutz vor neugierigen Blicken, als sie sich über den Feldweg dem Haus näherte. Die knirschenden Kieselsteine unter ihren Füßen lärmten in ihren Ohren mit jedem Schritt.

In der Küche brannte Licht. Luna musste bereits wach sein. Naomi verharrte einen Augenblick. Wenn die Haustür unverschlossen war, könnte sie so tun, als sei sie eben aufgestanden, um joggen zu gehen. Es wäre eine lahme Ausrede, zumal sie todmüde war. Aber zur Not würde es klappen. Etwas mutiger ging sie durch die Gartenpforte. Die Eingangstür schwang auf und Leandra erschien im Türrahmen. Sie legte den Zeigefinger auf ihre Lippen und bedeutete ihr, nach oben zu schleichen. Naomi folgte ihrer Anweisung. Ohne zu zögern, tapste sie hoch und schloss leise ihre Zimmertür. Eine heiße Dusche und einige Stunden Schlaf. Dann wäre sie gewappnet für die kommende Nacht.

 

*

 

Zur gleichen Zeit suchte Sammy nach Naomi. Er wollte sie finden, um sie zu töten. Sie und Roman. Wäre Roman in jener Nacht nicht aufgetaucht, wäre Naomi bereits tot. Er galoppierte um die Lichtung, doch niemand war zu sehen. Wo steckte sie? Es gab nur diesen einen Platz. Naomi lebte alleine hier in diesem verlassenen Winkel in Maine, und er hätte leichtes Spiel. Auch wenn er noch unter seinem letzten Tod litt – sie hätte keine Chance gegen ihn.

Die Stelle, wo Roman den Ast in ihn hineingestoßen hatte, schmerzte ihn, sobald er nur daran dachte. Ein Mensch hatte ihn besiegt!

Er musste handeln. Schnell. Bevor der Clan Hilfe schickte. Er rannte um die Lichtung, hielt die Nase in den Wind. Nichts. Keine Spur. Nur um sicherzugehen, trabte er, die Ohren aufgestellt, sogar zu der Höhle, in die er Naomi in der ersten Nacht gebracht hatte, obwohl er sich nicht vorstellen konnte, sie dort vorzufinden. Sie schien vom Erdboden verschluckt. Naomi, dieses sture Mädchen. Keinesfalls hätte sie Roman zurückgelassen. Das brächte sie nicht über sich. Niemals. In seinem Hinterkopf pochte es: und wenn doch? Wenn sie wirklich abgereist war? Sammy schlug wütend nach einem herunterhängenden Ast. Warum sollte sie? Sie wusste nicht, dass er noch am Leben war. Der kleine Goldschatz hatte hier nichts mehr zu befürchten. Wo zum Teufel steckte sie?

Die ganze Nacht suchte Sammy nach ihr, bis ihm dämmerte, dass sie tatsächlich fort sein musste. Doch wohin könnte sie gegangen sein? Nach Hause? Nach Deutschland zurück? Möglich. Doch sie käme wieder. Davon war er überzeugt. Sie konnte gar nicht anders, als sich ihren Roman wiederzuholen. Ein leises Fauchen entwich seiner Kehle. Miststück. Wenn ich sie nicht töten kann, dann werde ich ihr Roman nehmen. Und dann wird sie sich wünschen, sie sei gestorben.

 

*

 

Roman verließ die Arztpraxis. Dieser Quacksalber wollte ihn allen Ernstes zum Psychiater schicken, und das nur wegen eines Blackouts und leichter Depressionen. Trotz der vergangenen Zeit konnte er sich weder erklären, warum er im Haus seines Onkels am See aufgewacht war, noch wie er dort hingekommen war. Ihm fehlten volle zwei Wochen und auch Ereignisse aus den Tagen davor.

Wer war Naomi? Er wusste, dass es sich um eine Austauschstudentin handelte. Doch warum sollte er wissen, warum sie plötzlich abgereist war? Er kannte sie überhaupt nicht. Robert behauptete, er sei mit dieser Naomi ausgegangen, und auch Bertram, sein Onkel, hatte letzte Woche nach Naomi gefragt, als ob er sie kennen müsste. Er würde sich doch erinnern, wenn er einige Dates mit ihr gehabt hätte. Dessen war er sich sicher. Außerdem ging er nicht mit Studentinnen aus. Das gab nur Ärger. Und niedergeschlagen fühlte er sich auch nur, weil er das unbestimmte Gefühl hatte, etwas Unwiederbringliches verloren zu haben. Er wusste zwar nicht, was es war, aber er spürte eine tiefe Leere in seinem Inneren.

Roman knallte die Wagentür seines Pick-ups zu und schlug mit der Faust auf das Lenkrad. Dieser blöde Arzt. Den suchte er sowieso nur auf, weil die Unileitung darauf bestand, nachdem er über zwei Wochen unentschuldigt gefehlt hatte und nun mit Gedächtnislücken kämpfte.

Doch, wo war er in dieser Zeit gewesen? Im Haus am See? Das wüsste er! Warum sollte er dort hingefahren sein? Diese Unwissenheit schaffte ihn noch mehr, als die merkwürdigen Blicke, die er von Robert und Bertram auffing, wenn sie dachten, er würde nicht bemerken, wie sie ihn beobachteten. Als hätte er einen Dachschaden. Er seufzte. Vielleicht hatte er tatsächlich einen. Immerhin waren da diese Erinnerungslücken. Doch auch die würden sich wieder schließen. Irgendwann. Und dann wäre er wieder ganz der Alte. Das hoffte er zumindest.

 

*

 

Naomi lag mit geöffneten Augen auf ihrem Bett. Obwohl sie sich völlig erschöpft fühlte, hielten ihre Gedanken sie wach. Dieses Mal hatte sie unbemerkt in den Wald laufen können, doch wie wäre es am nächsten Abend, im nächsten Monat und bei den darauf folgenden Vollmonden? Wie sollte sie das auf Dauer vor ihrer Mutter geheim halten?

Die Tür schwang auf, und Leandra streckte ihren Kopf herein. »Du bist wach?« Sie trat ins Zimmer und setzte sich auf die Bettkante. »Und? Kamen noch welche?«

Naomi verneinte. »Es war nicht anders zu erwarten. Gehofft hatte ich es aber trotzdem.« Sie rieb sich die rechte Schulter. »Wie hast du Mama ablenken können? In der Küche brannte Licht. Hat sie die Haustür nicht gehört?«

»Ich habe ihr ein leichtes Schlafmittel in den vorbereiteten Kaffee gekippt.« Ihre Großmutter zuckte hilflos mit den Achseln. »Sie schlummerte nach der ersten Tasse am Küchentisch ein.«

Naomi schloss die Augen. Ihre Mutter bereitete die Kaffeemaschine stets am Vorabend vor, damit sie morgens nur noch den Knopf drücken musste. »So geht es nicht weiter, Oma. Ich muss mir eine Wohnung suchen.«

»Und das Baby? Das wird nicht funktionieren.« Leandra sah Naomi eindringlich an. »Noch eine Nacht, dann haben wir Zeit, uns etwas Anderes zu überlegen. Aber eine eigene Wohnung kommt nicht in Frage. Wovon würdest du die auch bezahlen?«

Soweit hatte Naomi gar nicht gedacht. Sie hatte keinen Job und war schwanger. Es wäre unmöglich. »Aber, wie soll es weitergehen? Mama sagen, was Sache ist?«

Leandra legte die Stirn in Falten. Wie würde ihre Tochter damit zurechtkommen? Luna war bodenständig, sah die Dinge klar, und in ihrem Leben war kein Raum für Außergewöhnliches. Bis heute verstand sie nicht, mit welchen Sorgen Leandra sich herumschlug. Die Umzüge, die Überwachung jeder Bewegung, bis Luna erwachsen war und keine Gefahr mehr für eine Verwandlung bestand. Luna hatte es gehasst, nach London umziehen zu müssen und glaubte immer noch an einen tragischen Unfalltod des Vaters. Doch Leandra war überzeugt: Ihr Mann war ermordet worden. Sie konnte es nicht beweisen, doch schon lange vor dem Mord hatte sie die Bedrohung gespürt. Um Luna zu schützen, hatte sie kurzerhand die Koffer gepackt und war ohne ein Wort des Abschieds in Kristiansand in den Zug gestiegen, um nach London zu ziehen. Untertauchen in einer Großstadt erschien ihr die beste Lösung zu sein. Luna weinte über Stunden, weil sie sich nicht von ihren Freunden hatte verabschieden dürfen, als sie Norwegen verließen. Das Kontaktverbot quittierte Luna monatelang mit eisigem Schweigen. Ihr Verhältnis besserte sich erst wieder, als Luna sich in Naomis Vater verliebte, und es an der Zeit war, sie ihre eigenen Wege gehen zu lassen. Zu diesem Zeitpunkt war sie bereits zwanzig Jahre alt und mit Naomi schwanger. Eine Verwandlung in diesem Alter schloss Leandra aus.

Lunas Mann starb noch vor Naomis Geburt. Ein Raubüberfall in den Straßen Londons. Die Wochen vor diesem Raubmord spürte Leandra das Unheil aufziehen, wie eine drohende Gewitterfront. Dasselbe Gefühl wie Jahre zuvor in Kristiansand. Leandra flehte Luna damals an, London zu verlassen. Sie erinnerte sich an die heftigen Wortwechsel mit ihr, als Luna ihr vorwarf, sie in diese schreckliche Großstadt gezerrt zu haben, und sie weigerte sich beharrlich, aufgrund einer weiteren Laune aus London fortzugehen: bis ihr Mann getötet wurde. Luna gab London die Schuld. Leandra wusste es besser. Lunas Widerstand war gebrochen, und sie zogen aufs Land in die Nähe von Chester. Als Naomi sieben Jahre alt war, tauchten die Schatten der Vergangenheit erneut auf, und Leandra drängte darauf, England zu verlassen. So landeten sie in der Lüneburger Heide, wo Leandra bis zu Naomis Abreise nicht mehr von Angstgefühlen heimgesucht worden war. Luna hatte sich in dieser Zeit ihre eigene kleine Welt aufgebaut, in der Fremdartiges oder merkwürdige Gefühle keinen Platz fanden. Nein, Luna würde es nicht verstehen. Ausgeschlossen.

»Deine Mutter würde uns in eine Klinik einweisen lassen.« Leandra kratzte sich am Kopf. »Besser, wir lotsen sie zu den Vollmonden aus dem Haus. Eine Theaterkarte für ein Stück in Hamburg, eine Kurzreise zu ihrer Freundin nach Bayern. Wir müssen in Zukunft einfach vernünftig planen. Das hätten wir für dieses Mal schon tun müssen.«

»Haben wir aber nicht.« Naomi gähnte herzhaft. Sie war zu müde, um einen sinnvollen Gedanken zu fassen.

»Dann bleibt uns nur das Schlafmittel. Nur, dass ich es Luna dieses Mal schon abends untermische. So kommst du auch morgens problemlos ins Haus.« Leandra legte sich zu ihr auf das Bett. »Und jetzt erzähle mir von letzter Nacht. Ich möchte wissen, wie es sich anfühlt, als Panther unterwegs zu sein, und natürlich will ich auch erfahren, was du die ganze Zeit über getrieben hast.«