Sechzehn

 

Roman stand vor dem Check-in-Schalter und nahm seine Bordkarte entgegen. Ein Fensterplatz nach Amsterdam. Pilar hatte nach ihrem Gespräch darauf bestanden, ihn wenigstens zum Flughafen zu bringen, so war ihm nichts anderes übrig geblieben, als tatsächlich nach Holland zu fliegen, damit sie keine Fragen stellte. Für die Reststrecke von Amsterdam nach Hamburg würde er mit dem Zug fahren müssen. Pilar begleitete ihn bis vor die Sicherheitsschleuse. Er spürte ihren Blick in seinem Rücken, als er durch die Personenkontrolle ging, nach seinem Rucksack griff und sich zu ihr umdrehte. Er lächelte ihr zu, winkte kurz und nahm seine Hand zum Ohr, den Daumen und den kleinen Finger gestreckt, um ihr zu signalisieren, er würde sich telefonisch bei ihr melden. Sie nickte. Ihre Schultern hingen trotzdem, und ihre ganze Haltung zeigte, dass ihr seine Reise nicht gefiel. Fast so, als ahnte sie, dass er sie belogen hatte. Nach einem letzten Gruß drehte Roman sich weg, atmete schwer aus und presste die Lippen aufeinander, bevor er sich nach den Hinweisschildern umsah, die ihn zu seinem Gate leiteten.

Die innere Unruhe ließ ihn in der Wartehalle immer wieder aufstehen und umhergehen. Einerseits wollte er endlich Gewissheit, andererseits schimpfte er sich selbst einen Idioten, weil er dieser Naomi nachrannte, obwohl sie ihn ohne ein Wort verlassen hatte. Was erwartete ihn dort? Es wäre durchaus möglich, dass sie überhaupt nicht mit ihm sprechen wollte. Oder schlimmer noch, sie könnte ihm Dinge an den Kopf werfen, die er überhaupt nicht hören wollte. Möglich wäre es, und es würde auch seinen Blackout erklären. Verdrängung.

Sein Magen rebellierte und krampfte sich immer wieder schmerzhaft zusammen. Vielleicht wäre es besser, gar nicht erst zu fliegen. Er könnte in Barcelona bleiben und dieses Mädchen vergessen. Viel wusste er sowieso nicht über sie. Warum eine solche Dummheit begehen? Trotz seiner Überlegungen bemerkte er, wie sich die anderen Passagiere von ihren Plätzen erhoben und sich zum Ausgang begaben.

Wollte er nun fliegen, oder nicht? Roman schüttelte den Kopf. Das war keine Frage von wollen. Er musste fliegen und Naomi wenigstens einmal sehen, wenn er wieder zur Ruhe kommen wollte. Sollte sie ihn zum Teufel schicken, würde er damit fertig werden. Vielleicht konnte sie ihm aber erklären, was damals vorgefallen war.

Während des Flugs nach Amsterdam überlegte Roman, was er sagen sollte, wenn er bei Naomi plötzlich vor der Tür stünde. Ihm fiel nichts Eloquentes ein, auch nichts Witziges oder Charmantes. Überhaupt nichts fiel ihm ein, da er keine Vorstellung von diesem Mädchen hatte.

Nun saß er im Zug nach Hamburg und jede Minute brachte ihn näher zu ihr. Zeitgleich wuchsen seine Zweifel. Er schimpfte sich selbst einen Trottel, der erwartete, dass seine Erinnerung mit einem Blick auf Naomi wiederkäme und er tatsächlich alles in ihr fände, was er sich jemals erträumt hatte. Daran war Bertram schuld. Er hatte ihm eingeredet, Naomi sei die richtige Frau für ihn, er müsse nur mit ihr sprechen, und alles Weitere würde sich von alleine regeln.

In Hamburg stieg er in einen Regionalzug, der in die Lüneburger Heide fuhr. Dreißig Minuten später saß er in einem Taxi. Er kaute auf seiner Unterlippe, bis er Blut schmeckte. Sie durchfuhren einen kleinen Ort, bis das Taxi vor einem Haus am Ortsrand hielt und der Fahrer ihn wissen ließ, dass sie angekommen seien.

Roman nickte, bezahlte und stieg aus. Das Haus wirkte gemütlich. Ein gepflasterter Weg führte zur Eingangstür. Rechts und links davon lag ein gepflegter Vorgarten, in dem Rosen und Sommerblumen blühten. Die Mauern schienen frisch gestrichen und an den Fenstern hingen leichte Vorhänge. Roman schluckte mehrmals und sah nach oben in den ersten Stock. Es dämmerte bereits, trotzdem brannte nirgendwo Licht. Er hörte seinen Puls in den Ohren und atmete tief ein und aus, um sich zu beruhigen. Die Schultern gestrafft, öffnete er die Gartenpforte, die in den Angeln quietschte, als er sie wieder schloss. Jeder Schritt kostete ihn Überwindung. Vor der Tür überprüfte er den Namen am Briefkasten. Roberts. Die Adresse stimmte. Nun gab es kein zurück mehr. Seine Hand zitterte, als er sie zögernd zur Klingel führte.

Ein melodisches Läuten drang nach außen. Roman ging die drei Stufen nach unten. Besser er blieb auf dem Weg stehen und nicht direkt vor der Haustür. Nichts bewegte sich. Kein Licht flackerte auf, keine Schritte. Nach zwei Minuten ging Roman erneut nach oben.

Dieses Mal zitterte seine Hand nicht, als er auf den Klingelknopf drückte. Trotzdem ging er wieder zurück auf den Weg. Nichts. Den Kopf in den Nacken gelegt, sah er nach oben. Auch in den Fenstern sah er keine Bewegung.

Roman rieb sich das Kinn. Was sollte er nun tun? Ob es in diesem Ort eine Pension gab? Unwahrscheinlich. Sollte er einfach gehen? War es ein Wink des Schicksals, dass ausgerechnet an diesem Tag niemand zu Hause war? Roman schüttelte den Kopf und ließ sich auf eine der Treppenstufen fallen. Den Rucksack neben sich überlegte er, ob er warten sollte, bis jemand käme. Es war früher Abend, und die Temperaturen waren immer noch sommerlich warm. Was hatte er zu verlieren?

 

»Wer sind Sie?« Luna stand mit in die Seite gestemmten Händen an der Gartentür. »Und warum schlafen Sie vor meiner Haustür?«

Roman sprang auf die Beine. »Sorry. Do you speak English?« Er hatte kein Wort verstanden, aber der Klang ihrer Stimme, gepaart mit der harten deutschen Aussprache, erschien ihm alles andere als freundlich.

Aus wachsamen Augen betrachtete sie ihn, nickte und wiederholte ihre Frage.

»Roman Barton.« Er ging einige Schritte auf Luna zu. »Ich muss eingeschlafen sein, während ich hier gewartet habe. Eigentlich möchte ich zu Naomi. Sind Sie ihre Mutter?«

»Luna Roberts.« Ihre Körperhaltung drückte immer noch Abwehr aus.

Roman trat weiter auf Luna zu und streckte ihr seine Hand hin. »Guten Abend.«

Luna brummte nur, als sie seine Hand drückte und ihren Blick von oben nach unten wandern ließ.

»Ähm, kann ich Naomi sprechen?«

Luna ging an ihm vorbei zur Haustür. »Nein.« Dort steckte sie den Schlüssel ins Schloss. »Sind Sie extra aus Maine hergeflogen?«

Roman nickte. In diesem Moment wurde ihm bewusst, dass er sich bisher nur etwas vorgemacht hatte. Er war nur nach Barcelona aufgebrochen, um mit Naomi zu sprechen. Wenn er auch nicht direkt hierhergekommen war, so war das Treffen mit Naomi doch der einzige Grund gewesen. Nicht der neue Job, nicht Pilar oder Barcelona, sondern nur dieses Treffen mit Naomi zählte noch.

Luna seufzte. »Dann kommen Sie mal rein.«

»Sie wissen, wer ich bin?«, fragte Roman, als er nach seinem Rucksack griff und zwei Schritte auf den Eingang zuging.

»Ja, ich weiß, wer Sie sind.« Luna machte im Gang Licht und wartete, bis er das Haus betrat. »Möchten Sie einen Kaffee?«

»Gerne.« Den Rucksack stellte er im Flur ab.

Luna schloss die Haustür und ging in die Küche, um den Kaffee vorzubereiten. Sie musste bemerkt haben, wie unwohl sich Roman fühlte, denn ein Lächeln huschte über ihr Gesicht. »Nun kommen Sie schon. Setzen Sie sich und erzählen Sie mir, warum Sie hier sind.«

»Das ist ... nicht so einfach«, antwortete er, setzte sich auf einen Küchenstuhl und stützte seinen Kopf auf die Hände.

Luna lehnte sich mit verschränkten Armen an die Küchentheke. »Das ist es nie.«

Roman berichtete Luna von seinem Blackout, wie er in Bertrams Haus aufgewacht war und sich nicht erinnern konnte, die vergangenen Tage dort verbracht zu haben. »Selbst die Ärzte können es sich nicht erklären.«

Luna schenkte den Kaffee ein, setzte sich ihm gegenüber und unterbrach ihn kein einziges Mal.

Zögernd erzählte er davon, wie sein Onkel behauptete, er sei mit Naomi ausgegangen, wobei er sich daran auch nicht erinnern könne. »Deswegen bin ich hier; um zu klären, was tatsächlich vorgefallen ist. Und auch um zu erfahren, warum Naomi so überstürzt abgereist ist.«

Ohne ein Wort stand Luna auf, ging zum Kühlschrank, zog eine Flasche Heidegeist heraus und stellte ihn auf den Tisch. Zwei Gläser folgten. Ein gefülltes Schnapsglas schob sie zu ihm hinüber. »Sie sind leichenblass. Trinken Sie. Der bringt Sie wieder auf die Beine.« Mit einem Schluck leerte sie ihr Glas. »Und ich überlege mir so lange, ob ich Ihnen glauben soll, oder ob ich hier mit einem Verrückten in meiner Küche sitze.«

»Naomi hat aber von mir erzählt. Richtig? Denn Sie kannten meinen Namen«, fragte er und nippte an dem angebotenen Schnaps. Der Alkohol schmeckte intensiv nach Kräutern. Er schüttelte sich und eine Gänsehaut überzog seinen Körper. Die Wärme, die sich in seinem Magen ausbreitete, tat ihm gut.

»Ja, das hat sie. Allerdings nicht viel.« Luna erhob sich. »Und das Wenige, was sie sagte, war nicht sehr schmeichelhaft.«

Mit einem Seufzen leerte er sein Glas. »Wann kann ich mit ihr sprechen?«

»Im Moment überhaupt nicht. Ich habe Naomi gerade zum Bahnhof gefahren. Auch bin ich mir nicht sicher, ob Naomi überhaupt mit Ihnen reden möchte. Sonst wäre sie nicht so überstürzt nach Hause gekommen. Das sieht ihr nämlich überhaupt nicht ähnlich. Und jetzt werde ich Sie besser zum Flughafen fahren.«

Roman sackte in sich zusammen. Warum hatte er nur auf seinen Onkel gehört? Diese Reise war ein blöde Idee gewesen, und im Grunde hatte er das von Anfang an gewusst. Einem Mädchen hinterherlaufen, das nichts mehr von ihm wissen wollte. Wie tief konnte er noch sinken?

»Gibt es hier eine Pension?«, fragte er.

Luna schüttelte den Kopf.

»Können Sie mir wenigstens sagen, wohin Naomi gereist ist?« Roman massierte sich die Schläfen.

Luna schwieg. Ihre Stirn lag in tiefen Falten.

»Und Sie können sich wirklich nicht erinnern?«

Dieses Mal schwieg Roman. Hilflos zuckte er mit den Schultern. »Ich weiß, es hört sich verrückt an, aber könnte ich ein Foto von Naomi sehen?«

Mit überraschtem Gesichtsausdruck starrte Luna ihn an. »Was? Sie wissen nicht einmal, wie sie aussieht? Das wird ja immer bunter!«

Ihr Blick schüchterte Roman ein. Was sollte sie auch von ihm denken? Er musste wie ein Freak auf Naomis Mutter wirken. Saß hier in ihrer Küche, wollte mit Naomi reden und gab anschließend noch zu, dass er nicht einmal wusste, wie sie aussah. Vermutlich hätte er in einem solchen Fall die Polizei gerufen. Doch irgendetwas hielt sie bisher davon ab. Etwas, was er nicht verstand.

Mit einem nachdenklichen Blick verließ Luna die Küche.

Roman massierte sich mit geschlossenen Augen seine Schläfen. Ausgerechnet jetzt bekam er Kopfschmerzen, wo er versuchen musste, einen klaren Gedanken zu fassen. Vermutlich rief Luna in diesem Moment die Polizei. Das laute Geräusch, als er seinen Stuhl zurückschob, dröhnte durch das Haus.

Er trat aus der Küche, griff nach seinem Rucksack und wartete, um sich von Luna zu verabschieden, bevor er das Haus verließ.

»Ich weiß zwar nicht, warum ich das mache«, sagte Luna plötzlich hinter ihm. »Aber hier, für Sie.« Sie streckte ihm ein gerahmtes Bild entgegen.

Bertram hatte zwar mehrmals versucht, ihm Naomis Aussehen zu beschreiben, trotzdem hatte er kein klares Bild vor sich. Mehr als ein konturloses Gesicht mit grünen Augen, eingerahmt von dunklem Haar war vor Romans innerem Auge nicht entstanden.

Luna bemerkte sein zögern. »Ihre Geschichte ist also wahr«, sagte sie mit einem Lächeln und hielt ihm immer noch das Bild hin. »Und Sie haben Angst.«

Die Lippen fest aufeinander gepresst, griff er nach dem Foto. Alles, was er sah, waren diese funkelnden, grünen Augen, die Naomis ganzes Wesen ausmachten. Augen, die ihm direkt in die Seele blickten. Ohne zu atmen, versank er darin. Bis ein Stöhnen seiner Kehle entwich.

»Na, Sie kippen mir jetzt aber hier nicht um?« Luna ergriff seinen Arm und zog in ins Wohnzimmer, wo sie ihn in den Fernsehsessel setzte. »Sie haben meine Tochter also wiedererkannt?«

 

*

 

Naomi zog zuerst Leandras, dann ihre eigene Reisetasche aus der Ablage über ihrem Kopf. Die Passagiere drängten sich bereits zu den Ausgängen, obwohl der Zug noch nicht in den Bahnhof einfuhr. Schweigend blieben sie sitzen, bis der Zug hielt. Auf dem Bahnsteig sah sich Naomi suchend um, bis sie ein Hinweisschild fand, das ihr den Weg zu den Taxen wies.

»Glaubst du, Iker erwartet uns schon?«

»Mit Sicherheit.« Leandra schlenderte neben ihr her und nickte. »Hoffentlich ist meine Mutter dort. Ich kann an nichts anderes denken, als sie endlich wiederzusehen.«

»Wenn sie nicht dort wäre, hätte sie uns nicht diese Anschrift genannt.« Naomi ging zu einem Taxifahrer und streckte ihm die Adresse des Hotels hin.

Der Fahrer packte die Reisetaschen in den Kofferraum und wartete ab, bis Leandra und Naomi auf dem Rücksitz Platz genommen hatten, bevor er selbst einstieg und den Motor anließ.

Fünfzehn Minuten später standen sie an der Hotelrezeption. Gegenüber des Hotels lag die alte Oper, und die Fußgängerzone sollte sich nur wenige Meter die Straße hinunter befinden. Zumindest hatte es so in der Hotelbeschreibung gestanden. Nachdem sie den Zimmerschlüssel in Empfang genommen hatten, stiegen sie in einen klapprigen Fahrstuhl, der sie in den dritten Stock brachte. Rechter Hand sollte ihr Zimmer liegen.

Naomi schloss die Tür und ließ ihr Gepäck fallen, bevor sie das Fenster öffnete, um die abgestandene Luft zu vertreiben. »Was machen wir zuerst?«

»Darüber habe ich auch schon nachgedacht. Weiß Karsten, wann wir ankommen?« Leandra packte aus, legte sich frische Kleidung zurecht und griff nach ihrem Kulturbeutel.

Naomi verneinte.

»Dann werfen wir uns ein bisschen in Schale, fahren auf direktem Weg zu Iker und sehen anschließend weiter.« Leandra verschwand im Badezimmer, und wenig später hörte Naomi das Wasser rauschen.

Der Blick aus dem Fenster zeigte einen kleinen Innenhof. Bis auf ein paar Büsche und ein vertrocknetes Rasenstück gab es nichts zu entdecken. Naomi legte sich aufs Bett und streckte sich ausgiebig, um die verspannte Muskulatur zu lockern. Zugfahren empfand sie zwar angenehmer als Fliegen, trotzdem wäre sie viel lieber in etwa zwei Stunden von Hamburg hierher geflogen. Sie seufzte. Immerhin waren sie nun angekommen und träfen endlich Romina.

 

Die Taxifahrt führte sie nach Nordwesten in den Bezirk Les Corts und endete vor einem imposanten, dreigeschossigen Jugendstilhaus mit bunt abgesetzten Fresken. Eine schmale Straße schlängelte sich an einem kleinen Park entlang. Ein hoher Zaun schützte die unteren Stockwerke des Hauses und den Garten vor neugierigen Blicken.

Naomi fragte nach, ob sie bei der richtigen Adresse angelangt wären. Der Taxifahrer bestätigte und schaltete den Zähler aus.

»Romina hat zwar geschrieben, George sei wohlhabend, aber das ist noch untertrieben«, sagte Leandra, als sie ausstieg.

Naomi bezahlte den Fahrer, der die spanische Radiomusik wieder lauter aufdrehte und davonfuhr. »Hast du einen Eingang gesehen?« Sie spazierte einige Schritte am Zaun entlang und entdeckte eine Einfahrt. Das Tor versperrte den Zugang auf das Grundstück, doch war an einem der Pfeiler eine Sprechanlage befestigt. Naomi sah nach oben. Der Kasten einer Videoanlage hing drei Meter über ihren Köpfen. »Oma, kommst du? Hier könnte es sein.«

Leandra strich sich über die Haare, straffte ihre Schultern und nickte. »Na, dann mal los.« Mit einer entschlossenen Bewegung drückte sie auf die Klingel.

Sie warteten.

Ein Summen ertönte und das Rolltor öffnete sich. Nach einem unsicheren Seitenblick zu Leandra betrat Naomi das Gelände. Ein Weg ging am Haus vorbei, der vermutlich zum Eingang führte.

»Hältst du es für eine gute Idee, einfach hineinzugehen?«, fragte Leandra.

»Was sollen wir sonst machen? Hier stehen bleiben? Komm schon«, erwiderte Naomi und zog ihre Großmutter am Ärmel mit sich.

»Sonst leidest du doch immer an Verfolgungswahn, und jetzt willst du dort hineinmarschieren?« Leandras Wangen waren vor Aufregung gerötet.

»Oma, ich kann es dir nicht erklären, aber ich spüre, dass uns hier nichts passiert.« Mit einem Lächeln schritt sie voran.

Vor der Eingangstür erwartete sie ein Mann um die fünfzig. Rominas Briefen nach musste Iker in diesem Alter sein.

Leandra blieb plötzlich stehen.

»Was ist, Oma?«, hakte Naomi nach. »Irgendwas nicht in Ordnung?«

Der Mann stieg die Treppenstufen hinab. »Auf diesen Moment habe ich lange gewartet. Du musst Leandra sein. Meine große Schwester.« Behutsam näherte er sich. »Und du bist Naomi. Du siehst deiner Großmutter zum Verwechseln ähnlich. Kommt rein. Lasst uns drinnen weiterreden.«

Iker wartete, bis beide vor ihm standen, streckte seine Hand aus und zog Leandra an seine Brust. Überschwänglich drückte er ihr rechts und links ein Küsschen auf die Wangen. Er schob sie von sich, um sie besser ansehen zu können. »Ich befürchtete schon, ich bekäme nie die Chance, dich kennenzulernen.«

Leandra brachte keinen Ton über die Lippen. Sie schien immer noch unter Schock zu stehen. Mit den Fingerspitzen strich Iker ihr über das Gesicht, wandte sich ab und ging auf Naomi zu.

Naomi überlegte, ob Iker tatsächlich in ihren Gedanken lesen konnte.

»Ja, das kann ich.« Iker lächelte, bevor er sie ebenfalls rechts und links auf die Wangen küsste. »Aber keine Sorge, du gewöhnst dich daran.«

Naomi räusperte sich und überlegte, wie sie in Zukunft vermeiden könnte zu denken.

»Das ist unmöglich«, meinte er mit einem Augenzwinkern. »Nun kommt schon. Die Reise war lang und ihr müsst viele Fragen haben.«

Iker geleitete sie durch die Eingangshalle ins Wohnzimmer, wo bereits eine Kanne Kaffee und Gebäck bereitstanden. »Macht es euch bequem. Wie war die Fahrt? Darf ich euch einen Kaffee anbieten?«

Naomi würde eine Tasse Tee bevorzugen, da sie schon zwei Tassen Kaffee getrunken hatte, sagte jedoch nichts und nickte zustimmend. Ihr Blick schweifte im Zimmer umher.

Die Möbel zeigten einen bunten Mix der letzten Jahrhunderte. Eiserne Lüster thronten auf dunklen Holzkommoden, schwere und gemütlich aussehende Sessel gruppierten sich um einen Designertisch, unter einem antiken Gemälde standen ein Laptop und ein weiterer Flachbildschirm auf einem Schreibtisch. Die modernen Vorhänge und Teppiche bildeten einen harmonischen Kontrast zu den Antiquitäten.

Iker schenkte Leandra Kaffee ein. »Einen Moment bitte. Ich bin gleich wieder da.« Mit diesen Worten verließ Iker das Wohnzimmer.

»Warum sagst du nichts? Seitdem wir hier sind, hast du keinen Pieps von dir gegeben.« Den Blick fest auf Naomi geheftet, rührte Leandra in ihrer Tasse. »Hat´s dir tatsächlich die Sprache verschlagen?«

»Du hast bisher doch auch nichts gesagt. Außerdem ist es unheimlich, Oma«, sagte sie und erhob sich. »Wetten, Iker kommt gleich mit einer Tasse Tee an, obwohl ich sie mit keinem Wort erwähnt habe. Geradezu gruselig ist es, wenn jemand deine Gedanken lesen kann.« Mit kurzen Schritten ging sie im Raum auf und ab. »Das gefällt mir nicht. Ich bin kaum fünf Minuten hier und er weiß genau, was ich denke.«

Iker betrat mit einer Tasse Tee in der Hand das Zimmer. »Naomi, es muss dir keine Angst einjagen. Du wirst dich daran gewöhnen.« Er stellte die Teetasse ab.

»Ist meine ... unsere Mutter hier?« Leandra knetete ihre Hände.

»Nein. Sie kommt erst morgen von einer Reise zurück.« Iker setzte sich Leandra gegenüber. »Ihr habt die Briefe gelesen?«

»Ja«, erklärte Leandra. »Haben wir.«

»Und ihr habt sie anschließend vernichtet?«, fasste Iker nach.

Naomi griff nach ihrer Tasse. »Natürlich.« Sie trank einen kleinen Schluck.

»Gut. Sehr gut.« Er schlug die Beine übereinander und sah sie nachdenklich an. »Vermutlich sollte ich euch von mir erzählen«, sagte Iker und drehte sich zu Naomi. »Dann fühlst du dich in meiner Gegenwart vielleicht etwas wohler.«

Die Tasse in Händen lehnte sich Iker in den Sessel zurück. »Nun, da Romina gegen die Regeln verstoßen hat, und ihr deswegen hier seid, spielt es keine Rolle mehr, wenn ich die Fakten vor Leandra auf den Tisch lege. Immerhin bist du meine Halbschwester und hast ebenfalls ein Recht auf die Wahrheit.« Geräuschvoll schlürfte er an seinem Kaffee. »Aus den Briefen wisst ihr ja schon, wie es dazu kam, dass ich die Gedanken der Clanmitglieder lesen kann. Was zuerst harmlos begann, wurde bald sehr ernst. Der feindliche Clan erfuhr von meinen Fähigkeiten, als ich zwölf war. Schon vorher durfte ich alleine nicht mehr auf die Straße. Um mir etwas mehr Platz zu bieten, zogen Jorge und die anderen mit mir in dieses Haus.«

Naomi zog die Stirn kraus. »Wer ist Jorge?«

»Mein verstorbener Großvater. Ach stimmt, Romina hat ihn immer George genannt. Auf Reisen nannte er sich auch so, aber hier in Spanien rief man ihn Jorge. Aber der Name spielte keine Rolle.« Iker machte eine Pause. »Die Familienzusammenhänge sind weit verzweigt. Morgen soll euch Romina den Ahnenplan zeigen. Sie konnte die Tafel bis ins sechzehnte Jahrhundert zurückverfolgen.«

»Von allen?«, unterbrach ihn Naomi. »Es soll sieben Clans geben.«

»Ob es tatsächlich sieben gab, lässt sich nicht mehr genau nachvollziehen. Neben dem feindlichen Clan, den Nachfahren von Neophar, sind offenbar nur zwei Linien übrig geblieben. So viel ergab die Recherche, aber wir können uns auch irren. Es gibt noch viele Lücken zu schließen, denn es ist möglich, dass im Verborgenen ein weiterer Clan existiert oder einzelne Mitglieder überlebt haben, die sich bedeckt halten. Alle, die wir im Laufe der Jahre getroffen haben, waren entweder unsere direkten Nachfahren, aus der zweiten Linie, wie zum Beispiel Kai und John, oder sie waren vom feindlichen Clan. Unsere Gruppe ist stark, wir wissen viel. Und das ist Rominas Verdienst. Darum will unser Feind ihren Tod.« Iker erhob sich und trat ans Fenster. »Aus diesem Grund verstehe ich nicht, weshalb Romina beim letzten Vollmond Walter Thursfield davonkommen ließ. Er zieht in London immer noch die Fäden und hält Kontakt zu seiner Verwandtschaft in den Vereinigen Staaten. Sie hätte ihn töten müssen!«

»Walter Thursfield ist alt. Wie sollte er uns schaden?« Naomi zuckte während der Frage zusammen. Walter war alt, in Menschengestalt, als Panther hätte er sie aber fast getötet.

»Genau, du bist gerade selbst dahintergekommen.« Iker lächelte. »Entschuldigung.«

»Wovon redet ihr überhaupt?«, fragte Leandra und sah von Iker zu Naomi, die ihr die Episode vom Wald erzählte, an die sie eben gedacht hatte.

»Inzwischen gibt es Verbindungen zu einigen Clanmitgliedern hier in Barcelona, die mit dem feindlichen Clan zusammenarbeiten. Bisher ging jeder seiner eigenen Wege. Aber seitdem Neophars Clan schwächer wird, setzen sie andere aus ihrer Blutslinie unter Druck.« Iker nickte nachdenklich. »Wie auch immer sie es anstellen, es funktioniert. Sie legen an Stärke zu. Aus diesem Grund musste Romina auch verreisen.« Iker rieb sich die Stirn. »Ich verlasse ausschließlich tagsüber das Haus und nur in Begleitung. Es darf mir nichts geschehen. Nicht, weil es für mich persönlich tragisch wäre, sondern weil es unserem Clan schaden würde. Bei meinen Streifzügen suche ich nach Stimmen von Clanmitgliedern, die ich in meinem Kopf hören kann.«

Iker blieb stehen und seufzte. »Vor sechs Wochen belauschte ich die Gedanken einer jungen Frau.«

»Worum ging es?«, fragte Naomi.

»Das erzählt dir Romina morgen. Eigentlich wollte ich von mir erzählen, damit du dich wohler fühlst.« Er lächelte Naomi an. »Ich verwandle mich zu Hause. Die Gefahr, dass ich im Wald getötet werde, ist zu groß. Wegen meiner Fähigkeiten konnten wir Neophars Nachkommen nahezu vernichten. Immer wieder entdeckte ich weitere Feinde, die wir im Laufe der Jahre eliminiert haben.«

»Wie erträgst du die Enge in diesen Nächten?« Naomi dachte an den Drang, nach draußen zu gehen, zur Lichtung oder zum Treffpunkt. Die Vorstellung, sich innerhalb eines verschlossenen Hauses zu verwandeln, schien ihr unmöglich.

»Man gewöhnt sich daran. Am Anfang war es hart. Mit jedem Vollmond kam ich besser damit zurecht. Das ist mein Schicksal. Hätte damals dieser alte Mann beim Treffen in London nicht von dieser Legende erzählt, so wäre ich nie geboren worden. Mein Vater kam bei einem Kampf vor drei Jahren ums Leben. Auch Mutter wäre längst tot. Außerdem ist es ein leichtes Los, wenn ich es mit dem Rominas vergleiche. Meine Zeit auf Erden ist begrenzt, aber ihre ...« Iker öffnete einen Kühlschrank, der in die Wandtäfelung eingelassen war, und holte Orangensaft und Wasser heraus. Die Getränke stellte er auf den Tisch. »Bitte bedient euch.«

Leandra griff nach der Wasserflasche. »Lebt Dorothea noch bei euch?«

»Ja. Aber sie erholt sich im Moment von einer schweren Sommergrippe. Ihr lernt sie später kennen.«

»Iker, bist du verheiratet?«, fragte Naomi und dachte dabei an Roman.

»Nein.« Er sah sie lange an. »Alles zu seiner Zeit, Naomi. Hab Geduld.«

Naomi öffnete den Mund zu einer Antwort, als ihr Handy klingelte. Sie kramte in ihrem Rucksack nach dem Telefon und sah aufs Display. »Karsten.«

»Hallo Karsten«, grüßte sie. »Bist du noch in der Uni?«

Sein Lachen drang durch den Hörer. »Nein, wir haben eine Vorlesung ausfallen lassen. Und du, bist du noch im Zug? Ich will dich endlich in meine Arme schließen!«

»Wir haben im Hotel eingecheckt und sind ...« Naomi suchte nach einer Ausrede. »Wir sind spazieren, und ich habe keine Ahnung, wo wir genau stecken. Wollen wir uns in einer Stunde zum Abendessen treffen?«

»Super! Um fünf Uhr vor der alten Oper? Zu Essen gibt es um diese Uhrzeit zwar nicht viel, da die Restaurants erst gegen zwanzig Uhr wieder öffnen, aber mir fällt schon was ein.«

Naomis Vorfreude Karsten und Alice zu sehen, ließ sie lächeln. »Bis gleich!«

Iker schwieg, sah sie jedoch aufmerksam an. Nach einigen Sekunden fragte er: »Du hast Bekannte in Barcelona?«

Leandra mischte sich ein. »Ja. Dadurch hatten wir einen guten Grund für diese Reise. Meine Tochter sorgt sich seit Naomis Rückkehr aus den Staaten sehr um sie. Doch gegen einen Besuch ihrer Freunde konnte Luna letzten Endes nichts einwenden.«

Mit vorgeschobener Unterlippe blickte Naomi zu ihrer Großmutter. Wenn Leandra ihm noch den Grund für Lunas Sorgen auf die Nase band, würde sie in die Luft gehen. Ihre Schwangerschaft ging keinen etwas an.

»Verstehe«, murmelte Iker und sah zu Naomi. »Ich bestelle euch ein Taxi.«

»Wann sollen wir morgen kommen?«, wollte Naomi wissen.

»Mutter meinte, ein gemeinsames Mittagessen wäre eine gute Gelegenheit zu einem ausführlichen Kennenlernen. Könntet ihr gegen zwei Uhr hier sein?«

»Aber sicher. Von mir aus gerne schon früher«, antwortete Naomi.

Iker stand auf. »Ich hole Romina um sieben Uhr morgens vom Flughafen ab. Sie wird sich nach der langen Reise erst ausruhen wollen.« Er verließ das Wohnzimmer.

Eine Minute später kam er zurück. »Euer Wagen kommt gleich. Und Naomi, du bist dir im Klaren darüber, dass deine Freunde nichts von uns erfahren dürfen.«

Naomi schnappte sich ihren Rucksack und nickte. »Schon klar.« Sie lächelte. »Karsten würde mich eigenhändig in der nächsten Klapse abliefern.«