Zwanzig

 

»Wir sind gerade durch Bangor gefahren«, sagte Naomi. »In zwei Stunden werden wir am Park sein.«

Roman lächelte. Naomi war unterwegs. Jetzt konnte er problemlos den Umschlag unter ihrer Tür durchschieben. Cape Cod. Drei Tage. Hotel und Flugticket. Das würde sie nach dieser traurigen Fahrt aufmuntern. Der Tod dieser Cassidy hatte Naomi ziemlich mitgenommen. Dann war ihr Freund Sammy wegen eines Jobs umgezogen, was ihn nicht im Geringsten störte. Im Gegenteil. Seine Art, Naomi anzusehen, gefiel ihm nicht. Der ganze Kerl gefiel ihm nicht. Und seit einer Woche war nun auch noch Alice weg. Kein Wunder, wirkte Naomi oftmals nachdenklich und manchmal sogar abwesend. Zu viele Veränderungen in so kurzer Zeit. Die eigene Familie weit weg. Ein Ausflug würde sie auf andere Gedanken bringen. Am Cape war es herrlich, und da Naomi so versessen auf den Ozean war, hoffte er, die richtige Wahl getroffen zu haben.

Nachdem er den Umschlag deponiert hatte, stieg Roman in seinen Wagen und fuhr über die Brücke zurück in den Ort. Eine vertraute Gestalt ging am Ufer des Stillwater Rivers in den Wald. Er erkannte den geschmeidigen Gang. Es war Naomi. Er war sich ganz sicher. Das konnte doch gar nicht sein. Er zückte sein Handy, wählte ihre Nummer. Nichts. Nur die Mailbox sprang an. Roman stellte den Wagen am Straßenrand ab.

 

*

 

Naomis Gedanken rasten. Sie achtete nicht auf die vorbeifahrenden Fahrzeuge, spürte kaum die aufsteigende Hitze. In ihr hämmerte nur ein Gedanke. Schwanger. Sie war schwanger! Nach der Brücke bog sie in den Wald ein, bis ihr klar wurde, dass sie sich mit Kai am anderen Ende des Waldstücks verabredet hatte. Sie schlug sich querfeldein durch die Büsche. Kais Wagen stand, vom Dickicht verborgen, auf dem Feldweg. Erst im letzten Moment entdeckte sie ihn.

Kai sah auf die Uhr. »Du bist spät«, murrte er.

Naomi stapfte grußlos an ihm vorbei in den Wald.

»Was ist denn los?«, fragte er.

Naomi standen Tränen in den Augen. Sie erwartete ein Kind. Ein Kind von Roman. Warum hatte sie diesen blöden Test auch ausgerechnet an diesem Tag machen müssen? »Ich bin schwanger«, flüsterte sie.

Kai blieb stehen. »Du bist was?«

Naomi drehte sich um, blind vor Tränen. Die Übelkeit, die veränderte Geruchswahrnehmung, die ausbleibende Periode, nichts davon hing damit zusammen, dass sie sich bei Vollmond in ein anderes Wesen verwandelte. Sie war schlicht und ergreifend schwanger – und fühlte sich hilflos.

Kai ging auf sie zu. »Bist du sicher?«

Naomi zuckte mit den Achseln. »Wie konnte das nur geschehen?«

»Wie? Na, sehr viele Möglichkeiten gibt es wohl nicht, oder?« Kai schloss die Augen. »Ausgerechnet jetzt.« Er stapfte an ihr vorbei, nahm ihren Arm und zog sie mit sich. Die Lichtung rief.

»Nach diesem Vollmond fliegst du nach Hause. Ist das klar? Du musst dich in Sicherheit bringen. Dich und das Kind.«

Naomi wischte sich die Tränen fort. Nach Hause. Das war alles so weit weg. Wie konnte sie einfach nach Hause gehen? »Ich werde darüber nachdenken.«

»Naomi, da gibt es nichts nachzudenken. Du packst deine Koffer und gehst, verstanden? Roman kommt hier schon zurecht. Er wird es nicht erfahren. Du gehst einfach zurück. Lass dir was einfallen. Beende diese Beziehung, bevor es noch komplizierter wird. Momentan ist es nicht notwendig, ihm irgendetwas zu erklären. Du packst einfach deine Sachen, verabschiedest dich und fertig.« Kai sah sie voller Mitleid an. »Es ist besser so. Vielleicht habt ihr in ein paar Jahren eine Chance. Hier ist es jetzt zu gefährlich.«

Naomi schwieg. Sie stolperte hinter ihm her. In ein paar Jahren? Sie würde nicht einfach aufgeben. Roman musste erfahren, dass er Vater wurde. Das Kind brauchte ihn. Sie selbst wusste am besten, wie sehr es schmerzte, ohne Vater aufzuwachsen. Im Moment wollte sie nur ihre Ruhe haben. Die Lichtung lag direkt vor ihnen, der Vollmond stand am Himmel. Naomi zog sich ohne scheu aus, kauerte sich unter die Ulme und schloss die Augen. Hier drohte keine Gefahr. Kai war paranoid. Sammy war seit Wochen verschwunden. Niemand war hier. Niemand, außer ihnen beiden.

 

*

 

Roman folgte Naomi. Zuerst hatte er sie aus den Augen verloren. Er sah sich um, lauschte auf irgendein Geräusch. Plötzlich hörte er Stimmen. Naomi und Kai. Es war mehr ein Flüstern. Verstehen konnte er nichts, aber das Gemurmel wies ihm den Weg. Was machten die beiden hier? Warum waren sie nicht auf dem Weg zum Acadia Nationalpark?

Naomi hat dich angelogen, dachte er. Mit einem Lächeln auf den Lippen hat sie dich ganz dreist angelogen. Er hatte ihr vertraut. Wer ließ seine Freundin schon mit einem anderen Kerl über Nacht wegfahren? Er war ein Vollidiot. Sein Herz schlug ihm bis zum Hals. Er musste wissen, was sie nachts im Wald zu suchen hatten und schlich weiter hinter den beiden her. Die Dunkelheit schützte ihn. Naomi und Kai schienen vollkommen in ihr Gespräch vertieft. Vermutlich hätten sie ihn nicht einmal bemerkt, wenn er noch mehr Geräusche verursacht hätte, als er es ohnehin schon tat. Äste schlugen ihm ins Gesicht. Er tastete sich langsam vorwärts. Im Wald war es bereits dunkel, und er erkannte kaum, wohin er trat. Behutsam setzte er einen Fuß vor den anderen. Hinter ihm raschelte es. Er fuhr herum. Nichts. Da war nichts. Der Wald unweit der Ortschaft. Hier trieben sich keine Bären herum. Vermutlich nur eine aufgeschreckte Maus, die aus Angst vor ihm geflüchtet war. Er schalt sich einen Feigling. Roman blieb stehen und lauschte, bis er vor sich leises Rascheln vernahm. Geräuschlos tastete er sich weiter, der Waldboden dämmte seine Schritte. Wo steckten sie nur? Als er glaubte, sie endgültig verloren zu haben, tauchte die Lichtung vor ihm auf.

Die Lichtung war erhellt, als wäre sie von einem Spot angestrahlt. Deutlich erkannte er Naomi und Kai im Mondlicht. Roman kauerte sich nieder. Sein Magen verkrampfte sich schmerzhaft. Den aufsteigenden Kloß in seinem Hals würgte er nieder. Warum stürmte er nicht einfach auf die Lichtung und forderte eine Erklärung von Naomi? Das wäre das Mindeste, was er tun müsste. Doch was sollte er ihr vorwerfen? Seine Neugier siegte; sie war stärker, als seine Enttäuschung. Er musste erfahren, was die beiden hier zu schaffen hatten.

Wie ein Hase saß er zusammengekauert im Gebüsch, den Blick fest auf Naomi geheftet. Sie ging auf eine Ulme zu, die durch ihre Größe die Lichtung beherrschte. Ohne ein Wort zu verlieren, zog sie sich aus und legte sich unter den Baum. Roman starrte auf Naomis nackten Körper; unfähig sich zu bewegen. Er schmeckte Blut, seine Zunge fuhr über seine Unterlippe. Er hatte sich die Lippe aufgebissen.

Ein unbestimmtes Gefühl sagte ihm, dass es sich bei diesem Treffen nicht um ein romantisches Date im Wald handelte, obwohl sich Kai ebenfalls seiner Kleidung entledigte. Die Art, wie sie sich auszogen, hatte nichts Erotisches. Es wirkte auf ihn, als zögen sie in einer fremden Wohnung ihre Jacken aus. Beide legten sich in Embryostellung, ohne einen Fetzen Stoff am Leib, unter den Baum, und es schien, als legten sie sich zum Schlafen nieder.

Eine Wolke schob sich vor den Mond. Roman konnte durch die plötzliche Dunkelheit nichts mehr erkennen. In der Hoffnung, der Vollmond würde wieder zum Vorschein kommen, richtete er seinen Blick immer noch auf die Ulme. Roman wagte kaum zu atmen. Gemächlich zog die Wolke weiter. Der Mond kam teilweise zum Vorschein.

Roman stockte. Kai lag nicht mehr dort. Er war verschwunden. Die Stelle, wo Naomi ihren Platz eingenommen hatte, lag immer noch im Dunkeln verborgen. Aber es bewegte sich etwas. Die Stirn in Falten gelegt, versuchte er zu erkennen, was dort war. Die Wolke gab den Mond endgültig frei. Er erhellte die Stelle. Roman schlug sich die Hand vor den Mund.

Dort lag ein Panther. Die Raubkatze war von kleiner Statur, reckte ihre Glieder, wie nach einem ausgiebigen Schlaf, und entfernte sich einige Schritte von der Ulme.

Romans Verstand raste. Sein erster Impuls war wegzulaufen. Doch wohin? Eine Flucht durch den Wald würde einen Höllenlärm verursachen. Ein Panther in Maine? Ausgeschlossen. Wo war Naomi?

Der Panther war an derselben Stelle aufgetaucht, an der Naomi verschwunden war. Ein absurder Gedanke ließ ihn zum Himmel emporsehen. Vollmond. Wie in jener Nacht, als Naomi aus dem Hotel verschwunden war. Sein Verstand weigerte sich, diesen Gedanken zu Ende zu denken. Es war schlicht unmöglich. Unmöglich und faszinierend zugleich. Ein Panther stand mitten auf einer Lichtung im Wald von Maine. Das Mondlicht zeichnete deutlich die helleren Rosetten auf dem schwarzen Fell ab.

Die Katze sah in das Geäst der Ulme. Er folgte dem Blick. Für einen kurzen Moment funkelten grüne Augen auf. Es knackte. Roman spürte, wie ihm der kalte Schweiß ausbrach, als ein weiterer Panther rückwärts am Stamm hinabglitt, bevor das Tier mit einem eleganten Sprung vor der kleineren Katze landete. Roman schloss die Augen. Er musste träumen. Wenn er nun die Augen öffnete, wäre dieses Bild verschwunden. Roman öffnete sie. Nichts hatte sich verändert. Gebannt starrte er auf die Tiere.

Die große Raubkatze floh vor der kleinen, schlug Haken, wich geschickt aus. Sie schienen miteinander zu spielen. Bei dem kleineren Panther musste es sich um ein Jungtier handeln. Die Statur war viel kleiner und die Bewegungen weniger geschmeidig. Immer wieder entkam die große Katze. Zuletzt flüchtete sie sich auf die Ulme, blieb kurz auf dem ersten Astkranz stehen, bevor sie erneut rückwärts am Stamm abwärts kletterte und sich für das letzte Stück zum Sprung umdrehte. Das Jungtier nahm Anlauf. Die Vorderpfoten im Sprung weit geöffnet, schlug es die Krallen in den Stamm. In drei Sätzen war es oben. Roman sah, wie das Tier den Kopf hob, als sei es stolz, nach oben gekommen zu sein. Es legte sich auf den Ast und feixte mit der Vorderpfote nach unten.

 

*

 

Sammy verließ die Höhle, in der er Naomi damals zurückgelassen hatte. Sein rechter Hinterlauf schmerzte. Er zog das Bein leicht nach. Mit jedem Schritt verfluchte er Cassidy. Der Schmerz würde vergehen, die Verletzung heilen. Aber er hatte durch sie ein Leben verloren. Eines von sieben. Sammys Wut verrauchte ein wenig, wenn er daran dachte, dass Cassidys Tod Kai fürchterlich getroffen haben musste.

Nun wusste er, wie es war, ein Leben zu verlieren. Es war die Hölle. Jeden Aufprall hatte er  gespürt. Den Tritt ins Gesicht, wie er anschließend gegen die Felsen knallte. Ihm fehlte einzig die Erinnerung, wie er ins Meer gestürzt war. Vermutlich hatte ihn der letzte Aufprall auf das harte Schiefergestein getötet. Die Strömung hatte seinen leblosen Körper ans Ufer getragen. Zwei Stunden später hatte er das Bewusstsein wiedererlangt, und die Schmerzen trieben ihn schier in den Wahnsinn. Die Knochen schienen nicht gebrochen zu sein. Er konnte sich bewegen, wenn auch nur mit größter Anstrengung. Nun wusste er, auf was er sich eingelassen hatte. So leichtfertig würde er seine verbleibenden Leben nicht riskieren. In Zukunft wäre er vorsichtiger. Sterben mochte schmerzhaft sein, aber erneut ins Leben zurückzukehren war infernalisch.

Die vergangenen Wochen war Sammy vor Schmerzen unfähig gewesen, etwas zu tun. Jeden Tag klangen die Beschwerden etwas ab, bis nun nur noch sein Hinterlauf Probleme bereitete. Auch das würde noch vergehen.

Sammy bewegte sich vorsichtig, um kein Geräusch zu verursachen. Er musste wissen, ob Verstärkung angekommen war, oder ob Kai immer noch dachte, er könne alleine auf Naomi achten. Noch war sie schwach und unbeholfen, aber sie trainierte hart. Härter als andere. Sie hatte die Ulme erklommen. Das hatte noch niemand in den ersten Monaten gewagt. Der Abstieg gelang ihr noch nicht, aber das könnte sich in einigen Nächten ändern.

Sammy schlich weiter. Den Bauch dicht am Boden, schob er sich an den Rand der Lichtung. Kai und Naomi waren hier. Ansonsten konnte er niemanden ausmachen. Sie waren alleine. Naomi jagte hinter Kai her, der ihr immer wieder entwischte. Sie fauchte leise, um ihrem Ärger Luft zu machen. Dieses Verhalten kannte Sammy zu Genüge. Naomi wollte alles erreichen - und zwar sofort. Das würde sie zu einer harten Gegnerin machen. Beim nächsten Vollmond werde ich sie angreifen, dachte er. Vielleicht auch schon früher, wenn sich die Gelegenheit für einen kleinen Unfall ergibt.

Eine Brise wehte einen zarten Schweißgeruch herüber. Sammy schnüffelte. Er kannte den Geruch. Er schob sich rückwärts tiefer in den Wald hinein, schlug einen weiten Bogen um die Lichtung, nahm die Witterung auf und folgte ihr. Der Geruch nahm zu, war nun deutlicher und reiner. Er führte Sammy direkt zu Roman. Als Sammy ihn entdeckte, hätte er am liebsten laut gelacht. Doch das kehlige Geräusch hätte ihn verraten. Lautlos schlich er sich dichter an Roman heran, bis er vor Erregung auf einen trockenen Zweig trat. Das Geräusch ließ Roman herumfahren.

Sie standen nur etwa acht Meter voneinander entfernt. Sammy baute sich zu voller Größe auf, schob seine hintere Körperhälfte leicht schräg, um noch größer zu wirken. Die Ohren dicht an den Kopf nach hinten gefaltet, zog er die Lefzen hoch und zeigte Roman mit einem furchterregenden Fauchen seine Reißzähne. Romans Gesichtszüge waren vor Schreck und Angst entstellt. Er riss die Augen auf, sein Mund zu einem tonlosen O geformt. Sammy genoss diesen Anblick – und fauchte ein weiteres Mal.

 

*

 

Nachdem Naomi Kai nicht hatte fangen können, war ihr Ehrgeiz angestachelt. Wenn sie schon Kai nicht erwischte, dann wollte sie es in dieser Nacht wenigstens schaffen, einigermaßen sicher von der Ulme zu klettern. Kai lief ihr wütend hinterher. »Sei nicht unvernünftig. Du übernimmst dich!«

Naomi erklomm die Ulme ohne Probleme. »Ich muss es wenigstens versuchen.«  Sie stand auf einem Ast hoch oben im Geäst und ignorierte Kai, der mit peitschendem Schwanz unter ihr zwischen den Baumwurzeln saß.

Ein leises Knacken im Unterholz ließ Naomi aufhorchen. Kai stellte ebenfalls die Ohren auf. Dem Knacken folgte ein Fauchen. Sammy war hier. Es konnte nur Sammy sein. Kai drehte sich in die Richtung, aus der das Fauchen gekommen war. Ein weiteres Fauchen war zu hören, Äste knackten, ein erstickter Schrei folgte.

Aus dem Unterholz stürzte Roman auf die Lichtung. Er lief, stolperte, fiel hin. Auf dem Rücken liegend schob er sich mit den Beinen weiter vom Rand weg, weiter in die Lichtung hinein.

Naomi blieb keine Zeit, darüber nachzudenken, was Roman im Wald zu suchen hatte. Sammy setzte Roman nach. Seinen Körper dicht an den Boden geduckt, pirschte er sich Schritt für Schritt weiter an ihn heran, der seinerseits die Füße in den Waldboden stemmte und versuchte, sich rückwärts von Sammy zu entfernen. Naomi erfasste die Situation. »Roman!« Roman konnte sie nicht hören, aber Sammy hörte ihren Gedanken. Sein Blick wanderte zu ihr hoch. Naomi sah das wilde Glitzern in seinen Augen. Er wollte Roman töten.

Kai fauchte, was Roman zusammenfahren ließ. In seiner Flucht vor Sammy war Roman auf die Lichtung gekrochen, ohne auf Kai zu achten.

Naomi sah, wie Roman nun versuchte, sich vor beiden in Sicherheit zu bringen. Sie verteufelte sich, auf dieser Ulme zu sitzen und nicht einschreiten zu können. Sammy richtete sich aus seiner geduckten Position auf. Er machte sich zur Jagd auf Roman bereit. Kai stand noch zu weit entfernt, um sofort eingreifen zu können. Naomi zögerte jetzt nicht länger. Sie zog die Knie- und Fußgelenke zusammen – und sprang. Sie hörte, wie Kai noch etwas rief, aber was es war, erfasste sie nicht. Der Sprung aus zehn Metern Höhe verlangte ihre volle Konzentration. Ihr Blick war fest auf Sammy gerichtet, der innehielt. Sie meinte, Unglauben in seinen Augen zu sehen. Ihre Angst um Roman war größer, als die Angst, sich das Genick zu brechen.

Der Flug durch die Luft kam Naomi endlos vor. Die Tatzen weit ausgebreitet, steuerte sie den Sprung mit ihrem Schwanz, um sich nicht schon in der Luft zu überschlagen. Bevor sie den Boden erreichte, zog sie alle vier Beine dichter an den Körper und machte sich für den anstehenden Überschlag bereit. Ihre Beine federten den Aufprall ab, ihr Bauch und ihr Kopf berührten nur unmerklich den Boden.

Sie setzte direkt zu einem weiteren Sprung an. Ein Fauchen entglitt ihrer Kehle, als sie auf Sammys Rücken landete. Ihre Zähne bohrten sich in seinen Hals, bis sie Blut schmeckte. Sammy warf sich auf die Seite. Sie rollten ineinander verkeilt über den Waldboden. Naomi ließ nicht los. Blut quoll aus Sammys Hals. Sie spürte seine heftigen Abwehrbewegungen. Bald würde sie den Halt verlieren.

Sammy schüttelte sich. Er war doppelt so groß wie sie. Er schüttelte sich weiter, bis Naomi wie eine Stoffpuppe wegschleudert wurde und sie hart gegen einen Baumstamm prallte. Mit einem Pfeifen entwich die Luft aus ihren Lungen.

Kai stand Sammy im Weg. Er deckte Roman. »Naomi! Hörst du mich? Naomi! Komm zu dir!«

Naomi hörte Kai rufen. Sie öffnete die Augen. Kai fauchte. Das Blut an Sammys Hals glänzte feucht im Mondlicht. Naomi kroch in Romans Richtung.

Sollte Sammy an Kai vorbeikommen, hätte Roman keine Chance. Sammy würde ihn in Stücke reißen. Den Blick fest auf Roman gerichtet, kroch Naomi weiter. Kai fauchte erneut, peitschte mit dem Schwanz. Er schob ebenfalls die Hinterläufe zur Seite, um bedrohlicher zu wirken. Seine Ohren lagen dicht am Kopf an. Sein Fell zuckte. Naomi war klar, Kai würde Sammy angreifen. Ohne Rücksicht darauf, dass Sammy wesentlich größer war. Kai wollte Cassidy rächen. Sammy musste sterben.

Kai sprang.

Sammy schob sich zusammen und schlug mit seiner Pranke nach Kai. Naomi hörte, wie seine Krallen Kais Haut aufrissen. Kai umkreiste Sammy. Sammy umkreiste Kai. Sie ließen einander nicht aus den Augen. Naomi sah ihre Chance gekommen und sprang Sammy erneut an die Kehle. Ihr Gebiss riss eine weitere Wunde in seinen Hals. Mit einem kräftigen Prankenschlag befreite sich Sammy von ihr, bevor er sich in Naomis Nacken verbiss. Naomi fühlte sich wie gelähmt. Der Biss ins Genick machte sie bewegungsunfähig. Sollte sie sich nicht befreien können, wäre es ihr sicherer Tod. Sie spürte einen Schlag, der Biss ließ nach.

Kai kämpfte mit Sammy. Er hatte sie aus dem Klammerbiss befreit. Blut spritzte. Naomi konnte nicht sehen, von wem es war. Naomi sah zu Roman, der starr das Kampfgeschehen beobachtete. Er musste spüren, dass Naomi und Kai ihm helfen wollten. Sie machte einige Schritte auf ihn zu. Roman ließ es geschehen ohne zurückzuweichen.

Sie meinte sogar, ein hilfloses Lächeln zu erkennen. Wusste er, dass sie es war? Sie blieb vor Roman stehen, sah ihm in die Augen und entdeckte die Wahrheit. Er wusste es.

Kai und Sammy fauchten. Knurrende Geräusche zeigten ihre Wut, bevor sie sich wieder ineinander verbissen. Sammy lag auf Kai, seine Zähne bohrten sich in sein Fleisch, rissen daran. Kai jaulte vor Schmerz auf, bis seine Schmerzensschreie in ein leises Wimmern übergingen. Kai war am Ende.

Naomi stürzte auf Sammy zu, rammte ihm ihren Kopf in den Leib. Er fiel vornüber, ließ von Kai ab. Sammy machte einen geschwächten Eindruck. Der Kampf mit Kai musste ihn ermüdet haben. Seine Bewegungen waren nicht mehr so schnell, nicht mehr so zielsicher. Naomi zog ihm mit ausgefahrenen Krallen über das Gesicht. Sammy fauchte vor Wut und Schmerz, bevor er sich auf Naomi stürzte. Sie warf sich auf die Seite, alle vier Pfoten zur Abwehr in die Luft gestreckt. Sammy fand ein Loch in ihrer Deckung und schlug seine Zähne in das weiche Fleisch zwischen ihrem Bauch und der linken Vorderpfote. Der stechende Schmerz raubte ihr fast die Sinne. In ihrem Kopf hämmerte es klar und deutlich. Sammy würde erst sie töten – und dann Roman. Sie waren alle verloren.

Aus dem Augenwinkel bemerkte sie, wie Roman sich in Bewegung setzte. Er kroch ins Unterholz. Sie sah ihn nicht mehr, hörte nur noch knackende Geräusche. Roman brachte sich in Sicherheit.

Sammys Kraft ließ nach. Seine Verletzungen schwächten ihn. Trotzdem ließ er nicht los, und sie selbst war zu klein, um seinen schweren Körper abzuschütteln. Immer wieder zerrte er an der Wunde, grub seine Zähne tiefer in ihr Fleisch. Der Schmerz war unerträglich. Sie würde sterben, und mit ihr, Romans Kind.

Deutlich vernahm sie ein Zerren, ein Knacken. War das Roman, der durch den Wald lief? Oder kamen die Geräusche vom Zerren an ihrem Fleisch, vom Brechen ihrer Knochen. Naomis Blick verschwamm.

Wie durch einen Nebel tauchte Roman neben ihr auf. Er hob etwas über seinen Kopf und ließ es auf die Erde herunterfahren. Es gab ein schmatzendes Geräusch. Sammys Biss ließ nach. Gab sie frei. Roman zog den Ast aus Sammys Körper, bevor er ihn nochmals in ihn hineinstieß.

»Stirb endlich!«, rief Roman. »Gottverdammte Bestie.«

Sammys Brustkorb hob und senkte sich. Schwach, immer schwächer, bis keine Atmung mehr zu erkennen war. Er war tot.

Roman starrte auf Sammy, bereit den Ast ein weiteres Mal aus dessen Körper zu ziehen und erneut zuzustoßen.

Während Roman über Sammy wachte, kroch Naomi auf Kais reglosen Körper zu. Er atmete noch. »Kai. Alles wird gut. Sammy ist tot.« Sie leckte ihm über das Gesicht. Aus seinem Hals und seinem Bauch quoll Blut. »Du kommst wieder in Ordnung«, flüsterte sie, obwohl sie wusste, dass es nicht die Wahrheit war. Tränen liefen aus ihren Augen. »Alles wird wieder gut.«

Kai öffnete die Augen. »Nein. Aber, das macht nichts. Ich bin froh, dass es vorbei ist.« Seine Atmung wurde schwächer.

Naomi schmiegte ihren Kopf an Kais Brust. Ihre Tränen mischten sich mit seinem Blut.

Kais Atem ging rasselnd. »Versprich mir, Roman zu verlassen.«

Naomi zögerte.

»Bitte, Naomi.«

Naomi hob ihren Kopf, sah in Kais flehende Augen.

»Naomi«, bettelte er.

Sie schloss ihre Augen. »Ich verspreche es.«

Kais Körper entspannte sich.

»Leb wohl, mein Freund«, dachte sie. Kai regte sich nicht mehr. Naomi war sich unsicher, ob er ihre letzten Worte noch vernommen hatte. Sie verharrte, den Kopf an Kais Körper gelehnt. Sie spürte, wie eine Hand über ihren Rücken strich.

«Komm, ich bring dich weg von hier. Zu Bertram. Dort bist du in Sicherheit.« Roman stand neben ihr. Nachdem sich Naomi nicht bewegte, ging er zur Ulme. Dort fand er Kleidung und Schlüssel. »Naomi?«

Sie hob den Kopf, leckte Kai zum Abschied über die Stirn. Zeit zu gehen. Naomi versuchte aufzustehen. Ein scharfer Stich ließ ihren Körper zusammenfahren.

Roman ging zu ihr und legte ihr behutsam Kais Jogginghose um die Brust, um die blutende Wunde abzudecken. Anschließend hob er sie hoch und trug sie von der Lichtung. Er stapfte durch den Wald. Durch Naomis Gewicht bewegte er sich langsam und schwerfällig. Naomi hörte sein Atmen. Laut und heftig. Zwei Mal blieb er stehen, um wieder zu Kräften zu kommen. Eine Stunde später fand er aus dem Wald und Kais Wagen am Wegesrand. Roman öffnete die Tür und legte Naomi auf die Rückbank.

Die Morgendämmerung brach an. Roman streichelte ihr sanft über den Kopf, über das Fell an der Seite, bevor er die Tür schloss. Naomi erhaschte seinen liebevollen Blick durch das Fenster. Roman startete den Wagen und fuhr los.

Naomi lag auf der Rückbank, sah Romans Augen im Rückspiegel. Heiße Tränen füllten ihre Augen. Das Versprechen an Kai lastete schwer auf ihr. Es schmerzte sie mehr, als ihre blutenden Wunden. Sie wollte Roman nicht verlieren. Wenn sie ihm den Kuss des Vergessens gäbe, würde dieser die Erinnerung an sie und ihre Liebe auslöschen. Roman wüsste weder, wer sie war, noch dass sie ein Kind von ihm erwartete. Er wüsste nicht, dass er bald Vater werden würde. Aber, er wäre in Sicherheit. Cassidy war tot. Kai war tot. Und auch, wenn Sammy nicht mehr hinter ihr her sein konnte, so bestand immer noch die Möglichkeit, dass jemand aus seinem Clan ihn rächen würde. Sie durfte Romans Leben nicht riskieren. Seinen Tod würde sie nicht überstehen. Daran würde sie zerbrechen. Ihr Entschluss stand fest. Sie musste gehen. Bald. Sehr bald! Es zerriss ihr fast das Herz.

Naomi schwor sich zurückzukommen, sobald sie stark genug war, um Roman und ihr Kind zu beschützen. Nach einem letzten Blick in den Rückspiegel, schloss sie die Augen. Warme Dunkelheit hüllte sie ein. Ihr letzter Gedanke galt Roman.

 

 

ENDE

TEIL 1 – DAS ERWACHEN