Elf

 

Naomi erwachte schweißgebadet. Das einfallende Dämmerlicht und die innere Unruhe ließen sie hochfahren. Es war so weit.

Leandra schnarchte in regelmäßigen Zügen neben ihr und sie entschied, sie weiterschlafen zu lassen. Auf leisen Sohlen schlich sie ins Badezimmer, wusch sich mit eiskaltem Wasser das Gesicht und zog den Sweater aus. Die Hitzewallungen strömten übermächtig durch ihren Körper.

Kurz überlegte sie, ihrer Großmutter eine Notiz zu hinterlassen, doch sie fand nirgendwo etwas zu schreiben. Egal. Leandra wusste, dass sie in den Wald gegangen sein musste.

Sie schnappte den Zimmerschlüssel, ließ ihn in ihre Hosentasche gleiten und schloss geräuschlos die Tür, bevor sie aus dem Haus rannte.

Die pummelige Miss Marple wachte über die Rezeption und rief ihr hinterher, sie könne jetzt zu Abend essen. Sie winkte ihr nur zu und flitzte weiter.

 

Leandra hatte recht. Der Wald zog sie magisch an und ihre Beine trugen sie vorwärts, ohne dass sie ihnen eine Richtung vorgab. Sie lief einfach. Immer weiter. Immer tiefer in den Wald hinein.

Je weiter sie lief, desto enger standen die Bäume beisammen, und sie musste im Zickzack rennen. Sie stürmte weiter, ohne auf die tief hängenden Äste zu achten. Es drang kaum noch Tageslicht durch die Baumkronen. Sie war spät dran. Viel zu spät.

Ihr Körper kribbelte und sie wusste, sie hätte längst am Treffpunkt sein müssen. Etwa einhundert Meter vor ihr sah sie die Lichtung. Trotzdem spürte sie, dass sie es nicht mehr bis dorthin schaffen würde.

Ihr Blick verschwamm, und um sie herum wirkte es, als sei alles in dichten Nebel getaucht. Die Hitze schien sie innerlich zu verbrennen. Mit raschen Handbewegungen riss sie sich an Ort und Stelle die Kleider vom Leib - bevor sie bewusstlos zusammenbrach.

 

Als Naomi erwachte, konnte sie sich im ersten Moment nicht erklären, wo sie sich befand. Was war geschehen? Zusammengeduckt spähte sie durch die Nacht. Der Wald. Die Lichtung. Sie hatte sie nicht mehr erreicht. Dabei lag sie direkt vor ihr.

Der Stamm der hochgewachsenen Platane zeichnete sich deutlich vor dem hell erleuchteten Himmel ab. Die dunklen ahornförmigen Blätter streckten sich wie tausend Finger dem Vollmond entgegen. Der verkrüppelt wirkende Baumstamm war in sich gewunden und schraubte sich bis zum ersten Astkranz fünf Meter in die Höhe, bevor die ausladenden Äste wie ein Dach in die Breite gingen und die Lichtung beschatteten.

Naomis Herz pochte, als sei sie gerannt. So heftig spürte sie jeden einzelnen Pulsschlag. Irgendetwas stimmte nicht, sonst wäre ihr Körper nicht so angespannt. Oder stellte sich das vertraute und warme Gefühl der Sicherheit erst ein, wenn sie an der Platane war?

Sie kauerte sich zusammen und lauschte in die Dunkelheit. Eine unbestimmte Ahnung mahnte sie, ruhig zu sein und abzuwarten. Ihr eigenes Atmen dröhnte in ihren Ohren.

In der Ferne vernahm sie Geräusche. Erst nur ein Rascheln, dann knackende Zweige. Aus welcher Richtung kam das? Naomi spitzte die Ohren. Ruhe. Dann zerriss ein Brüllen die Stille. Das Geräusch war kein wütendes Fauchen; es hörte sich furchterregend und beeindruckend zugleich an. Ein sägendes, fast kreischendes Brüllen.

Naomi drückte sich noch mehr ins Dickicht. Irgendwo in ihrer unmittelbaren Nähe fand ein Kampf statt.

Sie musste sehen, was vor sich ging. Dicht an den Boden geduckt, pirschte sie sich an die Lichtung. Die lag verlassen vor ihr. Nur die Blätter rauschten im aufkommenden Wind. Der Kampf musste tiefer im Wald stattfinden.

Naomi drehte den Kopf, um festzustellen, woher die Geräusche kamen. Von rechts? Er musste rechts von ihr stattfinden. Äste brachen. Das Brüllen klang noch durchdringender; bis es plötzlich verstummte.

Noch mehr ins Gebüsch gedrückt, starrte Naomi gebannt in die Richtung, aus der sie die Kampfgeräusche vernommen hatte.

Lange Minuten hörte sie nichts weiter. Dann vernahm sie ein zartes Knacken. Kurz darauf sah sie eine Bewegung unterhalb der Platane.

Geräuschlos schlich sie näher, bis sie das glänzende Fell des Panthers entdeckte. Naomis Herzschlag setzte für einen Moment aus. Am liebsten wäre sie auf ihren Artgenossen zugelaufen. Doch konnte sie sicher sein, dass es sich um einen Freund handelte?

Die Kampfgeräusche hallten noch in ihrem Kopf wider. Ihr Fell zuckte. Vielleicht brauchte ein Freund ihre Hilfe. Ihr blieb keine Wahl. Sie musste nachsehen.

Naomi beschloss, nicht den Weg quer über die Lichtung zu gehen. Besser, sie tastete sich am Rande zu diesem anderen Katzenmenschen vor. Selbst wenn es ein Feind sein sollte, so wäre er durch den Kampf geschwächt. Außerdem bezweifelte sie, dass sich jemand des feindlichen Clans so dicht an die Lichtung wagte. Die Gefahr, auf einen weiteren Gegner zu treffen, wäre viel zu groß. Kurz bevor sie das reglose Tier erreichte, stoppte sie in gebührendem Abstand. »Wer bist du?«

Der Panther sprang auf die Beine und stellte sich quer, um größer zu wirken.

»Keine Angst. Ich tu dir nichts.« Naomi setzte sich auf die Hinterpfoten und sah ihn ruhig an. Sein Fell glänzte an verschiedenen Stellen feucht. Es musste sich um Blut handeln. »Du bist verletzt. Ich habe den Kampf gehört.«

Er fixierte sie für einen Moment, bevor er seine aggressive Haltung ihr gegenüber aufgab. »Teufel, hast du mich erschreckt. Nachdem ich niemanden auf der Lichtung gesehen habe, dachte ich, ich sei alleine hier. Was drückst du dich so im Gebüsch herum?«

»Ich hab den Kampf gehört und wusste nicht ...« Naomi ließ den Fremden nicht aus den Augen. »Was ist denn passiert?«

»Besuch vom anderen Clan. Zurzeit herrscht etwas Unruhe.« Er leckte sich über die verletzte Vorderpfote. »Ich bin John, und ich warte auf einen Neuling. Ich denke, ich habe ihn gefunden.«

Naomi überlegte, ob sie sich zu erkennen geben sollte. »Woher weißt du, dass ein Neuling kommen wird?«

»Die Buschtrommeln sind eben schnell. Außerdem wird er sich nach vergangener Nacht kaum noch mal in den Richmond Park wagen. Wobei, selbst das kann man nicht wissen.« John leckte weiterhin seine Pfote. Dann sah er auf. »Irgendwie werde ich das Gefühl nicht los, dass du dieser Tollpatsch bist. Aber immerhin warst du schlau genug, nicht nochmals in den Park zu gehen.«

Naomi stand auf. Es war kein Meisterstück gewesen, was sie in der letzten Nacht abgeliefert hatte, aber deswegen musste man sich noch lange nicht über sie lustig machen.

»Und, warst du das?«

Naomi ließ die Frage unbeantwortet. »Wer ist noch hier?«

»Jetzt niemand mehr. Denke ich.« John leckte sich über seine linke Schulter, bevor er sich mit der Pfote über die Stirn strich. Blut tropfte von seinem Ohr.

Naomi sah den tiefen Riss. Der Kampf musste hart gewesen sein. Ihr graute. Wäre sie in der Lage zu kämpfen? Auf Leben und Tod? Der Kampf in Stillwater damals war nur ein kurzes Vorspiel gewesen. Ohne Hilfe hätte sie ihn nicht überlebt. Das wusste sie.

»Du musst Rominas Nachfahrin sein.«

Naomi schluckte trocken. »Ich? Warum denkst du das?«

»Sonst wäre Walter Thursfield nicht hier gewesen. Seine Familie, oder besser gesagt, der gesamte Clan ist hinter den Papieren her.« John sah sie herausfordernd an. »Er muss dir hierher gefolgt sein.«

»Welche Papiere?«, fragte Naomi. Keinesfalls wollte sie diesem John einfach vertrauen. Der Anwalt war hier gewesen? Deswegen hatte er also so viele Fragen gestellt. Er war wie sie. Walter. Das war der alte Mann in diesem Lehnstuhl gewesen. Seine Augen hatten sie an jemanden erinnert. Ihr fiel immer noch nicht ein, an wen.

»Jeder weiß davon. Schon seit Jahren. Nur weiß keiner, was darin steht, oder wo sie zu finden sind.« John hörte auf, seine Wunden zu lecken. »Du bist es doch, oder?«

Naomi zögerte.

»Und du hast die Papiere.«

»Ich weiß nicht, wovon du sprichst.« Naomi zog sich zusammen. Ihre Ohren zeigten ihre zwiespältigen Gefühle. Das linke Ohr war aufgerichtet, das rechte lag am Kopf an. Ihre Tasthaare an der Schnauze lagen dicht an ihren Wangen an, was ihr ein spitzes Gesicht verlieh. Irgendetwas mahnte sie zur Vorsicht. Vielleicht die Art, wie John die Fragen stellte.

»Walter Thursfield.«

Naomi konnte sich diesen alten Mann nicht in einem Kampf vorstellen. Er hatte sich in seinem Büro so schwerfällig aus dem Lehnstuhl gestemmt, da war es kaum vorstellbar, dass er sich im Wald einen Kampf mit einem anderen Katzenmenschen lieferte. »Wo ist er jetzt? Hast du ihn vertrieben?«

»Keine Angst.« John grunzte und streckte sich. »Der macht uns keinen Ärger mehr. Es blieb mir keine andere Wahl, als ihn zu töten.«

Naomis Schwanz zuckte nervös. Die Art, wie kaltblütig er das sagte, ließ sie zweifeln, ob er wirklich hier war, um ihr zu helfen. Er redete über den Tod eines Menschen, als hätte er eben eine lästige Mücke erschlagen. Selbst wenn Walter Thursfield ihr Feind war, so handelte es sich trotzdem um ein Menschleben. Ein alter Mann, der sich mit seiner letzten Kraft zur Wehr gesetzt hatte. Mit Sicherheit hätte er keine wirkliche Gefahr für sie dargestellt.

»Du bist doch Naomi, oder?« Er stand auf und kam einige Schritte auf sie zu.

Instinktiv wich Naomi vor ihm zurück. Ihr Hinterteil schob sich nach oben. Kai hatte ihr erklärt, dass sie mit jeder Verwandlung größer werden würde. Er war schon bedeutend größer und kräftiger gewesen, als sie, doch John wirkte riesig. Und - er jagte ihr Angst ein.

Wie alt mochte er sein? Sein Gesichtsausdruck hatte etwas von einem alten räudigen Kater; etwas Böses ging von ihm aus. Er erinnerte sie an Sammy.

»Und du hast die Papiere.« Er kam noch näher. »Sie sind hier, nicht wahr?« Er legte den Kopf schräg und sah sie aus kalten Augen an.

Naomi schob sich rückwärts von ihm fort. Durch die dichten Äste der Platane fiel kaum Mondlicht auf diesen Teil der Lichtung. Auch wenn sie in dieser Dunkelheit perfekt sehen konnte, wollte sie doch auf den hell erleuchteten Teil der Lichtung gelangen. Am liebsten wäre sie losgerannt. Doch sie wagte nicht, John den Rücken zuzudrehen.

Wegen der Art, wie er auf sie zupirschte, sich lang machte und sie nicht aus den Augen ließ, erahnte Naomi, dass John vom feindlichen Clan sein musste. Er war hinter den Papieren her. Vermutlich war John nicht einmal sein richtiger Name.

Ein leises Fauchen entwich ihrer Kehle.

»Naomi. Mach es mir doch nicht so schwer. Ich will nur die Papiere. Wenn du sie mir nicht freiwillig gibst, dann werde ich sie mir holen, und das wird deiner Großmutter nicht gut bekommen.« Seine Augen funkelten.

Nur noch ein paar Schritte, und sie wäre auf dem vom Mondlicht erhellten Teil der Lichtung. Aber was sollte sie dann tun? Ihn angreifen, bevor er es tat? Er war so viel größer als sie. Unbändiger Zorn stieg in ihr auf. Die Drohung, ihrer Großmutter etwas anzutun, ließ sie mutig werden. Ohne zu überlegen, blieb sie stehen, bis sich John direkt vor ihr befand. Ihre Schwanzspitze zuckte. Mit den Hinterpfoten begann sie zu treteln.

»Ach, du drohst mir?« John drückte sein Hinterteil höher, als seien seine Hinterläufe plötzlich gewachsen. Durch diese Haltung wirkte er noch Furcht einflößender.

Naomi erhob ihre rechte Pfote, ließ sie einige Sekunden reglos in der Luft schweben, bevor sie mit einer flinken Bewegung John die Krallen quer über sein Gesicht zog. Mit einem Satz nach hinten brachte sie sich in Sicherheit.

John brüllte auf. »Das wirst du bitter bereuen!« Er umrundete sie, suchte nach einem passenden Moment, um sie anzufallen. Sein Schwanz peitschte von links nach rechts. Dünne Blutfäden liefen quer über seine Schnauze.

Naomi ließ ihn nicht aus den Augen. Sie umkreisten sich gegenseitig. Trotzdem überraschte sie die plötzliche Attacke. Ohne das geringste Anzeichen fiel er über sie her.

Sie warf sich auf die Seite, die Pfoten in Abwehrhaltung um Bauch, Kehle und Nacken zu schützen. Genauso, wie Kai es ihr beigebracht hatte. Es nützte ihr nur für einen kurzen Augenblick etwas.

Der kräftige Hieb seiner Pranke rollte sie auf den Rücken und Naomi heulte auf. Er wollte sie töten. Panisch rappelte sie sich auf die Beine und rannte los, um zu fliehen. Keine zwei Sätze schaffte sie, bis ein Prankenschlag auf ihren Hinterlauf ihre kopflose Flucht stoppte. Die Wucht riss sie herum. Sie überschlug sich. Naomi bereitete sich auf den nächsten Angriff vor. Ein Entkommen war unmöglich. John stand nur drei Meter von ihr entfernt. Es schien, als spiele er mit ihr.

Sie schnellte auf die Beine, stellte sich quer. Auch wenn sie gegen ihn lächerlich klein wirkte, ließ ihr Instinkt sie automatisch diese Position einnehmen. John schlich um sie herum. Dieses Mal sah sie deutlich, wie sich seine Muskeln anspannten, bevor er sie anfiel. Das Gewicht seines Körpers rammte sie zu Boden. Doch der gefürchtete Schlag blieb aus.

Wehrlos lag sie unter ihm. »Wo sind die Papiere?« Seine Reißzähne waren nur wenige Zentimeter von Naomis Kehle entfernt. Ergeben schloss sie die Augen.

»Lass sie los. Sofort!«

Naomi schnappte den Gedanken auf. Eine weibliche Stimme. Wer hatte hier gesprochen? Im nächsten Moment sah sie einen gewaltigen Panther auf sich zurennen. Der Aufprall, als sich das Tier auf John stürzte, riss ihn von ihrem Körper herunter.

Er strauchelte, verfing sich jedoch, und starrte auf das, aus dem Nichts aufgetauchte Weibchen. »Romy.«

Romys Fell glänzte silbern im Mondlicht. Naomi erkannte deutlich die rosettenförmige Fellzeichnung. Dieses Tier war mächtig. Größer als jedes, was Naomi bisher gesehen hatte. Furcht einflößend und beeindruckend zugleich. Eine unglaubliche Kraft ausstrahlend, trat es grazil zwischen sie und John. Diese Romy wollte Naomi beschützen.

»Du bist alt geworden, Walter. Zu alt, um meinem Clan schaden zu wollen.«

Naomi überlegte fieberhaft. John war Walter. Walter Thursfield, der alte Anwalt - und er musste während des Kampfes, den sie gehört hatte, diesen John getötet haben. So musste es sein.

Zusammengeduckt beobachtete Naomi, wie Romy sich Walter näherte. Mit einem Satz warf sie sich auf ihn. Durch den Schwung fiel er schwerfällig zur Seite. »Ich könnte dich jetzt töten.« Das riesige Tier blieb direkt über ihm stehen. Ihr Kopf strich über seine Kehle. Beinahe sah es zärtlich aus. Doch die gebleckten Reißzähne leuchteten hell im fahlen Mondlicht. »Aber, ich werde es nicht tun.«

Walter starrte seinen übermächtigen Feind an. Seine Ohren lagen dicht am Kopf an.

»Denn du sollst spüren, was es bedeutet, einen geliebten Menschen zu verlieren. Vielleicht töte ich deinen Sohn, vielleicht auch jemand anderen, der dir nahe steht.« Mit dieser Drohung ließ sie von ihm ab. Mit einem eleganten Satz sprang sie von ihm herunter. »Und jetzt verschwinde. Lass dich hier nie wieder blicken, oder du wirst es bereuen!«

Walter stand auf. Seine Ohren lagen immer noch an. Er machte einen Buckel. Den Kopf gesenkt, schob er sich rückwärts. Romy ließ er dabei nicht aus den Augen. Als er weit genug von ihr entfernt war, um keinen erneuten Angriff befürchten zu müssen, drehte er sich um und hetzte davon. Sein Körper war dicht am Boden. Er wirkte niedrig und lang, wie er so eilig die Flucht ergriff. Alles an ihm schien zu hängen, die Ohren, die Tasthaare an seiner Schnauze, sogar sein Schwanz. Als er die Lichtung verlassen hatte, verriet das Brechen der Äste, dass er mit großen Sätzen das Weite suchte.

Naomi kauerte in geduckter Haltung auf dem Waldboden. Romy kam auf sie zu. Ihre Körpergröße schüchterte sie ein.

»Bist du in Ordnung?«

Ohne Romys Erscheinen wäre sie verloren gewesen. Sie wollte sich bedanken, doch schaffte sie es nicht, laut zu denken.

»Beruhige dich.« Romy stupste sie mit der Nase an. »Konzentriere dich darauf, was du mir sagen willst. Denke es laut und deutlich, damit ich dich verstehen kann.«

Die freundschaftliche Geste beruhigte sie tatsächlich. »Danke«, dachte sie. »Wenn du nicht gekommen wärst ...«

»Wenn ich nicht gekommen wäre, hätte dir Walter auch nichts getan. Er ist hinter den Briefen her.« Romy setzte sich vor sie hin.

In Naomis Kopf raste alles durcheinander. Woher wusste sie von den Umschlägen? Hatte sie im Schutz der Büsche gelauscht und zugesehen, wie Walter sie verprügelte? Ihre Stirn lag in dicken Falten. Er hatte sie Romy genannt. Naomi riss die Augen auf, als ihr ein verrückter Gedanke kam. »Romina?« Vor Überraschung hatte sie laut gedacht.

»Als ich noch jung war, nannte man mich Romy.«

Naomi sprang auf die Beine. »Du lebst!« Übermütig vollführte sie Bocksprünge, den Schwanz zu einem Fragezeichen geformt. »Ha! Wenn ich das Oma erzähle!« Sie stolperte, wie in ihren Anfangszeiten, über ihre eigenen Beine und fiel auf die Seite, rollte sich mal nach links und mal nach rechts. »Du musst mitkommen. Oma wird rückwärts umfallen.«

»Setz dich bitte.« Romina blieb reglos sitzen.

Naomi zwang sich zur Ruhe und setzte sich neben ihre Urgroßmutter. Ihr Schwanz schwang von rechts nach links über den Boden. Sie konnte sich kaum beruhigen. Zu unfassbar war es, Romina vor sich zu haben. Endlich würde sie alles erfahren und wäre nicht mehr alleine. Endlich würde jemand sie trainieren und unterrichten. Jemand mit Erfahrung. Jemand aus ihrer Familie. Ihre Oma würde vor Freude ausflippen.

»Ich kann nicht.« Romina sah ihr in die Augen.

»Was?« Naomi stand wieder auf. »Warum nicht? Du musst. Das kannst du nicht machen!«

»Naomi, bitte. Es ist eine lange Geschichte. Es gibt noch einige Dinge, die ich regeln muss. Leandra wird es verstehen.«

»Den Teufel wird sie.« Sie linste zu Romina, in der Hoffnung die Worte nicht laut gedacht zu haben. An Rominas Gesicht sah sie, dass sie mal wieder nicht aufgepasst hatte.

»Es tut mir leid.« Den Blick gesenkt sah Romina auf ihre Pfoten. »Ich weiß, was ich ihr zumute. Aber es geht nicht anders. Ich komme bald wieder, versprochen. Sag ihr das.« Romina stand auf. »Nächsten Vollmond werde ich bei dir sein. Lies die Briefe und dann verbrenne sie. Bleibt hier und passt auf euch auf.« Ihre Urgroßmutter streifte sie liebevoll mit dem Kopf, bevor sie mit großen Sätzen davonsprang.

»Warte! Du kannst doch nicht einfach ...« Naomi rannte los. Blind galoppierte sie hinter ihr her. Büsche peitschten ihr ins Gesicht, als sie weiterstürmte. »Warte!«, rief sie. »Bitte!«

Aber Romina war verschwunden, kein Geräusch war mehr zu vernehmen. Sie lauschte einige Minuten, ob sie nicht doch noch etwas hörte, sodass sie ihrer Spur folgen konnte. Aber alles blieb ruhig.

Mit hängendem Kopf trottete sie zurück zur Lichtung. Sie lag verlassen da. Nur die Platane schien auf sie zu warten. In drei Sprüngen erreichte sie den ersten Astkranz. Missmutig legte sie sich auf einen Ast und grübelte nach. Was sollte sie nur Oma sagen? Nichts? Sollte sie einfach bis zum nächsten Vollmond warten? Sie hatte nicht einmal die Möglichkeit gehabt, Romina auch nur eine einzige Frage zu stellen. Wer war John? Woher kannte Walter Thursfield Rominas Spitznamen? Nichts, sie wusste gar nichts. Das Hochgefühl und der Übermut lösten sich in Luft auf. Zwar hatte sie ihre Urgroßmutter gefunden, aber auch im selben Moment wieder verloren.

Romina hatte ihr versprochen, beim nächsten Vollmond hier zu sein. Also hatte Naomi sie nicht wirklich verloren, beruhigte sie sich selbst. Das Familientreffen verschob sich nur. Trotzdem wusste sie nicht, wie Oma reagieren würde.

Als sich der Himmel purpurn verfärbte, war sie kein Stück weitergekommen. Wenigstens bereitete ihr der Abstieg keine Schwierigkeiten mehr. Unter dem schützenden Blätterdach der Platane legte sie sich hin, um auf den neuen Tag zu warten.

 

Nackt huschte Naomi über die Lichtung und lief in den Wald hinein. Die Platane war links von ihr gewesen, als sie den Platz vor sich entdeckt hatte, also musste auch hier irgendwo ihre Kleidung sein. Die Sonne schien durch die Bäume. Hoffentlich waren um diese frühe Uhrzeit noch keine Fußgänger mit ihren Hunden unterwegs. Wenn jemand sie nackt im Wald vorfand, würde man sie zwangsläufig für verrückt halten oder glauben, sie sei überfallen worden.

Ein dunkler Fleck zeichnete sich links an ihrem Hintern ab. Die Stelle schmerzte bei jedem Schritt. Dort hatte Walter ihr den Schlag versetzt, der sie zu Fall gebracht hatte. Sonst schien ihr, bis auf einige Kratzer an den Armen, nichts zu fehlen.

Hinter einem Busch fand sie einen einzelnen Turnschuh. Sie konnte sich nicht mehr genau erinnern, ob sie alles an derselben Stelle ausgezogen hatte. Sie hatte es eilig gehabt. Das wusste sie noch. Weit konnten die anderen Kleidungsstücke aber nicht sein.

Die Jogginghose baumelte an einem Ast, samt ihres Schlüpfers. Offensichtlich hatte sie beides gleichzeitig abgestreift. Das Shirt lag einen Meter davon entfernt auf dem Boden, auch den zweiten Schuh und eine Socke fand sie dort.

Nachdem sie sich alles übergestreift hatte, sah sie sich nach der zweiten Socke um. Sie war nirgends zu sehen. Naomi zuckte mit den Schultern. Dann musste sie eben barfuß in den anderen Schuh hinein. Ihre Augen suchten ein letztes Mal den Platz ab. Doch die Socke blieb verschwunden.

Die langen Hosenbeine gingen sowieso fast bis zur Sohle. Naomi wollte schnell zurück zu ihrer Oma. Sie schloss die Klettverschlüsse und lief durch den Wald, bis sie auf einen schmalen Pfad gelangte, der sie zur Pension brachte.

Miss Marple blätterte hinter der Rezeption in einer Zeitschrift und zog verwundert die Augenbrauen nach oben. Über ihre Brille hinweg musterte sie Naomi, die ihr fröhlich einen Guten Morgen wünschte. Sie wollte den Eindruck erwecken, als habe sie vor dem Frühstück bereits eine Runde gejoggt. Die Dame erwiderte den Gruß, wenn ihr auch die Verwirrung ins Gesicht geschrieben stand. Vermutlich wunderte sie sich, wie es ihren aufmerksamen Augen hatte entgehen können, dass Naomi erst am Vorabend und nun auch am frühen Morgen unbemerkt an ihr vorbeigekommen war. In ihren Sportsachen erweckte Naomi kaum den Eindruck eines Partymenschen, der sich die ganze Nacht um die Ohren geschlagen hatte.

»Gibt es schon Frühstück?«, fragte Naomi, um die Musterung zu unterbrechen.

»In dreißig Minuten.«

»Wunderbar.« Naomi lächelte ihr zu und ging nach rechts zur Treppe, die zu den Zimmern führte. »Bis gleich!«

Mit einem Griff zauberte sie den Schlüssel aus ihrer Hosentasche und freute sich, ihn nicht im Wald verloren zu haben. Noch bevor sie ihn im Schloss stecken konnte, riss Leandra die Tür auf.

»Du bist wieder da!« Ihre Großmutter schloss sie in die Arme und drückte sie an sich. »Als ich aufwachte, warst du schon fort. Und keine Notiz. Hättest du nicht wenigstens die Uhrzeit aufschreiben können?«

»Oma. Ich habe verschlafen, was mir echt nicht mehr passieren darf.« Sie löste sich aus der Umarmung. »Auf die Schnelle habe ich nichts zu schreiben gefunden. Außerdem wusstest du doch, wohin ich ging.« Ohne die Verschlüsse zu öffnen, schlüpfte sie aus den Schuhen.

»Nach der Dusche geht´s ab zum Frühstück. Ich bin regelrecht ausgehungert.« Naomi verzog sich ins Badezimmer. Ihr Mut sank. Erst hatte sie überlegt, Oma gleich von der Begegnung mit Romina zu erzählen. Doch in dem Moment, als sie in ihr besorgtes Gesicht geblickt hatte, entschied sie sich dagegen.

»Erst will ich wissen, was heute Nacht passiert ist«, drängte Leandra.

»Ich habe einen Bärenhunger, Oma. Bitte.« Naomi zog sich aus und stieg in die Duschwanne. Das prasselnde Wasser löste ihre Verspannungen und ersparte ihr weitere Fragen.

In ein dickes Frotteetuch gewickelt, betrat sie das Schlafzimmer. Leandra saß angekleidet auf dem Bett und wartete ungeduldig. Sie knetete ihre Hände, was Naomi nicht verborgen blieb.

Naomi seufzte. »Wenn ich dir sage, dass ich nicht alleine war, genügt dir das für den Anfang? Mir geht es prima, alles ist bestens, und jetzt lass uns bitte Essen gehen.«

»Nein, das reicht mir nicht.« Leandra stand auf und ging zu dem kleinen Tischchen in der Ecke. Dort holte sie ein Sandwich, das offensichtlich noch von gestern Abend übrig war. »Wenn du so hungrig bist, dann beiß da hinein, und jetzt erzähl mir, was los war.«

Naomi rubbelte sich das Haar trocken. Das Sandwich sah nicht sehr appetitlich aus. Der Salat klebte welk am Brötchen, die Salami schien angetrocknet zu sein. Sie verzog das Gesicht. »Gott, sieht das eklig aus. Also gut, Oma. Du hast gewonnen. Aber nur die Kurzfassung, okay?«

Mit vorgeschobener Unterlippe pilgerte Leandra im Zimmer auf und ab.

Während Naomi in frische Jeans und ein T-Shirt schlüpfte, erzählte sie ihr, dass zwei Clanmitglieder am Treffpunkt gewesen waren. »Ich hatte Glück, Oma. Großes Glück. Dieser Walter Thursfield war auch dort, und er hatte mich schon ziemlich in der Zange. Das kann ich dir sagen. Wenn mir nicht jemand zu Hilfe gekommen wäre, um ihm eine ordentliche Lektion zu erteilen, weiß ich nicht, wie die Sache ausgegangen wäre.«

»Der Anwalt war dort?« Leandra ließ sich auf die Bettkante plumpsen. »Ist Walter jetzt der junge oder der alte Thursfield?«

»Der Alte. Und er ist tatsächlich hinter den Papieren her, wie ich es dir gesagt habe.« In ihrem Kulturbeutel kramte Naomi nach dem Kamm. Während sie danach suchte, spürte sie, wie ihr Gesicht zu glühen begann. Sollte sie ihr sagen, wer ihr geholfen hatte?

»Mit dem Alten wärst du doch bestimmt alleine fertig geworden, oder?« Leandra nahm das nasse Badetuch vom Bett, ging ins Bad und hängte es zum Trocknen über eine Stange. »Na ja, glücklicherweise musstest du es nicht herausfinden.«

Nachdem ihre Großmutter sich keine Sorgen machte, sagte sie ihr nicht, wie eng es wirklich gewesen war. Denn der Alte war als Panther alles andere als schwach und gebrechlich.

Leandra fixierte sie und legte den Kopf schräg. Nach einer kurzen Pause sprach sie weiter. »Hast du etwas über den Clan erfahren?«

Naomi kämmte sich das Haar, bevor sie es im Nacken zusammenband. »Nichts. Absolut nichts.«

»Und was ist mit Thursfield?« Leandra zog besorgt die Stirn in Falten. »Treibt der sich hier noch herum?«

Naomi verneinte. »Lass uns runtergehen. Den Rest erzähle ich dir später, okay?« Bekräftigend knurrte ihr Magen in einer Lautstärke, die Leandra auf die Beine springen ließ.

Die Hände in die Hüften gestemmt, stand sie vor ihr. »Na gut. Aber nach dem Frühstück will ich nicht nur ein paar weitere Brocken von dir hingeworfen bekommen. Du bist vorhin knallrot angelaufen, also gab es da noch mehr. Glaub nicht, das hätte ich nicht bemerkt.«

Naomi sah zur Decke und verdrehte die Augen. Ihre Oma trickste man nicht so leicht aus. Während des Frühstücks blieb ihr ausreichend Zeit, sich eine Geschichte auszudenken.

 

»Dir wird schlecht werden, bei all dem fettigen Zeug«, sagte Leandra, die kopfschüttelnd auf Naomis beladenen Teller sah.

Rührei, Speck, Würstchen, Käse, ein Brötchen und zwei Scheiben geröstetes Brot, dazu noch Tomaten. Naomi schenkte sich eine Tasse Tee ein und griff zum Besteck. »Wenn ich, wie du, die ganze Nacht geschlafen hätte, würde mir eine Grapefruit und ein Ei vorneweg vielleicht auch reichen.« Sie stopfte sich eine Gabel mit Rührei in den Mund.

Leandra knabberte an ihrem Toast. »Nachdem wir hier alleine sitzen, könntest du mir auch jetzt alles erzählen.«

Der Frühstücksraum lag noch verlassen da. Naomi sah sich um. »Und wenn Miss Marple wieder auftaucht?«

»Miss Marple?«

»Na, du weißt schon, die putzige Frau von gestern. Die sieht genauso aus und ist auch genauso neugierig.« Ein Würstchen verschwand in ihrem Mund. »Du hättest sehen sollen, wie sie mich heute Morgen gemustert hat. Vermutlich wundert sie sich jetzt noch darüber, dass sie nicht mitbekommen hat, wie ich aus dem Haus gegangen bin.«

»Bist du ja auch nicht.« Leandra tupfte sich mit der Serviette über die Mundwinkel.

»Besser, wir reden im Zimmer.« Naomi hatte kaum ausgesprochen und sich eine weitere Gabel Ei in den Mund geschoben, als die Hausherrin den Frühstücksraum betrat.

»Sie waren ja schon früh auf den Beinen«, sagte sie und kam auf ihren Tisch zu.

Naomi nickte mit vollem Mund und grinste ihre Großmutter mit hochgezogener Augenbraue an.

 

Zurück auf dem Zimmer, ließ sich Naomi auf das Bett fallen. »Ich platze. Warum hast du mich nur so viel essen lassen?« Dabei lächelte sie ihre Großmutter spitzbübisch an. »War ein Scherz. Wo sind die Unterlagen? Du hast sie doch gestern versteckt, bevor du zum Essen runter bist, oder?«

»Du liegst darauf.«

Naomi rollte sich zur Seite, damit Leandra an die Briefe kam, die sie unter der Matratze deponiert hatte.

Eine Minute später lagen die Umschläge auf dem Bett. »Lesen wir der Reihe nach?« Naomi suchte nach dem Kuvert mit der Nummer eins.

Ihre Großmutter nickte und setzte sich zu ihr aufs Bett.

Naomi schlug die Beine übereinander. »Willst du?« Sie hielt ihrer Großmutter den Brief hin.

Leandra schüttelte den Kopf und verschränkte die Arme.

Nach einem herzhaften Seufzer riss Naomi den Umschlag auf und zog den Inhalt heraus. Sie faltete den Papierbogen auf. Nach einem prüfenden Blick zu ihrer Oma, fing sie an zu lesen.

 

Mein liebes Kind, irgendwie würde ich mich freuen, wenn du diesen Brief liest, auch wenn es bedeutet, dass dich das gleiche Schicksal ereilt hat, wie mich. Seit meinem Verschwinden sind nun drei Jahre vergangen und wir befinden uns im Jahr 1957.

Als ich deinen Vater kennenlernte, wusste ich, dass ich anders bin. Dein Vater war auf der Wanderschaft, wie es bei Handwerkergesellen Brauch ist, und so kam er in unser Dorf. Mein Vater betrieb eine Schreinerei, die mein Bruder später übernahm. Dein Vater begann bei uns zu arbeiten, und wir verliebten uns ineinander. Nach drei Monaten heirateten wir.

Kurz nach unserer Heirat wurde ich schwanger und wir bekamen dich, was unser Leben komplett machte. Die Verwandlungen im Wald konnte ich geheim halten, weil dein Vater über einen gesegneten Schlaf verfügte oder in den Nachbardörfern übernachtete, wenn es viel zu tun gab. Du hast schon als Baby die Nacht durchgeschlafen und ich gestehe, dass ich dich manchmal alleine ließ, wenn die Nachbarin sich in diesen Nächten nicht um dich kümmern konnte. Zur damaligen Zeit achtete man gegenseitig auf die Kinder oder ließ sie weiterschlafen, wenn man zu tun hatte.

Du erinnerst dich bestimmt an die Lichtung mit der Platane im Wald, gleich hinter unserem Haus. Als du größer wurdest, du wirst dich auch noch daran erinnern, folgtest du mir eines Nachts in den Wald, wo du mein Geheimnis entdeckt hast.

Nun sollst du ein wenig über meine Zeit vorher erfahren. Meine erste Verwandlung stürzte mich in tiefste Verwirrung. Auf der Lichtung wartete jedoch ein Clanmitglied, um mich einzuweisen. Den Grund, warum wir uns verwandeln, oder unsere genaue Herkunft konnte er mir aber auch nicht erklären. Doch erzählte er mir vom feindlichen Clan.

Mein Lehrer erklärte, er sei noch keinem Feind begegnet und er wisse nicht, ob dieser Clan wirklich so gefährlich sei, wie die anderen behaupteten. In unserer Gegend gab es niemanden, der jemals auf einen Feind getroffen war.

Nach einigen Vollmonden kam mein Lehrmeister nicht wieder, aber abwechselnd erschienen andere Mitglieder. Mal waren wir zu dritt, mal nur zu zweit. Wir übten uns in kleinen Kämpfen, rannten um die Wette oder prüften, wer am schnellsten die Platane erklimmen konnte.

Eines Tages tauchte Anthony auf. Zu dieser Zeit warst du fünf Jahre alt. Er wurde mir Geselle und Freund.

Bevor Anthony sich mein Vertrauen erschlich, lebten wir alle problemlos zusammen, doch häuften sich bald die Unfälle. Immer traf es den Ehemann oder die Ehefrau, und manchmal starben sogar die Kinder von Clanmitgliedern auf unerklärliche Weise. Nach Anthonys Tod hörten die Vorfälle auf, doch war auch klar, dass sein Tod nicht das Ende bedeutete. Anthony war der Beweis für die Existenz des feindlichen Clans. Solange ich mich aber von euch fernhalte, seid ihr in Sicherheit. Leandra, wir werden uns wiedersehen, ich verspreche es dir.

In Liebe, deine Mutter.

 

Naomi ließ den Brief sinken. Romina war aus den gleichen Gründen gegangen, wie sie selbst. Um die zu schützen, die sie liebte. Ihre Großmutter starrte auf ihre Hände. Ihre Finger zupften an der Bettdecke.

»Nur, wann wird das sein?«, fragte Leandra.

Das war der Zeitpunkt, an dem Naomi das Treffen mit Romina nicht länger für sich behalten konnte. »Bald, Oma, sehr bald.«

»Was meinst du?« Leandra sah sie eindringlich an. »Raus mit der Sprache!«

»Nächsten Vollmond. Ich habe dir doch erzählt, dass ich im Wald Hilfe hatte. Romina, deine Mutter, sie hat Thursfield vertrieben.« Naomi nagte an ihrem Fingernagel und sah mit nach unten gezogenen Mundwinkeln zu ihrer Großmutter.

»Du hast sie gesehen? Wie geht es ihr? Warum ist sie nicht mitgekommen?« Leandra schoss die Fragen ab, ohne Luft zu holen. »Was hat sie gesagt?«

»Oma. Ich weiß es nicht.« Sie zuckte hilflos mit den Schultern. »Sie hat mir nur aus der Klemme geholfen und ist dann im Wald verschwunden, bevor ich sie etwas fragen konnte. Ich bin ihr zwar nachgelaufen, aber ...«

»Du hast sie nicht eingeholt.« Leandra stand auf und ging im Zimmer auf und ab. »Du hast eine alte Frau nicht eingeholt?« Sie schüttelte unwillig den Kopf. »In den Wald lass ich dich nicht mehr. Wie auch? Eine alte Frau muss dir helfen, dich gegen einen alten Mann zur Wehr zu setzen, und ihr nachzulaufen schaffst du auch nicht? Ich hatte angenommen, du hast besondere Kräfte. Du bist doch jung und stark.«

»Oma, ich bin kein Werwolf oder so was, okay? Ich kann auch nicht hexen und auf einem Besen hinter jemandem herreiten! Besondere Kräfte? Woher soll ich die denn haben? Wie soll ich gegen erfahrene Katzenmenschen eine Chance haben, hä? Die waren beide doppelt so groß, wie ich. Romina sogar noch größer. Was denkst du eigentlich? Dass ich es nicht versucht habe? Dass es mir egal ist, ob du deine Mutter wiedersiehst?« Naomi stand auf, bedachte ihre Großmutter mit einem eisigen Blick, stapfte ins Badezimmer und warf die Tür hinter sich ins Schloss.

Sie hatte es versucht. Aufrichtig versucht, und jetzt bezeichnete sie ihre eigene Großmutter als Schwächling. Auf dem Badewannenrand sackte sie zusammen. Mit gesenktem Kopf blieb sie sitzen und begann zu weinen. Ja, sie hatte beim Kampf gegen den Anwalt keine gute Figur abgegeben, und ja, sie hätte es nicht ohne Rominas Hilfe geschafft, aus dieser Situation heraus zu kommen. Aber bisher war Kai der einzige Lehrer gewesen, der ihr wirklich etwas beigebracht hatte, was von Nutzen war. Woher sollte sie wissen, wie man kämpft? Woher?

An der Tür klopfte es zaghaft. »Naomi?«

Ein Heulkrampf schüttelte sie. Ihr Körper schmerzte, sie war müde, und die an den Kopf geworfenen Vorwürfe verschlimmerten ihre ohnehin niedergeschlagene Stimmung.

»Es tut mir leid. Darf ich reinkommen?«

»Hmm ...«, brummte sie. Die Tür ging auf und ihre Großmutter steckte den Kopf herein. »Ich wollte dich nicht ... Es ist nur ... ich mache mir schreckliche Sorgen und dann ... dann erzählst du einfach so, du hättest meine Mutter gesehen.« Sie trat durch die Tür und ging vor ihr in die Knie. Zärtlich strich sie Naomi die Haare zurück, die sich aus ihrem Zopf gelöst hatten.

Naomi schniefte laut. »Ich wollte Romina ja herbringen. Aber sie lief so schnell davon.«

»Ist ja gut. Ist ja alles gut.« Leandra griff nach der Rolle Toilettenpapier, riss einen Streifen ab und reichte ihn Naomi. »Sollen wir den nächsten Brief lesen?«

Naomi schnäuzte sich und nickte. »Aber erst wasche ich mir das Gesicht.«

Leandra hielt den Umschlag schon in Händen, als Naomi wieder ins Schlafzimmer kam. »Was hat meine Mutter zu dir gesagt?«

»Sie sagte nur, sie hätte noch einiges zu regeln, und du würdest es verstehen. Das war alles.« Sie zog das Haargummi heraus, strich sich die losen Strähnen nach hinten und zwirbelte ihr Haar wieder zusammen. »Und, wir sollen die Briefe lesen und anschließend verbrennen.«

Leandra nickte. »Weißt du, schon lange dachte ich, dass die Unfälle überhaupt keine waren. Erst mein Mann, dann dein Vater und immer dieses merkwürdige Gefühl, das mich nicht losließ, bis wir umzogen. Es war, als könnte ich die Gefahr spüren.«

»Vermutlich tust du das auch. Immerhin warst du auch überzeugt davon, dass ich mich verwandeln werde.« Naomi sah sich im Zimmer um. »Haben wir eigentlich was zu trinken hier?«

Leandra ließ den Brief sinken, stand auf und ging ins Badezimmer. »Dort in der Tasche. Die neben dem Bett. Gestern Abend habe ich noch Wasser und Saft gekauft. Allerdings musst du einen Zahnputzbecher benutzen, da keine Gläser da sind.«

Nachdem sie schweigend getrunken hatten, griff Naomi nach dem Umschlag, überprüfte, ob es der richtige mit der Nummer zwei war, und öffnete ihn.

 

Meine liebste Leandra, inzwischen sind drei weitere Jahre vergangen. Auf der Suche nach unseren Artgenossen reiste ich durch ganz England. Die Reise für eine alleinstehende Frau ist gefährlich und die Suche alles andere als leicht. Manchmal erkenne ich einen Artgenossen in Menschengestalt, doch das ist die Ausnahme, und  jedes Mal hoffe ich, an den Vollmonden auf andere zu stoßen. Mein Adressbuch wird dicker. Mein Versuch, die Artgenossen zu vereinen, stößt nicht nur auf Zustimmung, weil viele noch nie etwas von irgendwelchen Feinden gehört haben. Trotzdem scheint mir die Einigung unserer Clans die einzige Lösung zu sein, um irgendwann in Frieden leben zu können.

Naomi schaute auf. »Genau das habe ich auch zu Kai gesagt. Dass es einen Weg geben muss, den feindlichen Clan zu bekämpfen, bis keiner mehr davon übrig ist. Vielleicht gibt es ja sogar eine Möglichkeit, die Verwandlung zu stoppen. Man müsste herausfinden, seit wann wir existieren und ...«

»Lies weiter, Kind«, unterbrach sie Leandra. »Vielleicht hat meine Mutter ja schon etwas herausgefunden.«

Naomi nahm den Brief wieder auf und suchte die Stelle, wo sie zu lesen aufgehört hatte.

 

In drei Jahren stieß ich auf zweiundzwanzig weitere. Darunter war meines Wissens kein Feind. Diejenigen, die ich getroffen habe, wollten nichts davon hören, weil sie befürchten, ich könnte ihr Leben noch mehr durcheinanderbringen. Trotzdem notierte ich ihren Namen und ihren Wohnort. Ich gab ihnen zusätzlich eine Anschrift in London, wohin sie sich wenden konnten, falls sie einmal Hilfe benötigten.

Als ich in London war um nachzusehen, ob mir jemand geschrieben hatte, was nicht der Fall war, traf ich bei Vollmond auf George. Er erzählte mir, wie er auf einer Handelsreise nach Spanien seine Frau kennengelernt hatte. Abwechselnd lebten sie in England und Spanien; je nachdem, wo George gerade geschäftlich tätig war. Aufgrund seiner Handelsreisen konnte er problemlos seine Verwandlung vor seiner Frau Carolina verbergen.

Auch er wusste nichts von einem feindlichen Clan, bis seine Frau 1950 plötzlich starb. In seiner Abwesenheit hatte sich seine Frau mit einer jungen Dame namens Alba angefreundet. In ihrem Tagebuch hatte Carolina niedergeschrieben, wie gut sie sich mit Alba verstünde, und wie froh sie sei, während Georges Geschäftsreisen eine liebe Person an ihrer Seite zu haben. Allerdings stand dort auch, dass sie sich nach Albas Besuchen unwohl fühle. Einen Zusammenhang zwischen den Treffen und ihrem Unwohlsein sah sie nicht. Als Carolina ernsthaft erkrankte, bestand Alba darauf, sich um sie und ihren Sohn Alonso zu kümmern. Das war Carolinas Todesurteil. Alba war dabei, sie zu vergiften.

Carolina wurde zuletzt doch noch misstrauisch und vertraute ihren Verdacht, Alba könnte irgendetwas mit ihrer Krankheit zu tun haben, auf ihrem Sterbebett George an. Er glaubte ihr nicht. Welchen Grund sollte diese Frau haben? Doch als er Alba zum ersten Mal traf, erkannte er in ihr den Katzenmenschen. Er erschlug sie in seiner Trauer und vertuschte den Mord, indem er ihren Körper in den Manzanaras warf. Der Fluss trug die Leiche stadtauswärts. Keiner fragte nach ihr, keiner suchte sie, keiner kannte sie, wenn er bei den Treffen in den Hügeln von Barcelona nach ihr fragte. Es schien, als sei sie nur aufgetaucht, um ihm zu schaden und ihm die Frau zu nehmen.

Seither sammelt er Informationen, wie ich. Nur, dass er gezielt nach unseren Feinden sucht. Georges Sohn Alonso ist nun sechzehn und es ist noch ungewiss, ob er sich verwandeln wird oder nicht. Der Handel hat George reich gemacht. Da er niemanden hat, dem er sein Geheimnis anvertrauen kann, und ich ebenfalls alleine auf der Suche nach unseren Artgenossen bin, versuchen wir nun, diesen Weg gemeinsam zu gehen.

Wir planen ein Treffen der Artgenossen. Es soll in einem Jahr in London stattfinden. Bis dahin sollte es uns möglich sein, alle zu informieren. Ich bin gespannt, wie viele kommen werden. Allzu große Hoffnungen mache ich mir jedoch nicht. Die Reise ist für viele zu weit und zu kostspielig. In der heutigen Zeit hat kaum jemand einen Cent übrig. Trotzdem. Es ist ein Anfang.

In Liebe, deine Mutter.

 

»Zweiundzwanzig Mitglieder alleine in England. Schon damals!«, rief Naomi. » Wie viele gibt es insgesamt? Was denkst du, Oma?«

Leandra zuckte mit den Schultern.

»Und, was fast noch wichtiger ist, wie viele vom feindlichen Clan hat George ausfindig machen können?«