Acht

 

Naomi fand die Nacht über keinen Schlaf. Letztlich hielt sie es in ihrem Studio nicht mehr aus. Sie brauchte dringend frische Luft, um den Kopf frei zu bekommen. Roman ging ihr nicht aus dem Sinn. Der Abend hätte so schön sein können, wenn der Abschied nicht so kühl ausgefallen wäre. Wie sie es auch drehte und wendete, sie fand keine befriedigende Erklärung. Vielleicht waren die Amerikaner nicht so offen, wie die Europäer. Vielleicht hatte Roman nicht zudringlich oder stürmisch wirken wollen. Vielleicht hatte er aber einfach eine Freundin und war nur nett gewesen. Dann hätte er das mit einem Wort erwähnt, beruhigte sie sich. Er hatte mit ihr geflirtet. Dessen war sie sich sicher. Hätte er das trotz einer Freundin getan? Möglich. Was wusste sie schon von ihm?

Naomi beschleunigte das Tempo und lief am Flussufer entlang. Sie überlegte kurz, ob sie ein Stück durch den Wald laufen sollte, entschied sich wegen des Nebels dagegen. Die Sonne brach durch die Wolken. Trotzdem würde es noch Stunden dauern, bis sich die dichten Nebelschwaden auflösten. Sie war in einen leichten Dauerlauf gefallen, den sie nach zehn Minuten abbrechen musste. Ihr Bein antwortete auf die Belastung zwar nicht mehr mit einem stechenden Schmerz, aber das dumpfe Pochen mahnte sie zur Vorsicht. Mit zügigen Schritten ging sie auf die Stillwater-Brücke zu. Unvermittelt blieb sie stehen. Hier hatte sie gestern Abend Roman getroffen. Naomi seufzte. Roman. Nun saß er wieder in ihren Gedanken fest. So einfach ließ er sich daraus nicht verdrängen. Eventuell half eine ausgiebige Dusche und eine heiße Tasse Kaffee.

 

Naomi schaltete den Haarfön ab. Ein wütendes Klopfen ließ sie aufhorchen. Sie ging zur Tür. »Wer zum Teufel ... ach, du bist es. Du weckst das ganze Haus auf.«

Alice schob sich durch die Tür. »Bei deinem Monsterfön sind sowieso längst alle wach!« Sie hielt Naomi einen Becher Kaffee unter die Nase. »Hier, zum Munterwerden.«

»Danke. Ich bin gleich soweit.« Naomi zog eine Jeans aus dem Schrank, schlüpfte hinein. Den Bademantel warf sie achtlos über den Sessel am Schreibtisch. »Los, erzähl schon. Wie war es im Kino?«

Alice rührte in ihrem Becher. »Ich weiß nicht so recht. Sammy meinte, du seist während des Essens so schweigsam gewesen, und er fragte mich, ob alles okay mit dir sei. Das war eigentlich das einzige Gesprächsthema. Der Film fing an, und das war es auch schon.«

Naomi zog sich ihre Turnschuhe an und sah auf. »Das hört sich aber gar nicht nach Sam an.«

»War aber so. Immerhin hat er mich noch nach Hause gefahren und gewartet, bis ich drin war. Er stand sogar noch eine ganze Weile vor dem Haus.« Alice schlürfte an ihrem Kaffee.

Naomi zwinkerte Alice zu. »Also, wenn er sich vor dem Haus herumgedrückt hat, wollte er wissen, in welchem Zimmer du wohnst. Hast du Licht gemacht?«

»Bist du verrückt? Damit er sieht, wie ich nachsehe, ob er noch da ist!« Alice nagte an ihrem Strohhalm. »Hm, glaubst du wirklich, er stand deswegen noch auf der Straße?«

»Was könnte er sonst für einen Grund gehabt haben?« Naomi schnappte den Kaffee und ihre Tasche. »Wir müssen los.«

Alice schlurfte nachdenklich hinter ihr her.

Naomi drehte sich um und sah Alices gerunzelte Stirn. »Lass die Grübelei. Das gibt hässliche Falten!« Naomi grinste. »Übrigens wollte ich dich gestern noch anrufen.«

»Warum hast du nicht?« Neugier stand in Alices Augen.

Sie überquerten den Platz, an dem Naomi mit Roman zusammengestoßen war. Instinktiv suchte Naomi nach ihm. »Es war schon etwas spät.«

Alice runzelte erneut die Stirn. »Du musst doch lange vor mir im Wohnheim gewesen sein. Bist du gar nicht nach Hause gegangen?«

Naomi presste die Lippen fest aufeinander, bevor sie gemächlich den Kopf schüttelte. »Nein. Ich habe auf der Brücke Roman getroffen. Wir waren am Pushaw Lake.«

»Und?«, bohrte Alice nach.

Naomi überkam wieder dieses Kribbeln im Magen, während sie ihrer Freundin alles erzählte. »Was denkst du?«

Alice pfiff durch die Zähne. »Worüber beklagst du dich überhaupt? Über das romantische Restaurant am See? Er kann doch nicht wissen, dass du ihn cool findest. Außerdem ist er Prof.«

Auf dem Weg zum Vorlesungssaal schielte Naomi in jeden Gang des verwinkelten Gebäudes. Von Roman keine Spur. Sie seufzte leise. »Schade. Ich hatte gehofft, ihn hier zu treffen.«

Alice lachte. »Der läuft dir schon wieder über den Weg.«

 

Roman lief ihr nicht über den Weg. Weder bei den Vorlesungen noch auf dem Sportgelände. Dafür traf sie auf dem Sportgelände auf ihren Kampfsportgegner. Unsicher und mit betretenem Gesichtsausdruck kam er auf sie zu. »Naomi? Richtig? Der Trainer hat mir deinen Namen verraten.« Er sah auf ihre Nase und legte die Stirn in Falten. »Der Trainer meinte, sie kommt wieder in Ordnung. Es tut mir echt Leid, dass ich so überreagiert habe.«

Naomi zuckte mit den Schultern. »Ich hatte angefangen. Mein erster Treffer war zu hart. Es ist nicht deine Schuld.«

»Doch, ist es. Zumindest den zweiten Schlag hätte ich nicht ausführen dürfen. Aber ich war einfach so durch den Wind wegen meiner Freundin, dass ich überhaupt nicht nachgedacht habe. Meinen Ärger hast du abbekommen.« Er sah betreten auf den Boden. »Kein Grund, um stolz darauf zu sein.«

»Was war denn mit deiner Freundin? Ich habe schon beim Basketball bemerkt, dass du nicht bei der Sache warst. Sonst hätte ich nicht gewonnen.« Naomi erinnerte sich daran, wie er immer wieder auf die Tribüne gesehen hatte.

»Sie hat mit mir Schluss gemacht. Aber erst nach der Prüfung. Nachdem sie mitbekam, wie ich auf dich eingedroschen habe, war´s das. Davor hatten wir einen ziemlich heftigen Streit. Leider nicht der erste. Aber sie trifft sich schon länger mit einem anderen Typen. Heimlich. Da bin ich mir sicher. Der Typ war auch beim Basketballspiel da. Und ausgerechnet in dem Moment, als ich gegen dich im Kampfsport dran war, tauchte er wieder auf. Da habe ich die Nerven verloren.« Er steckte seine Hände tief in die Hosentaschen und trat von einem Bein auf das andere. »Geht´s denn wieder? Deine Nase sieht noch ziemlich geschwollen aus.«

»Ich musste schon öfter was einstecken. Mach dir mal keine Sorgen. So etwas kann vorkommen.« Naomi grinste schief. »Durch deine Strafpunkte habe ich immerhin gewonnen und die Prüfungen bestanden. Wer weiß, wie es sonst ausgegangen wäre.«

»Dann bist du nicht sauer auf mich?« Er atmete erleichtert aus. »Ich bin übrigens Dave.«

Naomi schüttelte verneinend den Kopf und reichte ihm die Hand. »Naomi. Aber, das weißt du ja schon. Hattest du wegen des Fouls noch Ärger?«

»Der Trainer hat mir die Hölle heiß gemacht. Aber, er hatte ja Recht. So etwas hätte mir nicht passieren dürfen. Hast du Lust auf eine Tasse Kaffee?«

Naomi verneinte, verabschiedete sich und schob eine Vorlesung als Ausrede vor. Ihr war nicht nach Gesellschaft. Sie war niedergeschlagen, weil sie Roman nirgendwo sah. Roman war wie vom Erdboden verschwunden. Er kam auch nicht bei ihrem Apartment vorbei oder hinterließ eine Nachricht.

 

Naomi wurde zunehmend übellaunig. Ihre Nasenklammer war endlich weg, die Blutergüsse nur noch zartgelb, das Bein in Ordnung, und trotzdem fühlte sie sich antriebslos. Sie lümmelte auf ihrem Bett und starrte auf ein aufgeschlagenes Fachbuch über amerikanische Sportgeschichte, als es an der Tür klopfte.

»Los, nun mach schon auf. Ich weiß, dass du da bist!« Alice hämmerte mit der Faust dagegen.

Naomi öffnete die Tür und ließ sich anschließend wieder auf ihr Bett fallen.

»Los. Du kommst jetzt mit!« Alice baute sich vor ihr auf, die Hände angriffslustig in die Hüften gestemmt.

Naomi stopfte sich ein Kopfkissen unter den Kopf. »Ich habe keine Lust.«

»Seit wann hast du keine Lust auf Essen?« Alice zog ihr das Kopfkissen weg und warf es auf den Sessel beim Schreibtisch. »Glaubst du wirklich, Roman kommt hier einfach reingeschneit?« Alice räumte Kaffeetassen, zerknüllte Papierseiten und leere Tetrapacks weg. »Selbst wenn, dann findet er hier nur eine launische Naomi, die im Müll und Dreck erstickt!«

»Hier ist es gar nicht dreckig«, maulte sie zurück. »Es liegen nur ein paar Sachen herum.«

»Ja, sicher. Deswegen stinkt es hier nach saurer Milch.« Alice schüttete mit angewidertem Gesichtsausdruck den Inhalt der Milchpackung in den Ausguss. »Und du? Du siehst aus, als hättest du dich noch nicht mal gekämmt!«

»Ja und?« Naomis Augen glitzerten gefährlich. »Das kann dir doch egal sein.«

»Ist es aber nicht.« Alice starrte auf sie hinunter. »Du musst mich gar nicht so anfunkeln. Los jetzt.«

»Ich funkel gar nicht.« Naomis Augen verengten sich, was sie noch ärgerlicher aussehen ließ.

»Auf dem Campus schaust du wie ein Spion in jede Ecke, um ja nicht zufällig Roman zu verpassen. Morgens bist du noch gut drauf, aber mit jeder Stunde verfinstert sich deine Miene. Wie kann ein Mensch nur so launisch sein? Los jetzt.«

Naomi zupfte an der Bettdecke. »Ich bin gar nicht launisch.« Sie stemmte sich hoch. Vielleicht hatte Alice ja Recht, und sie musste hier raus.

»Ach ne?« Alice ging auf den Sessel zu.

Um Naomis Mund zeigte sich ein amüsierter Zug. »Nein. Ich bin nur emotional vielseitig.«

Alice schnappte nach dem Kopfkissen und warf es nach Naomi.

Naomi grinste. »Ist ja gut. Du hast gewonnen.«

 

Alice weigerte sich, schon wieder in die Pizzeria zu gehen. »Du willst doch nur sehen, ob zufällig Roman dort ist.«

»Stimmt überhaupt nicht«, maulte Naomi, obwohl es genau das war, was sie wollte. Alice gab sich solche Mühe sie aufzumuntern, dass sie zustimmte im »México Lindo« essen zu gehen. Das mexikanische Restaurant war bis auf den letzten Platz reserviert. »Also doch zum Italiener«, meinte Naomi, und ihr Herz machte einen kleinen Sprung. So konnte sie doch noch nachsehen, ob Roman dort wäre.

»Pech gehabt. Ich habe reserviert.« Alice reckte triumphierend das Kinn in die Luft. Der Kellner führte sie zu einem der reservierten Tische und brachte die Karte.

»Ich nehme Burritos.« Alice klappte die Karte zu. »Hast du übrigens schon gehört, was in Orono erzählt wird?«

Naomi studierte weiter die Speisen. Sie schüttelte den Kopf.

»Einem Freund von meinem Freund ist etwas Unheimliches passiert. Jeder spricht davon. Ich dachte mir schon, dass du nichts mitbekommen hast.« Alice schnappte nach Naomis Karte. »Nimm die Burritos. Die sind Weltklasse hier!«

Naomi rollte die Augen. »Darf ich denn heute gar nichts entscheiden?«

»Nein. Und jetzt hör mir zu.« Alice legte sich die Serviette auf den Schoß. »Also, der Typ, ich glaube er heißt Walter, will über die Stillwater-Brücke in die Stadt. Da sein Auto nicht anspringt und er eine Verabredung hat – eine wichtige wohlgemerkt – läuft er zu Fuß los. Walter regt sich immer noch wegen seiner Karre auf und bleibt auf der Brücke stehen, um sich eine Fluppe anzuzünden. Er sieht auf den Fluss hinaus, erkennt aber wegen des Nebels nicht viel. Also will er sich weiter auf den Weg in die Stadt machen. Walter dreht sich um ...« Alice machte mit aufgerissenen Augen eine dramatische Pause. »Und, was sieht er? Am anderen Ende der Brücke steht jemand und starrt ihn die ganze Zeit an. Der Kerl starrt nur, bis Walter es so unheimlich wird, dass er sich beinahe in die Hosen macht. Als die Gestalt noch einen Schritt auf ihn zumacht, erkennt Walter, dass der Typ einen Gegenstand in der Hand hält. Und, was macht Walter?«

Der Kellner unterbrach die Erzählung, um die Bestellung aufzunehmen.

Naomi zuckte ratlos mit den Schultern. »Und, was macht er?«

»Er dreht sich auf dem Absatz herum und rennt, als sei der Teufel persönlich hinter ihm her.« Alice rutschte aufgeregt auf ihrem Stuhl hin und her. »Walter ist nicht der Einzige, der den Kerl auf der Brücke gesehen hat. Was sagst du dazu? Wir haben einen Irren in der Stadt, der an der Brücke harmlosen Studenten auflauert.«

Naomi gluckste leise. »Oder einen absoluten Loser namens Walter, der wegen nichts und wieder nichts die Hosen voll hat und die Beine in die Hand nimmt.«

»Aber, das ist doch unheimlich, oder nicht?« Alice rückte das Besteck zur Seite.

»Ach was, an der Brücke stehen doch immer irgendwelche Leute rum. Erst kürzlich habe ich dort auch jemanden gesehen.« Es stimmte. Eine unheimliche Wirkung war von dieser Person ausgegangen. Angst musste man vor einem herumstehenden Fremden eigentlich nicht haben. Trotzdem kannte sie dieses bedrohliche Gefühl.

Das servierte Essen nahm Naomi weitere Erklärungen ab. Unheimlich vielleicht, dachte sie, aber mehr wegen des Nebels, als wegen der herumstehenden Person. Dieser Walter, wenn es ihn überhaupt geben sollte und er nicht nur ins Reich der Legenden gehörte, war jedenfalls ein Feigling.

»Und, magst du den Burrito?« Alice schob sich genüsslich eine volle Gabel in den Mund.

Naomi nickte zustimmend.

»Sammy hat mich für morgen Abend zum Essen eingeladen. Was sagst du nun?« Alice strahlte über das ganze Gesicht.

»So. Hat er das?« Sie warf ihrer Freundin einen amüsierten Blick zu. »Er mag dich also doch.«

Alice legte den Kopf schräg. »Oder er will wissen, wie es dir geht, nachdem du ihn die ganze Woche abgeblockt hast. Wir haben deinetwegen öfter telefoniert. Ich habe ihm erzählt, dass ich dich heute notfalls an den Haaren zum Essen hierher schleife.«

Sammy hatte tatsächlich einige Male versucht, sie zu treffen, aber jedes Mal hatte sie kurzfristig abgesagt. »Und als das Wort Essen fiel, hat er dich eingeladen, weil niemand anders parat stand? Das glaubst du doch selbst nicht!« Sie legte das Besteck zur Seite. Die letzten Tage hatte sie einfach keinen Appetit. »Das Essen hier ist wirklich gut. Wir sollten das wiederholen, wenn ich richtigen Hunger habe.«

Naomi folgte Alices Blick, die starr in eine schwach beleuchtete Ecke des Restaurants sah. An einem kleinen Tisch saß Roman. In Begleitung. Naomis Magen verkrampfte sich. Sie spürte förmlich, wie sie eine eisige Kälte überzog. Unwillkürlich durchlief sie ein Schauer. Roman saß dort mit einer anderen Frau. Am liebsten wäre sie hinausgelaufen, doch das wäre zu auffällig gewesen. Sie riss sich zusammen. Damals hatte sie kein Date mit ihm gehabt. Sie hatten sich nur rein zufällig getroffen. Kein Grund, jetzt auszuflippen. Naomi wandte den Blick ab. Alice legte ihre Hand tröstend auf die ihre.

»Naomi. Bist du in Ordnung?« Alice machte ein Zeichen in Richtung des Kellners und bestellte die Rechnung.

»Er hat also eine Freundin. Ich hätte es wissen müssen. Er ging mir aus dem Weg. Gemeldet hat er sich auch nicht.« Naomis Gesicht war zu einer starren Maske geworden. Sie war beinahe durchsichtig geworden, was die gelben Schatten unter ihren Augen noch betonte. Sie wollte nur noch weg.

Alice beglich die Rechnung. Sie standen auf. Alice ging voran, um Naomi vor Romans zufälligem Blick zu schützen. Naomi konnte nicht anders, als in seine Richtung zu sehen. In diesem Moment sah er auf. Ihre Blicke trafen sich. Romans Blick spiegelte freudige Überraschung wider, Naomis Augen funkelten angriffslustig. Sie hielt den Blick auf ihn gerichtet, bis sie den Ausgang erreichten, erst dann wandte sie sich ab.

»Warum sind wir nicht einfach zum Italiener?«, jaulte Naomi vor dem Lokal. »Dort wäre mir dieser Anblick erspart geblieben. Besser noch, ich wäre einfach im Bett geblieben.«

»Es tut mir so Leid.« Alice nahm Naomi in die Arme. »Komm. Ich fahr dich nach Hause.«

Naomi starrte während der Fahrt auf ihre Fingernägel. Heftige Magenkrämpfe machten ihr zu schaffen. Sie zog die Beine an und wiegte sich auf dem Sitz leicht hin und her. Alice parkte den Wagen vor dem Wohnheim. »Hey, du hast etwas Besseres verdient. Vergiss ihn.«

Naomi biss sich auf die Unterlippe. Wie sollte sie ihn einfach vergessen? Das war unmöglich.

Alice öffnete ihr die Wagentür. »Soll ich noch mitkommen?«

Naomi schüttelte den Kopf, schob sich an Alice vorbei und stapfte davon.

Naomi hörte den Anrufbeantworter ab. Ihre Großmutter hatte angerufen. Wie auch schon die Tage zuvor. Oma musste spüren, dass es ihr nicht gut ging. Sonst würde sie nicht täglich anrufen. Bei jedem Gespräch bemühte sich Naomi um einen fröhlichen Plauderton, erzählte, wie toll die Uni war und von ihren Freunden Alice und Sammy. Roman erwähnte sie nicht. Jetzt wusste sie auch warum. Ihr Unterbewusstsein hatte sie gewarnt, was ihr jetzt erst klar wurde. Er war nicht an ihr interessiert. Naomi zog den Stecker aus der Anschlussdose. Zum Telefonieren fehlte ihr heute die Kraft. Um die Stille zu vertreiben, schaltete sie das Radio ein. Der Sender brachte eine Ballade. Wütend drückte sie den Ausschaltknopf. Ihr MP3-Player steckte in ihrer Sporttasche. Was sie brauchte war Rockmusik; am besten laut. Zwei Minuten später dröhnte aus den Kopfhörern AC/DC. Naomi nickte im harten Rhythmus und lenkte sich ab, indem sie ihr Zimmer aufräumte. Nach einer Stunde fand sie nichts mehr, was noch schmutzig war oder sie nicht zehnfach hin- und hergerückt hatte. Zeit, sich ins Bett zu verkriechen; mit einer Tasse heißer Schokolade und einer Packung Taschentücher. Der Gang zum Kühlschrank war umsonst. Ihr fiel ein, dass Alice die Milch weggeschüttet hatte, weil sie sauer geworden war. Auch sonst fand sich nichts Essbares mehr darin. Eine trostlose Leere starrte ihr entgegen. Naomi schnaubte. Wie passend, dachte sie. Der Kühlschrank ist leer und kalt, genau wie ich.

 

*

 

Roman war Naomi nachgelaufen. Doch vor dem Lokal war sie nirgendwo mehr zu sehen gewesen. Danach kehrte er ins Restaurant zurück, um den Abend irgendwie hinter sich zu bringen. Die ganze Woche hatte er mit sich gerungen. Er wollte sie sehen, doch er konnte nicht über seinen Schatten springen. Selbst wenn Naomi sich in ihn verliebte, so wäre es doch nur eine Liebe auf Zeit. Eine Beziehung auf Distanz kam für ihn nicht in Frage. Nicht mehr.

Es hatte ihn wie ein Keulenschlag getroffen, als Naomi an ihm wie an einem Fremden vorbeigegangen war. Erst in diesem Moment war ihm klar geworden, dass es für einen Rückzug längst zu spät war. Nun stand er vor Naomis Wohnheim. Auf sein Klingeln rührte sich niemand, obwohl er Licht in ihrem Zimmer sah. Trotzdem wollte er nicht aufgeben. Noch nicht. Seit dreißig Minuten ging er vor ihrem Fenster auf und ab. Alle zehn Minuten drückte er auf die Klingel, in der Hoffnung, Naomi würde doch noch öffnen. Roman blickte immer wieder nach oben. Als das Licht in ihrem Fenster ausging, fasste er den Entschluss, es noch ein letztes Mal zu versuchen.

 

*

 

Naomi rollte sich auf der Matratze eng zusammen. Die Bettdecke zog sie sich mit einem Ruck über den Kopf. Sie wollte nichts mehr sehen oder hören, sich einfach nur verkriechen. Nicht denken; einfach nicht darüber nachdenken und einschlafen, mahnte sie sich, obwohl sie wusste, dass dies ebensowenig gelingen würde, wie mit Schäfchenzählen in einer schlaflosen Nacht.

»Verdammt noch mal«, fluchte sie. Diese verflixte Türglocke würde sie noch eines Tages kaputtschlagen. Jeden Abend klingelte jemand bei ihr, obwohl die Besucher zu jemand anderem im Wohnheim wollten. Wütend schlug sie die Bettdecke zurück. Sie riss das Fenster auf. »Zum Teufel! Kannst du nicht lesen, welcher Name auf der Glocke steht?«

Der Besucher trat ins Licht der Straßenlaterne. Roman sah nach oben. »Sorry. Ich wollte, ähm, Naomi?«

Naomi starrte in Romans Gesicht und schüttelte ungläubig den Kopf. »Du? Ich dachte ... Was machst du hier?«

Roman trat von einem Bein auf das andere. »Ich muss mit dir reden.«

Naomi strich sich die Haare aus dem Gesicht. Sie bemühte sich um einen klaren Gedanken. Roman stand vor ihrer Tür. Ein diffuses Kribbeln ergriff sie. Nach ihrem Treffen hatte sie jeden Abend auf diesen Moment gewartet. Und nun? Nun stand er vor ihrer Tür, und sie sah schrecklich aus. Die Haare ungekämmt, die Augen verquollen, das Gesicht ungeschminkt.

»Soll ich gehen?« Roman ging einige Schritte rückwärts.

»Gib mir fünf Minuten, ja? Ich muss mir nur schnell was anziehen.« Naomi schlug das Fenster zu, raste ins Badezimmer. Mit hektischen Bürstenstrichen bändigte sie ihr Haar. Mit einigen Spritzern kalten Wassers vertrieb sie die Blässe aus ihrem Gesicht, doch die verschwollenen Augen blieben. Nachdem sie sich ihre Leggins und ein frisches T-Shirt angezogen hatte, drückte sie auf den Türöffner. Mit pochendem Herzen blieb sie im Türrahmen stehen. Mit jedem Schritt, den Roman auf sie zukam, steigerte sich ihre Nervosität, bis er vor ihr stehen blieb. Naomi brachte es nicht fertig, Roman in die Augen zu sehen.

»Es ist spät, ich weiß. Du hast weder auf die Türglocke, noch auf das Telefon reagiert. Aber, ich muss dir einiges erklären. Heute noch.«

Naomi stand noch immer im Türrahmen. Sie trat einen Schritt beiseite und öffnete die Tür, um ihn durchzulassen. »Du bist mir keine Erklärung schuldig.«

Roman blieb in der Mitte des Studios stehen. »Ich finde schon.« Sein Blick fiel auf das ausgesteckte Telefonkabel, das vom Schreibtisch baumelte. Er nickte in Richtung des Kabels. »Du telefonierst wohl nicht gerne.«

Naomi schloss die Tür. Das Studio kam ihr plötzlich noch kleiner als gewöhnlich vor. Das aufgeschlagene Bett war die einzige Sitzgelegenheit, bis auf den Sessel am Schreibtisch. »Muss wohl herausgerutscht sein, als ich sauber gemacht habe.«

»Und die Türglocke?«, fasste Roman nach.

Naomi zuckte mit den Schultern. Sie wollte nicht über das Telefon oder die lästige Türglocke reden, sie wollte endlich wissen, warum er hier war. Roman schien Zeit zu schinden. Er sah sich um, obwohl es kaum etwas zu sehen gab. Nur das riesig wirkende Bett, welches das halbe Zimmer einnahm. Die andere Hälfte war mit Kleiderschrank und Schreibtisch zugestellt. Naomi drückte sich in die schmale Küchenzeile, um wenigstens ein bisschen Abstand zu Roman zu wahren. Roman schien die Enge nicht zu bemerken. Er deutete auf die Kaffeemaschine. »Könnte ich eine Tasse haben?«

Naomi nickte, froh, etwas tun zu können. Sie spürte Romans Blick in ihrem Rücken, während sie mit zitternden Fingern das Pulver in den Filter gab.

»Du wolltest mir etwas erklären«, hakte Naomi nach. Das Schweigen war ihr unangenehm.

Roman setzte sich auf die Bettkannte. »Ich weiß nur nicht, wo ich anfangen soll«, stotterte er.

Naomi setzte sich auf die Herdabdeckung, die ein dumpfes Ploppen von sich gab, als sich die metallene Abdeckhaube eindellte. Die Tassen standen in einem Regal rechts hinter ihr. Um nicht nur Roman anzustarren, holte sie zwei Tassen heraus und stellte sie neben sich ab. Roman kämpfte immer noch mit sich. »Nun sag schon, was ist los?«, forderte sie ihn auf.

Roman stand auf und pilgerte auf den wenigen freien Flächen auf und ab. »Es ist ...«, er atmete tief durch. »Es ist kompliziert. Der Abend mit dir am See war schön. Ich bin aber Dozent an der Uni, an der du studierst«, begann er.

Naomi forschte in seinem Gesicht, in welche Richtung das Gespräch gehen könnte, konnte jedoch nichts daraus ablesen. Er wirkte angespannt. Seine Augenbrauen waren eng zusammengezogen, und seine Stirn lag in tiefen Falten.

»Außerdem wirst du in einem halben Jahr wieder fort sein. Das macht die Situation noch schwieriger. Du kannst dir vorstellen, was es für ein Gerede geben wird, wenn wir zusammen gesehen werden, oder?«

»Und du denkst, es gibt kein Gerede, wenn du nachts in meine Studentenbude kommst?«, warf sie sarkastisch ein.

Romans Gesichtszüge verspannten sich noch mehr. »Wenn du es niemandem erzählst, wird es auch niemand wissen.«

Naomi schluckte trocken. Er war also nur gekommen, damit sie sich ruhig verhielt und keinen Ärger machte. Sie glitt vom Herd, drehte sich weg, um den Kaffee einzuschenken.

»Schwarz, ohne Zucker. Beides ist ausgegangen.«

Roman lächelte und nahm ihr die gereichte Tasse ab. »So, wie ich ihn mag. Danke.«

Naomi rang sich ein tapferes Lächeln ab. Er sollte nicht wissen, wie sehr sie seine Worte verletzten. Sie wusste selbst, dass sie irgendwann wieder gehen würde, doch musste das nicht das Ende einer Beziehung bedeuten. Nicht, wenn man sich liebte.

Roman trank einen Schluck Kaffee. Seine Hände umschlossen fest die Tasse, als ob er sich daran festhalten könnte. »Es ist meine erste Festanstellung an einer Uni. Und du bist Austauschstudentin.« Er sah sie forschend an.

Naomi erwiderte seinen Blick. Aus seinen braunen Augen sprach Zärtlichkeit, keine Ablehnung. Seine Worte passten nicht zur Wärme seiner Augen. Naomi konnte sich nicht mehr zurückhalten. »Und deswegen bist du mir aus dem Weg gegangen.«

Roman nickte.

»Und? Willst du mich einfach übersehen, wenn wir uns zufällig über den Weg laufen?« Ihre Worte waren nur noch ein Flüstern. Sie fürchtete sich vor der Antwort.

Roman atmete tief ein und aus. »Ich sagte dir doch schon, es ist unmöglich, dich zu übersehen.« Er sah ihr fest in die Augen. »Außerdem will ich dich sehen - und ich will dich kennen lernen. Das wurde mir heute Abend klar. Meine Schwester nannte mich einen feigen Trottel.«

Naomis Augen weiteten sich vor Überraschung. »Deine Schwester?«

»Da ich dir auf die Straße gefolgt war, wollte sie natürlich wissen, warum ich sie ohne eine Erklärung alleine im Restaurant habe sitzen lassen.« Roman grinste schief. »Also erzählte ich ihr von dir.«

Naomi empfand die Enge ihres Studios plötzlich nicht mehr als störend. Eine Leichtigkeit bemächtigte sich ihrer, wie damals am See. Roman war nicht mit einer anderen Frau verabredet gewesen. Er war ihr sogar auf die Straße gefolgt, hatte versucht, sie anzurufen und auf der Straße gewartet, bis sie auf sein Klingeln reagierte. Naomi ging auf Roman zu. Sie sahen sich in die Augen. Bevor Naomi etwas sagen konnte, nahm Roman sie in die Arme und küsste sie zärtlich. Es war ein perfekter Kuss, den Naomi niemals vergessen würde.