Herbst 1584

 

Dorothea wälzte sich im Bett hin und her. Der Streit ließ sie nicht los. Sie betrachtete ihren schlafenden Mann. Endlich lag er ganz friedlich da. Zwei Stunden zuvor hatte er geschrien und getobt. Warum musste Paul immer wieder damit anfangen? Sie war ihm zutiefst dankbar, dass er sie damals gerettet hatte, als sie vom Jägermeister Barthel im Wald niedergeschossen worden war.

Blutüberströmt war sie ins Unterholz gekrochen, um sich zu verstecken, bevor sie das Bewusstsein verlor. Als sie wieder zu sich kam, blickte sie in Pauls Gesicht. Er hatte sie mit nach Hause genommen, die Kugel entfernt, sie verbunden und in sein Bett gelegt.

Paul tupfte ihr den Schweiß von der Stirn. »Wer oder was bist du?«

Dorothea versuchte sich aufzusetzen. Ein brennender Schmerz fuhr ihr durch die Schulter. »Was meinst du?«, antwortete sie mit schmerzverzerrtem Gesicht.

»Ich habe ein Recht dazu. Du verdankst mir dein Leben.« Paul wusch den Lappen in einer Schüssel aus und legte das kühle Tuch auf ihre Stirn. »Du bist wunderschön, weißt du das? Aber, du bist kein Mensch. Sag, was bist du?«

»Ich bin eine Frau aus Fleisch und Blut«, erklärte sie.

»Gestern Nacht warst du das nicht. Da warst du eine Raubkatze, wie man sie nur auf Jahrmärkten sieht. Also, was bist du?« Paul wartete eine Minute. »Wenn ich dich verraten wollte, hätte ich es längst getan. Ob als Frau oder als Panther. Du bist unglaublich schön. Und - du bist gut. Ich kann es in deinen Augen sehen.«

Dorothea wusste, dass sie einen Fehler beging. Doch diesen Fehler würde sie, sobald sie wieder gesund wäre, beheben. So waren die Regeln. Um ihn zufrieden zu stellen, erzählte sie ihm von den sieben unterschiedlichen Clans, die vor vielen hundert Jahren aus sieben verfluchten Geschwistern entstanden waren; von ihrem Leben als Katzenmensch; den Treffen im Wald mit anderen Clanmitgliedern bei Vollmond; von ihren Eltern, und davon, dass die Menschen nichts von ihrer Existenz wissen durften. Selbst ihre eigene Mutter wusste nicht, dass ihr Mann und ihre Tochter Katzenmenschen waren. Dorothea erzählte vom Kuss des Vergessens, den die Katzenmenschen den Menschen gaben, die ihre wahre Identität erfuhren. Der Kuss löschte die Erinnerung an sie aus. Dadurch konnten die Menschen ihnen kein Leid zufügen. Die Menschen zerstörten, was sie nicht kannten. Und die Gattung homo felis kannten sie nicht. Dorothea verschwieg aber, dass sie die Erinnerung an sie auch bei Paul durch diesen besonderen Kuss auslöschen würde.

Die Tage vergingen. Paul kümmerte sich liebevoll um sie. Er gestand ihr bald seine Liebe und bat sie, bei ihm zu bleiben. Er würde bei ihren Eltern um ihre Hand anhalten, wenn sie ihn denn wollte. Dorothea hatte sich längst heftig in ihn verliebt. So beging sie den verhängnisvollen Regelbruch. Sie heiratete Paul, raubte ihm aber nicht die Erinnerung an jene Nacht.

Ohne Paul wäre sie längst tot. Das wusste sie. Erst vor einem Jahr war sie in eine Tierfalle des gehassten Jägermeisters Barthel geraten. Paul hatte sie daraus befreit, als sie am Morgen nicht nach Hause gekommen war. Zwei Mal wäre sie beinahe Barthels Opfer geworden. Barthel. Dieses verkommene Subjekt. Ständig stellte er ihr nach. Sein gieriger Blick verursachte ihr Übelkeit. Sein Neid und seine Missgunst auf Pauls Werkstatt machte ihnen ständig Ärger.

So war es auch zu diesem Streit gekommen. Paul hatte sich Sorgen um sie gemacht. Der Widerling Barthel war wieder herumgeschlichen. Paul wollte sie in den kommenden Vollmondnächten zu den Treffen im Wald begleiten. Dies war unmöglich. Denn nach den Clanregeln durfte er überhaupt nichts davon wissen.

Dorothea konnte ihrem Schicksal nicht entkommen. Wenn es ihr bestimmt war zu sterben, konnte sie es nicht ändern. Paul musste das endlich begreifen. Während des Streits hatte Paul gebrüllt. Wenn die verräterischen Worte nun jemand gehört hätte? Das durfte nicht mehr geschehen.

In dieser Nacht musste sie entscheiden, wie es weitergehen sollte. Wenn sie Paul den Kuss des Vergessens gab, musste sie ihn verlassen. So waren die Regeln. Dorothea strich Paul eine störrische Haarsträhne aus der Stirn. Sie liebte ihn. Sie konnte ihn noch nicht verlassen. Nicht in dieser Nacht. Doch ihr Entschluss stand fest. Vor dem nächsten Vollmond würde sie gehen, um ihn und den Clan zu schützen. Es musste sein.

 

*

 

Jägermeister Barthel streifte wie jede Nacht um das Haus von Dorothea. Ein Blick auf sie und alles Übel war vergessen. Paul. Wenn ihn nur der Teufel holen würde. Dieser Kerl hatte alles, was er begehrte. Ein solides Haus, ein eigenes Geschäft, eine unglaublich schöne Frau. Seine Sehnsucht nach Dorothea, gemischt mit dem Neid auf Pauls gut gehende Geschäfte als Büchsenmacher, war seit langem schon in grenzenlosen Hass umgeschlagen. Dieser Hass auf Paul stieg mit jedem Tag, an dem er Dorothea sehen, aber nicht besitzen konnte.

Der belauschte Streit zwischen dem Paar steckte Barthel noch in den Knochen. Zunächst hatte er sich gefreut, als er Paul schreien hörte. Mit einem zufriedenen Grinsen im Gesicht hatte er sich gegen die äußere Holzwand des Wohnzimmers gelehnt und gelauscht. Was er dort hörte, ließ ihm das Blut in den Adern gefrieren. Stocksteif blieb er stehen. Er wagte nicht einmal zu atmen. Dieses Weibsbild war eine Werkatze! Kein Wunder war er ihr dermaßen verfallen. Ein Dämon. Seine Gedanken rasten. Die komplette Familie musste verflucht sein. Alle im Dorf waren arm. Alle, bis auf die Familie dieser Teufelsbrut.

Barthel klammerte sich an seinem Gewehr fest. Die Fingerknöchel traten weiß hervor. Er musste sie töten. Sein Gesicht war zu einer hassverzerrten Fratze geworden. In seinen Augen spiegelte sich Angst und Entsetzen wider. Er musste hier verschwinden. Sofort. Bevor sie ihn entdeckten und am Ende noch verfluchten. Barthel schlich geräuschlos nach Hause und fasste einen erbarmungslosen Plan.

 

Die Dorfgemeinschaft hatte sich auf dem Marktplatz versammelt. Barthel stieg auf den Dorfbrunnen, um die Menge im Blick zu haben und selbst gesehen zu werden. Er machte ein Handzeichen und die Meute schwieg. Barthel ließ seiner Wut freien Lauf. Er erzählte, Dorothea sei beim letzten Vollmond nackt in den Wald gelaufen. Er habe auf die Jagd gehen wollen und sie zufällig beobachtet. Sie hätte samt ihrer Verwandtschaft satanische Rituale vollführt, bis sie sich alle in schwarze Teufel verwandelt hätten. Teufel mit fletschenden Zähnen, glänzendem Fell, mit dem einzigen Plan, das Dorf zu vernichten. Die Dorfbewohner rissen die Augen auf, einige Frauen fielen in Ohnmacht, andere hielten den Kindern die Ohren zu, um sie vor den schrecklichen Einzelheiten zu schützen.

Barthel rief, man müsse dieser Satansbrut Einhalt gebieten und sie töten. Die Männer nickten zustimmend. Die Dorfbewohner glaubten Barthel, der wie von Sinnen war. Er hatte in diesen harten Zeiten leichtes Spiel. Die Armut wuchs, und ein Schuldiger musste her. Barthel lieferte ihn. Er hetzte, Dorothea und ihr Gefolge würden nachts die Felder vergiften, stehlen und an den Türen der ganzen Nachbarschaft lauschen. Die Bewohner redeten wild durcheinander. Bald waren sich alle einig; diese Familie musste verschwinden, der teuflische Besitz dem Erdboden gleichgemacht werden. Selbst der Dorfpfarrer erklärte, es sei die einzige Möglichkeit, Gott wieder in dieses Dorf zu bringen. Er selbst würde die Trümmer der Häuser mit Weihwasser reinigen und beten, bis der letzte Dämon vertrieben sei.

Barthel nickte zufrieden. Er schickte die Frauen nach Hause. Sie sollten mit ihren Kindern beten, während die Männer die Dämonen mit Waffengewalt und Feuer bekämpfen wollten. Gott würde ihnen beistehen. Barthel plante, welche Gruppe bei welchem Familienmitglied einfallen sollte. Innerhalb einer halben Stunde brachen sie gemeinsam auf, um im Namen Gottes das Dorf zu säubern. Der Mob brannte Häuser, Scheunen, Werkstätten und Tierställe nieder. Die wenigen von Dorotheas Verwandten, die nicht in den Betten verbrannten, wurden von den Dorfbewohnern erschlagen, erschossen oder aufgeknüpft und anschließend verbrannt. Kein Stein blieb auf dem anderen.

Barthel selbst ging mit zwei Kumpanen zu Dorotheas und Pauls Haus. Das Vergnügen, die beiden zu vernichten, wollte er sich nicht entgehen lassen. Die beiden Helfer legten Feuer. Barthel hielt es nicht mehr aus. Er musste sie sehen. Sie durften nicht in ihren Betten sterben. Sie mussten durch seine Hand ums Leben kommen. Sonst fände er keine Ruhe. Er stürmte ins Haus, obwohl die Flammen schon um die Holzveranda züngelten und die Umgebung in bizarres Licht tauchten. Barthel trat die Tür ein, polterte durch das Wohnzimmer, bis er vor der Schlafzimmertür stehen blieb. Rauch zog durch die zersprungenen Fensterscheiben. Er musste sich beeilen. In dem Moment, als er das Schlafzimmer betreten wollte, öffnete Paul die Tür und starrte Barthel an. Barthel sah, wie Paul den Mund öffnete. Weiter kam er nicht; Barthel drückte ab. Die Kugel traf Paul in die Brust. Paul wurde durch die Wucht nach hinten gerissen. Er sank direkt vor Dorotheas Füße, die ebenfalls das Schlafzimmer verlassen wollte. Dorothea sah Barthel in die Augen. Ihr Blick durchbohrte ihn. Auf ihrem Gesicht sah er keine Angst, nur Verwunderung. Ihre Ruhe versetzte ihn in Panik. Er legte an, drückte ab. Er brachte es nicht über sich nachzusehen, wo er Dorothea getroffen hatte. Er wollte nur noch dieses gottverdammte Haus verlassen. Barthel stürzte ins Freie. Das Feuer würde den Rest erledigen.