Vier

 

Nach einer ausgiebigen Dusche fühlte sich Naomi frisch und voller Tatendrang. Ein Haufen zerknitterter Kleidung lag neben dem Bett. Sie hatte in ihren Sachen geschlafen. Ohne zu duschen oder sich wenigstens auszuziehen, hatte sie der Schlaf einfach übermannt.

Sie schlüpfte in kurze Hosen und ein T-Shirt. Draußen lachte die Sonne, und von den Nebelfeldern war nichts mehr zu entdecken. Vor dem Frühstück wollte sie eine Runde durch den Ort laufen. Für den Nachmittag plante sie einen Besuch des Unigeländes. Sie hoffte, auch zwei Wochen vor Studienbeginn, schon jemanden im Sekretariat anzutreffen, der ihr weiterhelfen konnte. In der Uni-Broschüre stand, sie müsse trotz des angebotenen Stipendiums eine Aufnahmeprüfung vor Ort machen. An die geforderten Zeiten im Schwimmen reichte sie bei ihrer jetzigen Leistung nicht heran. Aber Schwimmen war noch nie ihre große Stärke gewesen. Wenn sie in dieser Disziplin nicht durchfallen wollte, musste sie täglich im Schwimmbad trainieren.

Naomi spazierte in den Hotelgarten hinaus. Sie ging am Hotelpool vorbei, der zwar zum Planschen ausreichte, für ihr geplantes Training aber viel zu klein war. Sie hoffte, jetzt schon die Sporteinrichtungen der Universität nutzen zu können.

Mit Blick auf den Stillwater River machte sie einige Streckübungen, um ihre Muskeln zu lockern und aufzuwärmen, bevor sie sich auf den Weg nach Orono machte. Sie lief bis zur Mitte der Brücke, die das Unigelände mit dem Ort verband. Das Ufergelände war dicht eingewachsen und umwuchert von Sträuchern und Bäumen. Der Wind trug ihr den würzigen Duft der Wälder zu. Sie joggte auf der Stelle und versuchte die Baumsorten zu erkennen. Eichen, Kiefern, Ahornbäume und weiß blühende Sträucher säumten den Flusslauf. Alles war in sattes Grün getaucht. Der Geruch nach frischem Gras und feuchter Erde war trotz des intensiven Dufts der Holunderblüten wahrnehmbar. Sie schloss für einen Moment die Augen und genoss die fremde Geruchsmischung. Plötzlich fühlte sie sich lebendig und frei. Zum ersten Mal in ihrem Leben war sie für sich selbst verantwortlich. Keine mahnenden Worte von Oma, sie solle bei Einbruch der Dunkelheit zu Hause sein. Niemand, der ihr Vorwürfe machte, wenn sie nicht zur vereinbarten Zeit nach Hause kam. Nicht die altbekannte Frage, mit wem sie so lange unterwegs gewesen war. Nun war sie endlich frei.

Mit einem Lächeln auf den Lippen überquerte sie die Brücke. Sie beschleunigte das Tempo und joggte durch die Innenstadt. Zwischen den roten Klinkerbauten standen weiße Holzhäuser, eine Apotheke, Krämerläden und Restaurants, die kaum als solche zu erkennen waren, hätte nicht ein kleines Schild einen Hinweis darauf gegeben. Sie betrachtete eines der Holzhäuser. Der Gedanke an den Winter ließ Naomi unwillkürlich erschauern. Sie hatte gelesen, dass die Winter hier stürmisch und eiskalt waren. Der Gedanke daran, einen Schneesturm in einem solchen Holzhaus zu erleben, ließ sie jetzt schon frieren. Wie hielten die Einwohner diese Kälte nur aus? Die Häuser sahen aus, als ließen sie den kleinsten Windstoß durch die Ritzen fahren.

Vor den meisten Gebäuden standen Zucker-Ahornbäume. Die ersten Blätter sprossen. Bald würden die Häuser für neugierige Blicke hinter dem dichten Blätterwerk verborgen bleiben, bis der Winter die Bäume wieder in braune Skelette verwandelte. Auf den Indian Summer freute sie sich. Es wäre herrlich hier zu trainieren, während sich die Wälder langsam in ein buntes Leuchtfeuer verwandelten.

Gedankenversunken lief sie weiter. Es war noch früh am Morgen. Trotzdem schien bereits alles auf den Beinen zu sein. Menschen lehnten an ihren Autos, schwatzten, packten Einkäufe in den Kofferraum oder fuhren Kinder zur Schule. Naomi ließ sich auf eine Parkbank fallen und sah sich um. Sie entdeckte die kleinen Restaurants, an denen sie gestern vorbeigefahren war. Spektakulär war der Ort nicht. Es war ein Ort, an dem die Zeit stehen geblieben schien. Mit etwas Glück würde es lebendiger werden, wenn die Studenten kämen. Kurz schoss ihr durch den Kopf, was wohl jemand aus dieser Gegend über das Dorf dächte, aus dem sie kam. Dort war auch nichts geboten. Gemauerte Wohnhäuser, spießige Vorgärten, Hausfrauen mit Kleinwagen, eine Bäckerei, ein italienisches Restaurant und ein kleiner Supermarkt. Eigentlich ähnelten sich dieser Flecken Erde und ihr Heimatdorf sogar – außer, dass sie die Heide gegen riesige Wälder getauscht hatte.

Sie stand auf und ließ sich durch die Straßen treiben, bis ihr Kaffeeduft in die Nase stieg. Eine heiße Tasse Kaffee wäre genau das Richtige. Sie folgte dem Geruch, der sie bis vor ein Eckcafé lockte.

Das kleine Stehcafé war gut gefüllt. Während sie darauf wartete, an die Reihe zu kommen, beobachtete sie die Menschen um sich. Hier schien jeder jeden zu kennen. Es wurde getratscht und gelacht; nur sie kam sich wie ein Fremdkörper vor. Die Einwohner starrten sie zwar nicht direkt an, trotzdem bemerkte sie, wie sie sie beobachteten. Nachdem sie ihren Kaffeebecher in Händen hielt, wollte sie nur noch verschwinden. Mit einem Ruck drehte sie sich um und knallte mit ihrem Hintermann zusammen. Ein hässlicher Kaffeefleck breitete sich auf dem T-Shirt des jungen Mannes aus, der fluchend an seiner Kleidung zerrte. Naomi blieb sprachlos stehen. Ihre Augen waren vor Schreck geweitet. Spätestens jetzt musterte sie jeder. Am liebsten wäre sie unter den Dielenbrettern versunken. Hoffentlich würde der Typ jetzt nicht ausrasten. Der Kaffee war brühend heiß. »Sorry. Das, ähm ... es tut mir furchtbar Leid«, stammelte sie.

Der Typ erwachte aus seiner Starre. Er fingerte nach den Servietten, die auf der Theke lagen und wischte ergebnislos an dem Kaffeefleck herum. »Ist wenigstens Milch und Zucker drin? Heiß scheint er ja zu sein.«

Naomi schüttelte verlegen den Kopf. »Schwarz, ohne Zucker. Gibt dafür keine Milchflecken.« Naomi sah, wie sich seine Mundwinkel zu einem Lächeln verzogen. Ein Kerl im Holzfällerhemd prustete lauthals los und gab in übelstem Slang einen Kommentar ab. Sie grinste unsicher. Kein einziges Wort des untersetzten Glatzkopfs hatte sie verstanden. Die umstehenden Gäste grinsten ebenfalls und klopften dem Glatzkopf auf die Schulter. Naomi drehte sich peinlich berührt weg, bestellte einen Kaffee mit Milch und Zucker und hielt dem Fremden den Becher hin. »Friedensangebot. Die Sauerei tut mir echt Leid.«

Der Glatzkopf gluckste immer noch über seinen eigenen Witz, worauf der Typ den Kopf schüttelte. »Lass dich von dem nicht ärgern. Gillbert ist hier unser Möchtegern-Casanova.«

»Was heißt hier Möchtegern? Ruiniere mir nicht meinen guten Ruf! Hättest du dich nicht vorgedrängelt, wäre ich jetzt auf den Kaffee eingeladen.«

»Träum weiter, Gill. Was würde deine Frau davon halten, hä?«

Der Typ entfernte sich vom Tresen. »Bist du neu hier?«

Naomi nickte. »Gestern angekommen.« Sie war erleichtert. Immerhin nahm er ihr das Malheur nicht übel.

»Herzlich Willkommen in der Wildnis. Unser bestes Exemplar hast du eben kennen gelernt. Ich bin übrigens Sammy.« Er streckte ihr seine Hand entgegen.

»Naomi.« Sie gab ihm die ihre. »Und normalerweise bin ich nicht so schusselig.« Sie sah in seine blassblauen Augen, die forschend nach draußen sahen.

»Dort ist noch ein Tisch frei. Hast du Zeit?« Er zeigte zu einem Stehtisch mit zwei Hockern.

Naomi nickte. Sammy ging voraus. Er war einen halben Kopf größer als sie und seine Bewegungen waren schlaksig; so, als sei er zu schnell gewachsen. In der Sonne leuchtete sein Haar kupfern. Naomi spürte seinen neugierigen Blick. Mit einem Lächeln rückte sie den Hocker zurecht und setzte sich.

Sammy musterte Naomi. Er hatte sie durch die Stadt joggen sehen. Sofort hatte er gewusst, dass er sie kennen lernen musste. Ihr dunkles Haar, die geschmeidigen Bewegungen, ihr ganzes Verhalten hatten seine Aufmerksamkeit erregt. Er war ihr bis ins Café gefolgt, um die Möglichkeit zu haben, sie aus der Nähe zu betrachten. Ihre grünen Augen nahmen ihn gefangen. Er hatte sich tatsächlich an Gillbert vorbeigedrückt. Darum war er so dicht bei ihr gestanden, als sie sich plötzlich umdrehte. Jetzt saß sie vor ihm, und ihm fiel kein Gesprächsthema ein. Außerdem käme er zu spät zur Arbeit. Zum Teufel damit. Dieses Mädchen war wichtiger, als sein lausiger Job.

Naomi war die Stille unangenehm. »Bist du hier aufgewachsen?« Etwas Besseres war ihr auf die Schnelle nicht eingefallen. Mit Sicherheit war er hier zu Hause. Die Leute kannten ihn.

»Nein«, antwortete Sammy und nippte an seinem Kaffee. »Eigentlich ziehe ich einfach durchs Land und arbeite, wo es Arbeit für mich gibt. Bevor der Winter kommt, hau´ ich ab in den Süden. Die Winter in Neuengland hält nur ein Bär aus.« Er lachte glucksend. »Was hat dich hierher verschlagen? Die Uni?«

Naomi trank einen Schluck Kaffee. »Der Zufall. Die Uni von Maine war die einzige, die mir für dieses Semester ein Stipendium gewährt hat. Da habe ich zugegriffen. Eigentlich wollte ich nach Hawaii.«

Sammy zog die Augenbrauen hoch und pfiff durch die Zähne. »Hawaii. Da war ich noch nicht. Was studierst du?«

Naomi fühlte sich langsam wohler. Das Eis war gebrochen. Sie erzählte ihm von der bevorstehenden Aufnahmeprüfung und dem geplanten Sportstudium. Sammy sprach ihr Mut zu.

»Jetzt muss ich wirklich los. Sonst kriege ich Ärger.« Sammy warf den Pappbecher in den Mülleimer und winkte ihr zum Abschied zu. »Bis später!«

 

Naomi joggte am Ufer entlang. Sammy schien nett zu sein. Seine Einladung zum Essen hatte sie überrascht und zögern lassen. Doch alleine in ein Restaurant zu gehen, brächte sie nicht über sich. Sie hätte im Hotel zu Abend essen können, aber da hätte sie sich zu Tode gelangweilt. So lernte sie die Stadt kennen. Sammy war unterhaltsam und sah dazu noch gut aus. Er zog planlos durch die Welt. Das komplette Gegenteil von ihr. Sie hatte noch nicht viel von der Welt gesehen. Mit Sicherheit konnte er tolle Geschichten erzählen. Irgendwann musste sie ihre Schüchternheit los werden, wenn sie nicht jeden Abend alleine verbringen wollte.

Sie lief ziellos durch den Wald in Richtung Norden, bis sie auf eine Lichtung traf und überrascht stehen blieb. Der Ort hatte etwas Magisches. Das einfallende Sonnenlicht zauberte helle und dunkle Streifen auf die Erde. In der Mitte der Lichtung stand eine knorrige Ulme. Sie überragte die anderen Bäume, die in gebührendem Abstand zu ihr standen. Es schien, als wage kein anderer Baum, in ihrem Schatten zu wachsen; so, als müsse jeder aus Respekt vor dieser alten Ulme Abstand halten. Naomi näherte sich dem Baumriesen. Er strahlte eine unbestimmte Ruhe aus. Sie setzte sich auf eine Wurzel, lehnte sich an den Stamm und schloss die Augen. Oma würde es hier gefallen, dachte sie. Naomi riss die Augen auf. Oma. Verdammt! Sie hatte versprochen, sich sofort morgens nach dem Aufstehen zu melden. Nun war es fast Mittag, also früher Abend in Deutschland. Großmutter würde sich Sorgen machen. Sie sprang auf, sah sich um und rannte nach Süden. Bevor sie die Lichtung verließ, drehte sie sich noch einmal um. Ihr war plötzlich, als wäre sie nicht mehr alleine im Wald. Ihre Augen suchten zwischen den Bäumen nach einer Bewegung. Nachdem sie nichts Ungewöhnliches entdecken konnte, drehte sie sich um und eilte davon.

Naomi fand den Rückweg, ohne auf den Kompass zu sehen. Ihr Orientierungssinn verließ sie selten. Trotzdem hatte sie sich angewöhnt, Großmutters Geschenk nicht zu vergessen. Früher, um Omas vorwurfsvollem Blick zu entgehen und nun, weil das Geschenk sie an Oma erinnerte. Problemlos fand sie den Rückweg zum Hotel.

Auf der Uhr an der Rezeption war es fast zwölf. War sie so lange auf der Lichtung gewesen? Ihr war es nur wie wenige Minuten vorgekommen. Oma säße mit Sicherheit neben dem Telefon. Das gab Ärger. So viel stand fest.

Mit schlechtem Gewissen fragte sie die Empfangsdame nach Nachrichten. Amy stand auf dem Schild ihrer Uniform. Ein mütterlicher Typ mit ausladenden Hüften und rosigem Gesicht. Es war die nette Frau von gestern Abend. »Ich habe die Zeit vergessen.«

Amy nickte vielsagend und schob ihr fünf Zettel zu. Oma hatte fünf Mal angerufen. Naomi sah sich um. Amy zeigte in eine Ecke, in der ein Telefon an der Wand hing.

Naomis Großmutter nahm nach dem zweiten Klingeln ab. »Das wurde auch Zeit. Wenn du deine Versprechen so hältst, kommst du besser gleich wieder nach Hause, bevor ich dich persönlich abhole! Warum bist du eigentlich ohne Handy unterwegs?«

Naomi kniff die Augen zusammen. »Oma, es tut mir Leid. Ich hab einfach die Zeit vergessen. Es gab so viel zu sehen.«

Bevor ihre Großmutter etwas erwidern konnte, erzählte Naomi, was sie alles entdeckt hatte. Sie beschrieb die Einwohner und den Ort bis ins kleinste Detail. Die Lichtung vergaß sie versehentlich, die Verabredung mit Sammy absichtlich. Sie konnte sich vorstellen, wie ihre Oma damit anfing, sie sei zu vertrauensselig. »Es würde dir hier gefallen, Oma. Schön ruhig und verschlafen. Selbst wenn ich nur Pizza essen würde, käme ich dünn wie ein Stecken zurück. Hier kann ich nichts anderes machen, als durch die Wälder zu rennen.« Das für ihre Oma so typische glucksende Lachen drang durch den Hörer. Sie war offensichtlich wieder versöhnt.

»Nimm in Zukunft trotzdem dein Handy mit, verstanden? Du könntest im Wald stürzen.«

Naomi versprach ihr, künftig das Telefon mitzunehmen, wenn sie auch sicher war, im Wald kein Netz zu haben.

 

Was sollte sie nur anziehen? Naomi hatte bisher keine Möglichkeit gehabt zu sehen, was andere in ihrem Alter hier trugen. Auch hatte sie keinen Schimmer, wohin Sammy sie ausführen wollte. Sie entschied sich für ein geblümtes Kleid und flache Schuhe. Jeans konnten zu leger sein, hochhackige Schuhe zu elegant. Sie sah aus dem Fenster. Der Nebel erhob sich träge über dem Fluss. Die Konturen der Bäume verschwammen in den aufziehenden Schwaden. Wie gestern, verwandelte die untergehende Sonne alles in ein pastellfarbenes Meer aus Watte. Sie warf noch einen Blick auf das Spektakel, schnappte sich die Jacke vom Haken und verließ ihr Zimmer.

 

Sammy wartete draußen auf dem Parkplatz. Er trat von einem Fuß auf den anderen, bis er sich dazu zwang, sich lässig gegen seinen alten Honda Civic zu lehnen. Keinesfalls sollte Naomi merken, wie nervös er war. Den ganzen Nachmittag über hatte er überlegt, wohin er mit ihr an diesem ersten Abend gehen sollte. Wenn sie nun Vegetarierin war, wäre eine Tischreservierung im Steakhouse ein schlechter Start. Die Pizzeria empfände sie eventuell als zu einfallslos, das American Diners zu überfüllt, das mexikanische Essen zu scharf. Letztlich hatte er gar keinen Tisch reserviert. Zwei Minuten vor acht. Gleich käme sie. Er nannte sich selbst einen Narren, so nervös zu sein. Es entsprach nicht seinem Naturell sich wegen eines Dates überhaupt Gedanken zu machen. Doch dieses Mal war alles anders. Naomi war anders. Er fuhr sich durch die Haare und ließ die Hand sinken, als Naomi aus dem Hotel trat. Sie sah atemberaubend aus. Das geblümte Kleid umspielte ihre schlanke Figur, die flachen Segeltuchturnschuhe und die kurze Jeansjacke nahmen dem Kleid die elegante Wirkung. Ihre dunklen Haare hatte sie locker zu einem Pferdeschwanz gebunden, was Sammy ein wenig enttäuschte. Gerne hätte er die dunkle Mähne in seiner ganzen Pracht bewundert. Er winkte ihr zu. Während sie auf ihn zuschlenderte, musterte sie sein Outfit. Sie nickte leicht, was ihn verunsicherte. Er sah an sich hinunter und entdeckte nichts Außergewöhnliches.

 

Naomi musste lächeln. Jeans und Stiefel, ein einfarbiges Hemd und eine Jeansjacke über der Schulter. Sie war erleichtert, die Turnschuhe gewählt zu haben. »Hi Sammy, wohin werden wir gehen?«

»Gute Frage. Da ich nicht weiß, was du magst, habe ich in keinem Restaurant reserviert.« Sammy schien peinlich berührt, weil er nirgendwo einen Tisch bestellt hatte. Naomi klopfte ihm freundschaftlich auf die Schulter. »Wie ist denn der Italiener hier?«

Das Restaurant war gut besucht. Sie fanden einen kleinen Tisch in einer versteckten Ecke, direkt unter der italienischen Nationalflagge. Naomi beobachtete über die Speisekarte hinweg die anderen Gäste. Einfache Menschen in einfacher Kleidung und praktischen Schuhen. In ihren Jeans hätte sie sich wohler gefühlt. Sie bestellte sich eine große Pizza Diavolo. Sammy sah sie überrascht an. Er bestellte dieselbe Pizza, Wasser und Rotwein. »Es kommt nicht oft vor, dass ich hier ein Mädchen sehe, das nicht nur auf einem Salat herumknabbert.«

Naomi verzog das Gesicht. »Ich liebe Pizza. Außer einem Müsliriegel habe ich heute noch nichts gegessen.«

Der Kellner brachte die Getränke. Sammy schob ihr das Weinglas hin und prostete ihr zu. »Wenn du jetzt noch Bier trinkst, Basketball liebst und durch die Finger pfeifen kannst, musst du mich heiraten.«

Naomi grinste amüsiert. »Da muss ich dich enttäuschen.« Sie nahm einen kleinen Schluck Wein. »Ich trinke zwar hin und wieder Alkohol, kann auch durch die Finger pfeifen, aber von Basketball habe ich keinen blassen Schimmer. Meine Trefferquote ist fürchterlich.«

Sammy schüttelte fassungslos den Kopf. »Und so jemand will in den Staaten Sport studieren.«

Naomi erklärte ihm, aus genau diesem Grund hierher gekommen zu sein. Amerikanische Sportarten waren zwischenzeitlich auch in Europa beliebt, aber Baseball und American Football waren an den Universitäten noch nicht ins Studienprogramm aufgenommen worden. Sie erzählte, sie wolle Sportreporterin werden und so viel lernen, wie ihr nur möglich sei. Auch das Cheerleadern, was in Europa immer noch belächelt wurde, fände sie interessant, wenn sie sich auch nicht vorstellen könne, selbst in kurzem Röckchen auf dem Sportplatz herumzuhopsen.

Sammy legte den Finger auf die Lippen. »Nicht so laut. Wenn du solche Sprüche laut loslässt, bist du bei den Mädels hier unten durch. Die nehmen das sehr ernst.«

Naomi grinste schief. »Hey. Das dürfen sie auch. Es ist nur nichts für mich. Trotzdem bin ich gespannt, ob sie tatsächlich so hohlköpfig sind, wie sie immer in den Filmen gezeigt werden. Ich werde eine Abhandlung darüber schreiben.« Naomi lachte und steckte sich das letzte Stück Pizza in den Mund, bevor sie sich mit der Serviette die Lippen abwischte.

Sammy legte das Besteck zur Seite. »Wie machst du das nur?« Auf seinem Teller lag noch ein Viertel der Pizza.

Naomi zuckte mit den Schultern. Sie hatte schon immer viel essen können. Aber sie trieb auch schon immer viel Sport. Dadurch konnte sie sich das erlauben. Ihre Freundinnen machten sich jedes Mal über ihre Riesenportionen lustig, wobei bei mancher ein neidischer Unterton nicht zu überhören war, wenn diese nur einen traurigen Salat vor sich stehen hatte. Naomi verbrannte die Kalorien schnell; so schnell, dass sie aufpassen musste, nicht abzunehmen. Ihre Oma zog sie zwar immer auf, irgendwann würde bei ihrer schlechten Ernährung der Stoffwechsel nicht mehr mitmachen, und sie würde nudeldick werden, doch bis es soweit wäre, würde sie ihre Fressorgien genießen.

»Hat eigentlich dein Freund nichts dagegen, dass du dich für ein paar Monate einfach so verdrückst?«, unterbrach Sammy ihre Gedanken.

Naomi hatte sich schon im Zimmer überlegt, ob sie einfach lügen sollte, wenn die Sprache auf einen festen Freund käme. Doch das war ihr albern vorgekommen. »Um ehrlich zu sein, es gibt keinen festen Freund. Mir fehlt einfach die Zeit. Sport war für mich immer die Nummer eins.«

Sammy nickte. »Irgendwann wird sich das ändern, glaub mir.«

Sie trank einen Schluck Wasser. »Ein fester Freund ist ... Ach, es wäre ihm gegenüber einfach nicht fair.« Naomi zog diese Version der eigentlichen Wahrheit vor. Bisher hatte sie einfach niemanden getroffen, der ihr gefallen hätte. Auch die ständige Überwachung durch ihre Oma war ein Grund gewesen, sich auf niemanden wirklich einzulassen. Sammy lag richtig. Irgendwann würde sich das ändern. »Und du? Hast du eine feste Freundin?«

»Zur Zeit nicht. Außerdem ziehe ich ständig von einem Ort zum anderen. Das macht kein Mädchen mit. Wer weiß, irgendwann werde ich sesshaft und dann ...« Sammy leerte sein Weinglas.

Naomi beobachtete seinen Gesichtsausdruck. Er wirkte nachdenklich. »Und dann hast du schneller eine Freundin, als dir lieb ist«, scherzte sie.

Sammys Mund umspielte ein Lächeln. »Sollen wir noch woanders hingehen?«

»Ich bin hundemüde. Wahrscheinlich die Zeitumstellung.« Sie unterdrückte ein Gähnen. »Vielleicht auch zu viel Pizza.«

Sammy weigerte sich hartnäckig, die Rechnung zu teilen, was Naomi peinlich war. Freunde zahlten gemeinsam die Rechnung. Sie wollte keine falschen Signale aussenden. Nachdem er nicht nachgab, bestand sie darauf, ihn das nächste Mal einzuladen.

Von der Pizzeria bis zum Hotel waren es höchstens vier Meilen. Trotzdem benötigten sie wegen des dichten Nebels für den kurzen Weg eine halbe Stunde. Der Nebel war undurchdringlich. Die Scheinwerfer warfen nur gelbe Kegel gegen eine weiße Wand. Zu Fuß hätte Naomi die Orientierung verloren. Unwillkürlich zog sie sich die Jeansjacke enger um die Schultern.

»Ist unheimlich, nicht?« Sammy stellte den Wagen auf dem Hotelparkplatz ab. »Man gewöhnt sich nie daran.«

Naomi nickte. »Wirklich gruselig. Man wartet regelrecht darauf, dass plötzlich etwas aus dem Nebel auftaucht.«

»Komm, ich bring dich bis zum Eingang.« Sammy stieg aus dem Fahrzeug; Nebelschwaden drängten ins Wageninnere. Sie konnte Sammys Gestalt kaum ausmachen, obwohl er nur um den Wagen ging, um ihr die Tür zu öffnen. Dunkelheit hatte Naomi noch nie geängstigt, aber die Blindheit bei dichtem Nebel war ihr schon immer unter die Haut gegangen. Diese Angst war irrational, das wusste sie, aber sie war trotzdem da. Naomi stieg aus, lauschte und hörte nur ihr eigenes Herz pochen. Sie hatte das Gefühl, beobachtet zu werden. Mit jedem Schritt erkannte sie die Lichter der Hotellobby deutlicher. Naomis Pulsschlag beruhigte sich erst, als sie den Hoteleingang ausmachen konnte. Sie umarmte Sammy zum Abschied, dankbar, dass er sie bis zum Eingang begleitet hatte. Auf dem Weg ins Zimmer schalt sie sich einen Angsthasen, der vor seinem eigenen Schatten erschrak. Sammy musste sie für eine Spinnerin halten. Wegen des bisschen Nebels beinahe umzukippen.

 

Sammy ging zurück und stieg in seinen Wagen. Er hatte bemerkt, wie Naomi sich ängstlich umgesehen hatte. Ihre Intuition war richtig gewesen. Es war jemand hier. Jemand, der sie beobachtete. Sammy hatte es bereits gewusst, als er aus dem Auto gestiegen war. Er spähte in den Nebel, unfähig etwas zu erkennen. Aber, es spielte keine Rolle mehr. Naomi war sicher im Hotel angekommen. Er würde auf sie Acht geben, das schwor er sich, bevor er vom Parkplatz fuhr. Sie mochte keinen festen Freund suchen, aber auf einen guten Freund konnte sie nicht verzichten. Nicht hier, wo sie alleine war. Darin lag seine Chance.