Zwölf

 

Die Kaffeetasse zersprang in tausend Fetzen. »Verdammt!«, fluchte  Naomi. Sie sah an sich hinunter. Erleichtert atmete sie auf. Immerhin war das Kleid nicht mit Kaffeeflecken übersät. Nur ein Tropfen war am Saum zu sehen. Sie stapfte ins Badezimmer, befeuchtete eine Handtuchecke und rubbelte vorsichtig an dem Spritzer. Das Ergebnis war eine große, nasse Stelle. »Verdammt, verdammt, verdammt! Warum jetzt?«

Das smaragdgrüne Kleid war nun mit einer dunklen Stelle verdorben. In dreißig Minuten würde Roman vor der Tür stehen. Bis dahin wäre es nie trocken. Warum hatte sie es auch schon angezogen? So etwas hatte an diesem Tag ja passieren müssen. Zuvor war sie auf der Treppe gestolpert und gegen die Wand gedonnert. Es zeichnete sich jetzt schon ein dunkler Fleck an ihrer rechten Schulter ab, der im Laufe des Abends perfekt zum Kleid passen würde, wenn er sich nicht gleich dunkelblau verfärbte. Sie wusste beim besten Willen nicht, was mit ihr los war. Schon beim Aufstehen war sie nervös und fahrig gewesen. Sie würde sich fürchterlich blamieren. Mit Sicherheit brächte sie den Abend nicht souverän hinter sich, würde stolpern oder vielleicht am Tisch ein Glas umstoßen. Sie war den Tränen nahe. Wenn sie wenigstens ein Bügeleisen hätte, dann könnte sie das Kleid trockenbügeln. Der Fön fiel ihr ein. 1800 Watt. Das sollte reichen.

Naomi richtete den Fön mit respektvollem Abstand auf die nasse Stelle. Sie konnte nicht riskieren, dass die heiße Luft den zarten Stoff beschädigte. Der Fleck wurde heller. Der Kaffeefleck war verschwunden; was blieb, war ein hässlicher Wasserrand.

Naomi drehte sich vor dem Spiegel. Egal, wie sie sich drehte, der Rand war deutlich zu erkennen. Daran ließ sich nichts mehr ändern. Sie legte sich ein Handtuch um die Schultern, nicht, dass sie beim Schminken noch mehr Unheil anrichtete. Naomi tuschte sich gerade die Wimpern, als es an der Tür klopfte und sie sich vor Schreck die Bürste quer über die Wange zog. Genervt nahm sie ein Kosmetiktuch aus der Packung, spuckte darauf und rubbelte sich nicht nur den Strich weg, sondern auch das bereits aufgetragene Make-up. Es klopfte erneut.

»Herrgott nochmal«, zischte sie. »Ich komme ja schon. Kann ich mich nicht ein Mal in Ruhe fertig machen?«

»Naomi? Bist du da?«

In ihr verkrampfte sich alles. Sammy stand vor der Tür. Für ihn hatte sie nun wirklich keine Zeit. »Du hast zwei Minuten«, sagte sie zur geschlossenen Tür, bevor sie ihm aufmachte. »Ich bin ein Wrack, am Ende und, ach egal ... Was gibt´s denn?«

»Wow, sehr sexy«, entfuhr es Sammy. »Und trotzdem so schlecht gelaunt? Wo klemmt´s denn?«

»Ich habe das Kleid eingesaut«, murmelte sie auf dem Weg zurück ins Badezimmer. Sie schnappte sich das Make-up, drückte das Schwämmchen hinein und tupfte sich über die abgewischte Wange, bis ihre Haut wieder einen gleichmäßigen Teint hatte. Nachdem sie fertig war, schleuderte sie das Handtuch in die Badewanne, bürstete sich nochmals durchs Haar, bevor sie mit Haarspray die Frisur fixierte. »Also, was gibt´s?«

Sammy war ihr gefolgt und stand im Türrahmen. »Hat sich erledigt. Ich dachte, ich hole dich zum Essen ab. Beim Italiener hängt schon eine Vermisstenanzeige von dir.«

Naomi lachte. »Glaub mir, da würde ich jetzt auch lieber hingehen.«

»Jetzt, wo du lachst, siehst du in dem Kleid unwiderstehlich aus.« Sammy trat drei Schritte zurück. »Komm, lass dich bewundern.«

Sammy machte ihr Platz und reichte ihr die Hand. Kavaliersmäßig führte er sie in die Mitte der Wohnung. Er musterte sie von oben bis unten und pfiff durch die Zähne. »Da verschlägt es mir die Sprache. Dir stehen solche Kleider, wusstest du das? Ist ganz anders, als dich in Jogginghosen und Turnschuhen zu sehen.«

»So kann ich kaum über den Campus stöckeln.« Naomi lächelte. Sammys Worte taten ihr gut. Sie drehte eine Pirouette und knickste, bevor sie ihm lachend um den Hals fiel. »Danke. Das Kompliment habe ich gebraucht. Ich bin völlig durch den Wind.«

»Und wo soll das Kleid versaut sein?«

Naomi bückte sich und zeigte auf den Fleck. »Hier, siehst du?«

Sammy lachte. »Wer guckt denn da hin? Derjenige, der das entdeckt, muss in die Klapse. Du in diesem Kleid. Wen stört da schon ein Fleck am Rocksaum?«

»Mich«, jammerte sie.

Sammy sah sie merkwürdig an. »Aber es geht dir gut, oder?«

Sie zuckte mit den Schultern. »Ich bin nur nervös. Das ist alles. Glaube ich zumindest.« Sie fand das Schultertuch über der Stuhllehne und legte es sich um. »Fertig. Damit fällt auch meine neueste Kriegsverletzung nicht auf.«

Sammy runzelte die Stirn.

»Nichts weiter, ich hab mir nur die Schulter gestoßen. Ich sagte doch, heute läuft nichts normal.« Naomi packte Lippenstift und Puder in ihre Handtasche. »Zeit für dich zu gehen. Wir sehen uns, ja?«

Sammy nickte und murmelte etwas, als er die Tür hinter sich schloss. Naomi verstand nicht genau, was er sagte. Es klang wie, ja, bis nachher. Naomi ging ans Fenster und sah, wie Sammy in den aufziehenden Nebelschwaden verschwand. Am Straßenrand stand ein dunkler Wagen. Naomi erschrak. Handelte es sich dabei um dasselbe Fahrzeug, was hinter ihr hergefahren war? Sie schüttelte energisch den Kopf und verdrängte den Gedanken daran. Es gab unzählige dunkle Autos.

 

Ein letzter Blick in den Spiegel zeigte Naomi eine fremde Person. So schön das Kleid war, so unwohl fühlte sie sich darin. In ihren Sportklamotten fühlte sie sich sicher, selbstbewusst und war einfach sie selbst. In diesem Traum aus Seide kam sie sich verkleidet und fremd vor, was ihre innere Unruhe noch steigerte. Wo blieb Roman?

Sie ging wieder zum Fenster. Der Nebel war dichter geworden. Der Wagen schien verschwunden zu sein. Oder, er stand doch noch an der gleichen Stelle; vom Nebel verschluckt. Es war nur noch der Zugang zu ihrem Apartmentblock erkennbar. Sie wandte sich ab. Auf dem Schreibtisch entdeckte sie ihr Handy. Das Foto. Beinahe hätte sie es vergessen. Oma wäre stinksauer, wenn sie nicht ihr Foto bekäme. Karsten hatte Leandra nicht nur alles über die Umgebung erzählt, sondern auch Roman erwähnt. Leandra hatte sofort zum Telefonhörer gegriffen, um alle Einzelheiten zu erfahren. Leandra fehlte ihr; trotz ihrer übergroßen Angst um sie. Naomis Mutter hatte über den Lautsprecher mitgehört. Leandra hatte zum Schluss nachgebohrt, ob wirklich alles in Ordnung wäre, was ihre Mutter Luna dazu veranlasste, sich in das Gespräch einzumischen. Sie schimpfte, Leandra solle Naomi in Ruhe lassen, sie sei erwachsen. Es sei schließlich nur normal in ihrem Alter, einen Freund zu haben und Naomi wisse schon, was sie tue. Naomi war froh gewesen, dass ihre Mutter mitgehört und sich eingemischt hatte und somit Leandras Verhör unterbrochen hatte. Karsten musste sein Versprechen gehalten haben. Mit keinem Wort hatte ihre Großmutter das Schlafwandeln erwähnt. Zum Abschluss hatte Naomi ihr Kleid beschrieben, das sie nun trug, und beide hatten auf ein Foto bestanden. Am besten eines gemeinsam mit Roman. Sie fotografierte mit dem Handy in den Spiegel. Das Foto war zwar irgendwie armselig, aber immerhin war es nicht verwackelt.

An der Tür klopfte es. Das musste Roman sein. Naomi strich sich die Haare zurück über die Schulter, bevor sie öffnete. Roman strahlte sie an. Er hielt eine langstielige Rose in der Hand.

Naomi nahm sie entgegen. »Die sollte wohl ins Wasser, wenn ich hier überhaupt so etwas wie eine Vase finde.«

»Du bist wunderschön.« Roman küsste sie auf den Mund. »Wie bin ich nur an dich geraten? Besser gefragt, was findest du bloß an mir?«

»Danke.« Naomis Herz machte einen Satz. »Vermutlich ahnte ich, dass du im Anzug wie James Bond aussiehst.« In der Küche griff sie nach einer halbleeren Wasserflasche und steckte die Rose hinein. »Das muss wohl genügen. Etwas anderes ist leider nicht da.«

Er trat von hinten an sie heran und umarmte sie. »Was hältst du davon, einfach hier zu bleiben«, raunte er ihr ins Ohr.

Naomi lehnte sich an ihn. »Das kommt gar nicht in Frage. Das Kleid will ausgeführt werden. Außerdem bekomme ich in dieser winzigen Bude heute Platzangst.«

»Wir könnten zu mir fahren.« Roman drehte sie zu sich um.

Naomi löste sich aus seiner Umarmung. Die Luft im Apartment schien ihr bleischwer. Ihr Herz hämmerte. Es drängte sie aus der Wohnung. »Alles zu seiner Zeit. Wir wollten den Leuten doch etwas zu tratschen geben.«

Roman drückte den Rücken durch, schlug die Schuhe zackig aneinander und hob die Hand an die Stirn. »Wie Madame wünschen.« Anschließend reichte er ihr den Arm.

Naomi schnappte sich den Trenchcoat, hängte sich ein, und sie verließen das Haus. Die frische Luft vertrieb Naomis Beklemmungsgefühle. Sie atmete gierig ein und aus.

»Nervös?«, fragte Roman.

»Eigentlich nicht.« Sie sog immer noch die frische Luft in ihre Lungen. »Aber schon heute Morgen habe ich mich irgendwie komisch gefühlt. Im Vorlesungssaal bekam ich auch schon kaum Luft. Als die Stunde vorbei war, hatte ich es sogar so eilig, nach draußen zu kommen, dass ich gestolpert und gegen die Wand gerempelt bin. Jetzt geht es wieder. Lass uns losfahren. Sonst kommen wir bei diesem Nebel erst zum Nachtisch an.«

Roman öffnete die Beifahrertür und ließ Naomi einsteigen. Kaum fiel die Tür ins Schloss, fühlte sich Naomi eingesperrt. Wegen der dichten Nebelfelder war ein Blick in die Ferne unmöglich. Naomi schloss die Augen. Sie riss sich zusammen. Mit noch immer geschlossenen Augen, griff sie nach dem Sicherheitsgurt. Sie zog ihn in weitem Bogen heraus und steckte die Schließe in die Anschnallvorrichtung. Der Gurt spannte sich. Naomi schnappte nach Luft. Es presste sie regelrecht in den Sitz. Das Gefühl gefesselt zu sein, raubte ihr den Atem. Mit hektischen Bewegungen löste sie den Gurt und schnappte nach Luft. Trotzdem fühlte sie sich gefangen. In ihrem Inneren rebellierte es. Ihre Nackenhaare stellten sich auf. Ihr war abwechselnd heiß und kalt. Roman öffnete die Fahrertür, und Naomi erschien es wie ein Tor in die Freiheit. Geräuschvoll stieß sie die Luft aus ihren Lungen. Roman stieg ein und schloss die Tür. Naomi atmete flach. Was war hier nur los? Alles in ihr rebellierte. Woher kam diese Panikattacke? Naomi konzentrierte sich, lauschte in sich hinein. Jede Faser ihres Körpers drängte sie, das Fahrzeug zu verlassen. Sie konnte doch nicht einfach davonlaufen. Wie sollte sie das Roman erklären? Naomi kämpfte die Panik nieder, knetete ihre Hände und starrte auf ihre Knie.

»Alles in Ordnung?« Roman musste ihre Anspannung bemerkt haben. »Hey, Schatz, was ist denn los?«

Naomi zwang sich zu einem Lächeln. »Nichts. Alles okay. Lass uns fahren.«

Der dichte Nebel verlangte Romans volle Konzentration. Die Sicht war auf zehn Meter geschrumpft, und die Scheinwerfer erhellten die weiße Wand vor ihnen. Sie kamen nur im Schritttempo voran. Naomi war dankbar für das Schweigen im Wagen. Sie setzte sich auf ihre Hände, um zu vermeiden, dass sie aus einem Impuls heraus die Wagentür aufriss und ins Freie stürzte. Ihre rechte Hand zuckte immer wieder unter ihrem Hintern. Die etwa fünf Meilen bis zum Hotel kamen Naomi vor wie eine Ewigkeit. Kaum stellte Roman den Motor ab, schnellte ihre rechte Hand zum Türöffner. Sie stieß die Tür auf, und dichter Nebel waberte ins Wageninnere. Endlich konnte sie wieder frei atmen. »Endlich«, flüsterte sie.

»Wir müssen nicht hingehen.« Roman strich über ihren Rücken.

Die Berührung aktivierte jede einzelne Zelle ihres Körpers. Es fühlte sich fast wie eine elektrische Spannung an, die sich jeden Moment entladen konnte. Mit einer schwungvollen Bewegung stieg sie aus. Gierig sog sie die feuchte Nachtluft ein. Ihre Nerven beruhigten sich wieder, ihre Atmung ging gleichmäßiger. »Was ist nur mit mir los?«, flüsterte sie kaum hörbar. Wieder schloss sie die Augen. Als sie sie wieder öffnete, stand Roman mit besorgtem Gesichtsausdruck vor ihr. »Lass uns reingehen, ja? Ich bin in Ordnung.«

Roman fasste ihre Hand, drückte sie fest. »Wir müssen wirklich nicht zu dieser Veranstaltung.«

Naomi fühlte sich wieder besser. Sie nickte nur. »Ich möchte aber.« Das wollte sie tatsächlich. Die ganze Woche hatte sie auf diesen Abend hingefiebert. Sie konnte nicht zulassen, dass ihre Panikattacke alle Pläne zunichte machte. Sie drückte den Rücken durch und ging entschlossen den beleuchteten Weg zum Hoteleingang. Roman ging schweigend neben ihr her. Jeder Schritt, mit dem sie sich dem Hotel näherte, steigerte ihre Panik. Das eindrucksvolle Portal rückte näher. Es kam ihr immer kleiner vor. Niemals würde sie hindurch passen. Der Rundbogen des Tors neigte sich in Richtung Boden, die Fassade drückte den Eingang immer mehr zusammen. Ihr Herzschlag wurde lauter, pochte gegen ihre Schläfen. Sie hörte ihr Blut rauschen. Trotzdem ging sie weiter. Roman zuliebe. Bis sie zum Schluss vor dem Hoteleingang stand, der wider erwarten Platz genug zum Eintreten bot. Sie hörte die Stimmen der anderen Gäste. Musik drang nach draußen und vermischte sich mit dem Rauschen in ihrem Kopf. Sie zwang sich, einen Schritt nach dem anderen, ins Innere der hell erleuchteten Hotelhalle hineinzugehen; der Raum erdrückte sie beinahe.

Roman grüßte mit einem Kopfnicken eine Gruppe von Gästen an der Bar. Naomi zögerte. Sie konnte einfach nicht weitergehen. Ihre Füße schienen schwer wie Blei. Ihre Augen suchten nach einem Ausgang. Ein Pfeil zeigte den Weg zu den Toiletten an. Sie lagen direkt neben dem Hoteleingang. Die Stimmen und das Rauschen in ihrem Kopf ließen keinen klaren Gedanken zu. Sie wollte nur weg. Weg von den Leuten, weg von allem, sogar weg von Roman. Sie blieb stehen.

Roman drehte sich zu ihr. »Ist auch wirklich alles in Ordnung?«

Ihr Innerstes schrie, nichts sei in Ordnung. Überhaupt nichts. Doch hörte sie sich sagen, Roman solle voraus zur Bar gehen, und ihr ein Glas Weißwein bestellen; sie käme in wenigen Minuten nach. Naomi zeigte entschuldigend auf den Pfeil zu den Toiletten, drückte Roman den Trenchcoat in die Hand und eilte darauf zu. Sie blieb stehen, drehte sich zu Roman um. Er lächelte ihr zu, bevor er sich wegdrehte und auf die Bar zuging. Eine neue Gruppe Gäste betrat das Hotel, strömte auf die Bar zu und nahm Naomi dadurch die Sicht auf Roman. Sie folgte dem Pfeil zu den Toiletten. Ein schmaler Gang führte dorthin. Der Gang war zu eng. Sie passte niemals hindurch. Verzweifelt drehte sie sich nochmals zu Roman um, der an der Bar stand und ihr den Rücken zuwandte, bevor sie aus dem Hotel ins Freie stürmte.

Ihre Füße übernahmen das Kommando. Sie liefen in eine bestimmte Richtung. Wohin? Sie wusste keine Antwort. Sie gehörten nicht mehr zu ihr; sie hatte die Kontrolle verloren.

Schritt um Schritt fühlte sie sich freier. Neue Gerüche drangen in ihre Nase. Alles roch intensiver. Aus einem der Häuser hörte sie Geräusche. Das anfängliche Gemurmel schwoll an, bis sie einzelne Worte verstand. Es liefen die Nachrichten. Kinder stritten lautstark um einen Lastwagen. Doch wo stand das Haus?

Der dichte Nebel lichtete sich ein wenig, als sie den Wald erreichte. Der Duft nach Pflanzen intensivierte sich, der Lärm der Umgebung wich den Geräuschen des Waldes. Sie roch die Blüten der Hartriegelsträucher gemischt mit Berberitze. Gerüche, die sie vorher kaum wahrgenommen hatte. Das Rascheln von Waldtieren war überdeutlich zu hören, trotz ihrer eigenen schwerfälligen Schritte. Sie entdeckte in der Dunkelheit ein aufgescheuchtes Erdhörnchen, das geräuschvoll die Flucht ergriff.

Naomi spürte nicht, dass sie ihre Schuhe verlor, ebenso wenig, dass die herabhängenden Äste ihr Kleid zerrissen. Sie dachte nicht, sie spürte nicht, sie agierte nur. Ihr Geist war frei. Als sie ihr Ziel, die Lichtung im Wald, erreichte, kauerte sie sich zwischen den Wurzeln der mächtigen Ulme nieder. Eine angenehme Wärme umfing sie; steigerte sich in Hitze. Ihr Körper kribbelte, als läge sie in einem Ameisenhaufen, bevor sie tiefe Dunkelheit umhüllte.

Das Knacken eines Astes schreckte sie auf.

»Na endlich.«

Naomi kannte die Stimme. Sammy. Sie öffnete die Augen. Die Lichtung war erleuchtet. Der Vollmond tauchte alles in silbernes Licht. Die Bäume ringsum lagen in hellen Nebelschwaden versunken. Warum war sie hier? Und, wo war Sammy? Sie öffnete den Mund, um ihn zu rufen. Ein kehliges Geräusch entwich ihrem Hals. Ihre Stimme. Sie konnte nicht sprechen.

»Naomi, ich bin hinter dir, zwischen den Bäumen. Ich wusste, dass du heute kommen würdest.«

Naomi drehte sich herum, stolperte und fiel auf ihre Schulter. Um den Schmerz zu vertreiben, versuchte sie sich an der Schulter zu reiben, doch ihr Arm gehorchte ihr nicht. Sie sah nach unten. Pelzige Tatzen. Schwarzes Fell. Erschrocken wich sie zurück. Die Pfoten folgten ihr in dieselbe Richtung. Sie war vor sich selbst erschrocken.

»Hab keine Angst.« Sammys Stimme klang beschwörend. »Du musst dich beruhigen.«

Naomis Kopf drehte sich in alle Richtungen. Abermals versuchte sie zu sprechen. Der kehlige Laut wiederholte sich.

»Wenn du sprechen willst, musst du es denken.« Hinter ihr raschelte es im Unterholz.

Denken?, fragte sich Naomi.

»Ja. Genau. Du musst es denken. Wir verständigen uns über unsere Gedanken.«

Naomi drehte sich um die eigene Achse und stürzte, als sie über ihre eigenen Vorderpfoten stolperte. Schlagartig fiel ihr die Geschichte ein, die Leandra ihr versucht hatte zu erklären.

»Wer ist Leandra?« Sammy blieb immer noch in seinem Versteck. »Was hat sie dir erzählt?«

»Das kann nicht sein. Ich bin kein ...« Naomi wagte nicht den Satz zu Ende zu denken.

»Doch, du bist ein Katzenmensch. Und, es ist gefährlich hier. Wir sollten gehen. Ich werde dich alles lehren, was notwendig ist. Komm, versuche ein paar Schritte zu gehen«, forderte Sammy sie auf.

Naomi hob ihre rechte Pfote, setzte sie auf, um sofort die linke Pfote zu heben. Sie strauchelte und fiel auf die Seite, wie ein frischgeborener Welpe. Ihre Angst war verschwunden. »Ich kann das nicht.«

Trotzdem versuchte sie es weiter. Dieses Mal wackelte sie, konnte aber einen Sturz verhindern. Erneut hob sie ihre rechte Vorderpfote und gleichzeitig die linke Hinterpfote. Nach einigen Versuchen konnte sie die Schritte ausbalancieren. Konzentriert setzte sie eine Tatze vor die andere. Das schwarze Fell auf ihren Pfoten glänzte im Vollmond.

»Sammy, wo bist du?«

»Direkt hinter dir. Komm weg von der Lichtung. Es ist viel zu hell. Wir müssen gehen.«

Naomi hörte das Rascheln hinter sich. Ihre Gedanken konzentrierten sich auf ihre nächsten Schritte. Sie durchbrach das Dickicht. Der unebene Boden verhinderte ein sicheres Auftreten, und sie schwankte hin und her, bis sie direkt vor Sammy auf die Seite fiel. »Es ist gefährlich hier? Warum?«

Sammy stupste sie mit dem Kopf an, fuhr an ihrer Seite entlang. »Beeil dich. Wir dürfen keine Zeit verlieren.«

Er ging voraus. Seine Bewegungen waren geschmeidig. Naomi tapste unbeholfen hinter ihm her. Jeder Schritt ließ sie trittsicherer werden. Nach etwa einhundert Metern, die sie tiefer in den Wald eingedrungen waren, funktionierte der Bewegungsablauf ihrer vier Beine runder, und sie konnte endlich Fragen stellen, da sie sich nicht mehr auf die Schritte konzentrieren musste. »Sammy, wohin gehen wir?«

Sammy stoppte. Als Naomi neben ihm stand, fiel ihr auf, dass sie nicht einmal halb so groß war wie Sammy. Er sah aus wie ein ausgewachsener Panther.

»Wir müssen weiter weg von der Lichtung. Es gibt nicht nur uns hier. Es gibt einen feindlichen Clan. Dem darfst du jetzt auf keinen Fall begegnen. Du würdest einen Kampf nicht überleben. Noch nicht. Jetzt komm schon.«

Naomi hörte die Dringlichkeit in seiner Stimme und fragte nicht weiter. Sie war in Gefahr. Sammy wollte sie beschützen. Naomis Nackenhaare stellten sich auf. Sie duckte sich ins Dickicht und sah sich ängstlich um. Ihre Augen durchforsteten den Wald, der durch die Nebelfelder undurchdringlich schien. Unsicher setzte sie eine Pfote vor die andere, tapste hinter Sammy tiefer in den Wald, bis er vor einer Höhle stehen blieb und sich kurz umsah. Sammy ging hinein. Naomi folgte ihm.

»Hier bist du in Sicherheit.« Sammy legte sich hin, die Vorderpfoten gerade vor sich ausgestreckt.

Er erinnerte Naomi an eine Sphinx. Elegant, groß und eindrucksvoll. »Wusstest du, als du mich angesprochen hast, dass ich so bin wie du? Gibt es viele von uns?« Naomi setzte sich auf ihre Hinterfüße und starrte Sammy an.

»Ich wusste es, als ich dich das erste Mal sah. Deswegen war ich immer in deiner Nähe.«

Naomi legte den Kopf schief. »Dann warst das du? Auf der Brücke und auf der Lichtung?«

»Ja. Ich musste auf dich Acht geben.«

Naomi bewegte sich nervös auf und ab. »Deswegen bist du mir auch im Wagen gefolgt. Warum? Roman war doch bei mir.«

»Roman ist kein Schutz. Menschen sind kein Schutz. Das solltest du dir merken.« Sammy schob ihr einen Napf zu. »Hier, friss diese Pflanzen. Ich wusste, du würdest sie nötig haben. Sie werden dich stärken und beruhigen. Du machst mich ganz nervös mit diesem hin und her.«

Naomi roch an den Pflanzen. »Das stinkt ja widerlich.«

»Aber das macht es einfacher«, hielt Sammy dagegen.

Naomi fühlte sich aufgedreht. Aber war das ein Wunder? Sie sah zu Sammy. Er wollte helfen. Sammy wusste, was das beste für sie war. Sie beugte sich nach unten, neigte den Kopf und holte mit der Zunge die Pflanzen aus der Schale. Um die bitteren Blätter nicht zu lange im Mund zu haben, verzichtete Naomi darauf zu kauen und würgte sie rasch hinunter.

»So ist es gut, Naomi. Ich weiß nicht genau, wo ich anfangen soll. Du bist die Erste unserer Art, die ich einweise.«

Eine ungewöhnliche Wärme breitete sich in Naomis Magen aus. Bald erfasste sie ihren ganzen Körper. Sammys Stimme drang nur noch undeutlich zu ihr durch. »Sammy? Was ist ...?« Ihre Gedanken verschwammen, ebenso ihr Blick. Sie fiel zur Seite und regte sich nicht mehr.

 

*

 

Roman bestellte an der Bar zwei Gläser Weißwein. Er bezahlte die Getränke und sah in Richtung der Toiletten. Irgendetwas stimmte nicht mit Naomi. Sie fühlte sich nicht wohl, auch wenn sie das Gegenteil behauptete. Geistesabwesend nippte er an seinem Weißwein. Der Abend lief nicht so, wie er ihn geplant hatte. Doch das war ihm gleichgültig. Wenn Naomi nicht hier sein wollte, dann wollte er das auch nicht. Keinesfalls wollte er sie dazu zwingen, den Abend hier zu verbringen. Sie musste ihm keinen Gefallen tun und seichte Gespräche mit seinen Kollegen führen. Anfangs hatte er angenommen, sie sei nur nervös. Doch war es nicht Naomis Art, sich wegen ein paar Unidozenten und deren Frauen erschrecken zu lassen. Die vergangene Woche hatte sie nur davon gesprochen, den Leuten für das nächste Semester genug Stoff zum Klatschen zu liefern. Für sie war es ein Spiel gewesen, sich den Leuten zu stellen und ihre Beziehung öffentlich zu machen. Naomi war die erste Frau, bei der er so sein konnte, wie er war. Keine Spielchen, keine Geheimnisse, keine Aufschneiderei. Es musste etwas Anderes dahinterstecken. Roman beschloss abzuwarten, bis sie wieder von der Toilette käme. Sollte es ihr immer noch nicht besser gehen, würde er sie schnappen und zu sich nach Hause fahren. Er sah auf die Uhr.

Naomi war nun seit über zehn Minuten in den Waschräumen. Roman seufzte. Seine Nervosität spülte er mit einem weiteren Schluck Wein hinunter. Nachdem Naomi immer noch nicht zurück war, entschied er nachzusehen.

Roman klopfte an die Toilettentür. »Naomi?« Niemand antwortete. Er klopfte erneut. »Naomi? Ist alles in Ordnung?« Nachdem er wieder keine Antwort erhielt, drückte er die Tür langsam einen Spalt auf. »Hallo? Naomi?« Der Waschraum war leer. Seine Skrupel, die Damentoilette zu betreten, schwanden. Naomi musste hier sein.

Zwei Toilettentüren waren geschlossen. Roman ging auf die Knie, legte den Kopf beinahe auf den Fussboden und schielte durch den unteren Türspalt. Es waren keine Füße zu sehen. Die Toiletten waren leer. Mit einem Satz war er auf den Beinen.

Die Tür schwang auf, und eine überraschte Dame, mit blauweißen Haaren und einer dicken Brille, stand vor ihm. »Das ist die Damentoilette!«

Ohne eine Antwort stürmte er an ihr vorbei und stürzte nach draußen. Vor dem Hotel waberten Nebelschwaden. Sein Blick huschte von links nach rechts. Naomi war nicht zu sehen. Vielleicht war sie zum Wagen gegangen. Roman rannte zu seinem Pick-up. Nichts. Er rief nach ihr. Keine Antwort. Es schien, als hätte der Nebel sie verschluckt. Und wenn sie doch schon an der Bar auf ihn wartete? Auf dem Weg zurück ins Hotel rief er immer wieder nach ihr.

Zwischen den ankommenden Gästen war Naomi auch nicht zu entdecken. In ihrem grünen Kleid wäre sie zwischen der dunklen Abendgarderobe sofort aufgefallen. An der Bar standen die beiden Weingläser. Ihres unberührt, seines zur Hälfte geleert. Der Barkeeper zuckte mit den Schultern und schüttelte den Kopf, als er ihm Naomi beschrieb. Sie war wie vom Erdboden verschluckt. Romans Herz krampfte sich zusammen. Ein unbestimmtes Gefühl verriet ihm, dass Naomi nicht freiwillig verschwunden war. Sie hätte ihn niemals ohne eine Erklärung hier stehen lassen. Mit großen Schlucken leerte er das Weinglas.

Obwohl er wusste, dass sie nicht zu Hause sein würde, trieb es ihn zu ihrem Studio. Mit überhöhter Geschwindigkeit fuhr er durch den Nebel. Sein Blick suchte die Straßen ab. Nichts. Auch nicht, als er seinen Wagen vor Naomis Apartmentblock parkte. Kein Licht.

Roman stieg aus. Er drückte auf den Klingelknopf. Keine Reaktion. Irgendwie musste er ins Haus kommen. Mit der flachen Hand presste er auf sämtliche Klingelknöpfe. Irgendjemand würde öffnen.

»Wer ist da?«, brüllte es über ihm aus einem Fenster.

Roman trat ins Licht. »Ich will zu Naomi!«

»Die ist nicht da. Scheint heute aber recht beliebt zu sein!« Ein wuscheliger Haarschopf verbarg das Gesicht des Mädchens, das sich weiter aus dem Fenster lehnte, um besser sehen zu können. »Ach, du bist´s. Wenn du willst, kannst du ja eine Nachricht hinterlassen.«

Roman nickte. »Dann lass mich herein.«

Der Türöffner summte. Roman stürmte ins Treppenhaus. Vor Naomis Tür lagen bereits Block und Kugelschreiber. Roman wählte Naomis Handynummer. Eine rockige Melodie erklang in ihrer Wohnung. Sie hatte das Handy gar nicht eingesteckt. Nachdem auch auf sein Klopfen keine Reaktion folgte, schnappte er sich den Block und schrieb in schwungvollen Worten: Ich mache mir Sorgen um dich! Melde dich, sobald du kannst, ja? Dein Handy liegt im Apartment, und keiner weiß, wo du steckst. Ich liebe dich, Roman.

Roman beschloss im Wagen auf Naomi zu warten. Die Nacht war kalt und feucht. Immer wieder ließ er den Motor an, um den Innenraum aufzuwärmen. In Gedanken ging er die letzten Tage nochmals durch. Es war eine der glücklichsten Wochen seines Lebens gewesen. Nichts war vorgefallen, was Naomis Verhalten hätte erklären können. Der Morgen graute. Die Sonne brach durch die Nebelfelder. Naomi blieb verschwunden.

 

*

 

Kais schwarzes Fell glänzte silbern im Mondlicht. Das einfallende Licht ließ deutlich die rosettenförmigen Flecken auf seinem Fell hervortreten. Sie verliefen längs über seinen Rücken. Seine Ohren waren aufgestellt; er lauschte. Außer den nächtlichen Waldgeräuschen, vernahm er nichts. Wo war Naomi nur? Sie müsste längst auf der Lichtung sein.

Vor über einer Stunde war Kai ihr zum Hotel gefolgt. Er hatte gesehen, wie sie an Romans Seite das Hotel betreten hatte. Nur kurz hatte er sie aus den Augen gelassen, um seinen Wagen auf dem Parkplatz abzustellen. Durch den Nebel war der Eingang aus seinem Sichtfeld verschwunden. Bis er an das Portal gelangte, waren vielleicht fünf Minuten vergangen. Plötzlich war Roman vor dem Hotel aufgetaucht. Er rief nach Naomi, lief zu seinem Pick-up und blieb dort ratlos stehen. Kai war sofort klar, was passiert war. In diesen Minuten musste Naomi das Hotel unbemerkt verlassen haben. Kai sprang in seinen Wagen und fuhr die Straßen bis zur Brücke ab. Dort ließ er das Fahrzeug stehen. Obwohl er die Lichtung schnell erreicht hatte, war niemand da. Er war allein gewesen; wie auch die Vollmondnächte zuvor, als er vergeblich auf Naomi gewartet hatte. Sie musste kommen.

Er duckte sich im Dunkel der Bäume dicht an den Boden und wartete in dieser Lauerstellung. Naomi würde Angst haben. Angst vor dem, was mit ihr geschah und Angst vor Kai, sollte sie ihn in seiner jetzigen Gestalt sehen. Er musste behutsam vorgehen. Kai überlegte, wie er ihr begegnen sollte. Er wusste es nicht. Warum tauchte sie nicht auf? Kai trabte noch immer geduckt am Rande der Lichtung auf und ab. Sein Bauch berührte beinahe den Boden. Seine Nervosität jagte ihn von einem Ende der Lichtung zum anderen. Naomi würde nicht kommen. Er musste sie suchen. Ihr musste etwas zugestoßen sein. Kai verließ die Lichtung. Seine Augen suchten aufmerksam die Umgebung ab. Er zog immer weitere Kreise um die Lichtung, bis er entschied, tiefer in den Wald zu laufen. Der Nebel zwischen den Bäumen erschwerte ihm die Sicht. In seiner Verzweiflung hielt er die Nase in die Luft, um Naomis Geruch aufzunehmen. Vergeblich. Sein Geruchssinn war durch einen Kampf geschädigt und geradezu jämmerlich ausgeprägt. Kai setzte zum Sprung an, breitete die Vorderpfoten wie für eine Umarmung auseinander und schlug die Klauen in den Baumstamm. Der Schwung reichte für zwei weitere Sprünge, bis er den ersten Ast erreichte. Dort kletterte er an den Ästen entlang nach oben. Seine Augen spähten durchs Geäst. Nichts. Er kletterte vorsichtig durch die Zweige zum Stamm. Der Baumstamm war hoch. Er krallte sich fest, ließ sich rücklings am Stamm hinunter, bevor er sich umdrehte und für den letzten Sprung vorwärts abstieß.

Wütend schlug er mit der Tatze auf einen kleinen Busch ein, der ihm im Weg stand. Rufen. Er konnte nach ihr rufen. War Naomi hier? War sie in der Lage zu antworten? Ein Versuch wäre es wert. »Naomi!«, dachte er, so laut er konnte. Kai streifte tiefer in den Wald. Unaufhörlich rief er in Gedanken Naomis Namen. Nichts. Er bewegte seine Ohren in jegliche Richtung, um auch das geringste Geräusch aufzunehmen. Zeitgleich hielt er seine Nase in den Wind. Ein zarter Geruch erreichte ihn. Kai schnupperte weiter, versuchte die Richtung zu erkennen. Er trabte zurück zur Lichtung. Die Fährte verlor sich. Nachdem der Geruch sich zwei Mal in Luft aufgelöst hatte, nahm er endlich die richtige Spur auf. Seine Nase dicht am Boden, schlich er weiter.

Vor ihm lag eine Höhle. An die Wand gedrückt, tastete er sich vorwärts. Seine Augen durchsuchten jeden Winkel, bis er Naomi entdeckte. Es musste Naomi sein. Die liegende Gestalt war kaum größer als ein halbwüchsiger Panther. Mit einem Satz war er neben dem leblosen Körper. Er schnupperte an ihr, stieß sie mit der Schnauze an, lauschte. Sie atmete. Was war nur passiert? Mit Sicherheit steckte Sammy dahinter. Kai versteckte sich tiefer in der Höhle. Vielleicht käme Sammy zurück.

Doch Sammy kam nicht wieder. Kai wartete vergeblich. Dieses Mal hätte er es auf einen Kampf ankommen lassen.

Der Brustkorb von Naomi hob und senkte sich gleichmäßig. Hin und wieder schlug sie mit dem Schwanz um sich. Bald würde sie aufwachen. Kai spürte es.

 

*

 

Naomi streckte die vier Beine von sich. Ihr Körper zitterte, bevor er sich wieder entspannte. Sie schlug die Augen auf. Um sie herum war nichts als Dunkelheit. Sie schob sich rückwärts, bis sie an eine Wand stieß.

»Naomi. Du brauchst keine Angst mehr zu haben«, hörte sie eine Stimme in ihrem Kopf. Die fremde Stimme ließ ihr die Nackenhaare aufstehen. Sammy? Naomi öffnete die Schnauze. Anstelle von Sammys Namen hörte sie ein Fauchen, das aus ihrer Kehle kam. Sie erkannte Umrisse. Felsen. Eine Höhle. Sie war mit Sammy hierher gekommen. »Sammy«, dachte sie.

»Nein. Ich bin Kai. Und ich habe dich überall gesucht.« Kai machte drei Schritte aus seinem Versteck.

Naomi fühlte sich in die Enge getrieben. Ihr Fell zuckte, bevor sie fauchte. Das fremde Geräusch ließ sie zusammenfahren. War sie das gewesen? Es hatte sich so angehört. Die Benommenheit fiel langsam von ihr ab. Die Lichtung, Sammy, Oma. Leandra hatte sie warnen wollen. Ihre Gedanken überschlugen sich. Sammy hatte gesagt, sie müsste bewusst denken, was sie sagen wollte. »Wo ist Sammy?«

Kai war stehen geblieben. Naomis Augen blickten forschend in seine Richtung. Sie sah nur seinen Umriss. Vor ihr stand eine Raubkatze. Groß, schwarz, bedrohlich.

»Ich weiß es nicht. Jetzt bist du in Sicherheit. Ich werde dich beschützen.« Kai duckte sich und drückte sich langsam zwei Schritte nach vorn.

»Bleib wo du bist.« Naomi dachte nach. »Woher kennst du meinen Namen?«

»Ich habe auf dich gewartet. Schon lange. Es war nicht schwer, dich zu erkennen, Naomi. Ich war immer in deiner Nähe. Deswegen kenne ich auch deinen Namen.« Kai rührte sich nicht.

Sein defensives Verhalten beruhigte Naomi. Ihre Nackenhaare legten sich. »Und woher weiß ich, dass du nicht aus einem feindlichen Clan bist? Sammy sprach davon.«

»Wenn ich dich hätte töten wollen, wärst du das bereits. Im Schlaf warst du wehrlos. Ich habe aber über dich gewacht. Im Gegensatz zu Sammy. Er ist dein Feind. Vertraue mir.«

Naomi überlegte, ob sie das konnte. Sammy war fort. Er hatte sie allein zurückgelassen. Die Pflanzenmischung fiel ihr ein. Das war das Letzte, woran sie sich erinnerte. »Aber Sammy ist mein Freund.« Naomi setzte sich auf.

Ein leises Fauchen antwortete ihr. »Sammy ist hinterhältig. Sei froh, dass er dich am Leben gelassen hat. Er spielt gerne Spielchen. Vermutlich hätte es ihn gelangweilt, dich jetzt schon zu töten.«

Warum sollte Sammy sie töten wollen? Das konnte nicht sein. Andererseits war er nicht hier. Er würde seine Gründe haben. Dessen war sie sich sicher. Konnte sie aber diesem Kai trauen? Immerhin hatte er ihr nichts getan. Sie musste es riskieren. »Sammy ist kein Mörder. Niemals.«

Kai stand auf. Er kam langsam auf sie zu. »Lass uns hier verschwinden. Auf der Lichtung sind wir sicher. Es wird bald hell, und ich habe dir viel zu erklären.«

Naomi erhob sich ebenfalls. »Sammy sagte, auf der Lichtung sei es gefährlich.« Während der ersten Schritte zum Ausgang der Höhle taumelte sie, bis sie in den Rhythmus des Kreuzgangs fiel und gleichmäßig beide Pfoten hob und wieder absetzte.

Kai fauchte auf und folgte ihr mit Abstand. »Sammy ist ein Lügner.«

Naomi sah sich um. Dichter Wald umfing sie. Kai streifte sie leicht, als er sich an ihr vorbeischob.

»Hier entlang.« Er machte einen Satz von fünf Metern und drehte sich zu ihr um. »Mach langsam. Üben können wir kommende Nacht. Gewöhne dich erst an deinen neuen Körper.«

Naomi kletterte mühsam über die Felsen, strauchelte mehrmals, bevor sie für das letzte Stück einen Sprung auf den Waldboden versuchte. Ihre Vorderläufe knickten ein. Hart schlug ihr Kinn auf eine Wurzel.

»Hatte ich dir nicht geraten, vorsichtig zu sein?«

Naomi zog die Stirn nach unten. Eine kleine Wulst über den Augen zeigte ihren Unmut. Schweigend folgte sie Kai. Sie ärgerte sich über ihre Unbeholfenheit. Im Schritttempo fiel ihr der Kreuzgang bereits leicht, und sie versuchte zu traben. Ohne zu wissen, was sie falsch machte, stolperte sie über die eigenen Pfoten und stürzte.

Kai drehte sich zu ihr um und knurrte. »Du wirst dir noch das Genick brechen.«

Naomi ließ ihren Kopf hängen und schlich hinter Kai her, bis sie die Lichtung erreichten. Der Nebel blieb hinter den Bäumen zurück. Naomi sah nach oben. Das Schwarz des Nachthimmels war purpurnem Blau gewichen. Neben der Ulme lag das zerrissene Abendkleid über einer Wurzel. Dieses Stück Stoff ließ sie begreifen, was tatsächlich mit ihr geschehen war. Es war kein Traum. Sie hatte sich in ein Wesen verwandelt, dessen Körper sie nicht kontrollieren konnte. Ihr Verstand ignorierte das Geschehene, obwohl die Erlebnisse dieser Nacht das Gegenteil bewiesen. Kai, der in seiner vollen Größe auf der Lichtung stand, machte ihr deutlich klar, dass es sich weder um eine Halluzination noch um einen Alptraum handelte. »Was sind wir?«

Kai drehte den Kopf zu ihr. »Später. Leg dich hin. Es wird Tag.« Kai rollte sich unter der Ulme zusammen. Naomi tat es ihm gleich. Sie suchte nach Erklärungen, bis sie keinen Gedanken mehr fassen konnte. Ihr Verstand funktionierte plötzlich nicht mehr. Sie war völlig leer.

 

Naomi öffnete die Augen. Sie fröstelte. Die Arme um sich geschlungen, sah sie sich um. Die Lichtung. Ein Fremder saß auf einer Wurzel und beobachtete sie aus den Augenwinkeln. »Ich bin Kai. Erinnerst du dich?«

Naomi nickte. Ihr war kalt. Kai kam auf sie zu, blickte aber auf einen Punkt hinter ihr. Er legte ihr einen Jogginganzug vor die Füße, bevor er sich von ihr wegdrehte. »Schuhe habe ich leider keine für dich. Ich kannte deine Größe nicht.«

Naomi stand auf. Der Wind strich über ihren nackten Körper. Ihr Gesicht glühte vor Scham. Hastig zog sie die Kleidungsstücke an.

»Man gewöhnt sich daran«, versuchte Kai sie zu beruhigen. Er ging einen Schritt auf sie zu. »Wie geht es dir?«

»Ich kenne dich. Du warst auf dem Aussichtsturm.« Naomi erkannte sein Gesicht und sein dunkles Haar.

Kai brummte zustimmend. »Auf der Lichtung, dem Campus, auf der Brücke. Ich war immer in deiner Nähe.« Er sah auf seine Schuhe. »Fast immer.«

Naomi trat von einem Bein auf das andere. Der feuchte Waldboden verwandelte ihre Füße in Eisklötze.

»Lass uns gehen.« Kai streckte ihr seine Hand entgegen.

Naomi zögerte. »Wohin?«

»Deine Fragen beantworten«, sagte Kai. Er ließ seine angebotene Hand sinken und verließ die Lichtung.