Vier

 

Naomi ließ sich neben Leandra auf den Sitz fallen. »Irgendwie fass ich es immer noch nicht. Meine Mutter lässt uns fahren; und das, ohne zu meckern.«

Leandra lächelte und schlug eine Zeitschrift auf. »Luna hasst London. Was sollte sie auch dagegen haben? Ich will nur einer alten Freundin unter die Arme greifen, die krank und alleine ist.«

Naomi legte ihre Beine auf dem gegenüberliegenden Sitz ab. »Gibt es diese Freundin überhaupt?«

»Emma?« Leandra nickte. »Natürlich. Wir telefonieren jedes Jahr zu Weihnachten. Ich freue mich sehr, sie wiederzusehen.«

Der ICE fuhr aus dem Hamburger Bahnhof Richtung Köln. Während die Landschaft an Naomi vorbeisauste, grübelte sie darüber nach, was sie in London, neben dem Anwaltsbesuch, noch erwartete. Vielleicht träfe sie dort endlich auf Clanmitglieder. Auch in der zweiten Vollmondnacht war sie im Wald alleine geblieben. Keiner, der ihr etwas erklärte oder ihr beim Training half, welches wegen ihrer Verletzungen erbärmlich ausgefallen war. Sie hatte geübt, aber nicht genug. Vor allem das Üben von Zweikämpfen fehlte ihr.

Eine Verwandlung in London konnte gefährlich sein, das ja, aber alleine bleiben wäre schlimmer. Wenigstens war Leandras Plan mit dem Schlafmittel aufgegangen. Luna hatte an diesem Morgen länger geschlafen und Naomi war unbemerkt ins Haus geschlüpft. Naomi fühlte sich deswegen immer noch schuldig. So konnte es nicht weitergehen. Sie konnte ihre Mutter nicht jeden Monat mit Schlaftabletten außer Gefecht setzen.

»Denkst du, dass wir in London an Rominas Unterlagen kommen?«, fragte Naomi. »Meine Internet-Recherchen sind reine Zeitverschwendung. Irgendwie hätte es mich auch gewundert, wenn ich mit der Eingabe von ein paar Schlagworten in der Suchmaschine wirklich etwas gefunden hätte.«

Leandra sah von der Zeitschrift auf. »Es wäre leichtsinnig. Und auch wir müssen vorsichtig sein. Romina verfasste diesen Brief nicht grundlos ohne einen direkten Hinweis. Außer mir sollte niemand etwas damit anfangen können. Selbst wenn wir den Schlüssel erhalten haben, sollten wir abwarten, bis wir zum Schließfach gehen. Der Anwalt war laut deiner Aussage recht neugierig.«

Naomi nickte zustimmend. »Besser, er hält uns für normale Touristen, die während ihres Urlaubs ein nutzloses Familienerbstück abholen.« Sie sah nachdenklich aus dem Fenster. Ein Waldgebiet zog vor ihren Augen vorbei. »Gibt es viele Parks in London?«

»Es gibt einige, ja. Warum fragst du?« Leandra legte die Illustrierte auf den Nebensitz.

»In vier Tagen ist Vollmond.« Naomi sah zu ihrer Großmutter, die sie mit erstaunter Miene anstarrte. »Ich bin gespannt, wie viele in London zum Treffpunkt kommen.«

Leandra schüttelte energisch den Kopf. »Auf gar keinen Fall. Das ist zu riskant. In diesen beiden Nächten fahren aufs Land.«

Alleine zu bleiben war gefährlicher. Zu wenig wusste sie von ihrer Art; viel zu wenig. Selbst wenn Rominas Unterlagen Hinweise enthielten, die Informationen wären vermutlich veraltet. »In London ist es auch nicht riskanter für mich, als woanders. Ich muss wissen, ob es noch andere gibt. Und ich will Menschen aus meinem Clan finden, verstehst du das nicht?« Naomi war wild entschlossen. Sie würde nicht zurück nach Deutschland gehen, bevor sie nicht herausgefunden hatte, ob sich in London Mitglieder des Clans befanden.

»Naomi. Lass mich das entscheiden, nachdem wir das Schließfach geleert haben.«

Naomi schwieg. Sollte Leandra in Ruhe darüber nachdenken. Auch wenn deren Entscheidung nichts an ihrem Entschluss ändern konnte. Dieses Mal würde sie sich durchsetzen. Aber sie wollte jetzt nicht streiten.

Es musste einen Grund gegeben haben, warum Romina einen Anwalt in London gewählt hatte. »Oma. Wo habt ihr gelebt, als deine Mutter verschwunden ist? In London?« Naomi fühlte sich unbehaglich, weil sie sich bisher so ignorant verhalten hatte. Nicht ein einziges Mal hatte sie sich in den vergangenen Jahren gefragt, wo ihre Großmutter ihre Kindheit verbracht hatte.

»Nein. Wir lebten in Lyndhurst. Ein kleiner Ort bei Southampton. Lyndhurst liegt etwa einhundertfünfzig Kilometer von London entfernt. Mitten in einem Waldgebiet. Damals gab es dort nur wenige Häuser. Es erinnert mich an unser jetziges Dorf. Meine Mutter fuhr alle paar Wochen nach London, wobei ich mir unsicher bin, ob sie diese Ausrede nicht nur vorschob, um die Nächte unbemerkt im Wald zu verbringen.« Leandra sah in Gedanken versunken aus dem Fenster.

Naomi beobachtete sie. Es tat ihr leid, alte Wunden wieder aufzureißen. Vielleicht behielt ihre Großmutter aus diesem Grund das Passwort für sich. Um etwas von Romina für sich alleine zu haben. Zu gerne hätte sie es gewusst, aber sie kannte ihre Oma. Wenn sie sagte, sie würde es noch nicht verraten, dann könnte sie betteln, solange sie wollte. Sie würde es ihr nicht sagen. Das Wort zu wissen, brächte sie im Moment sowieso nicht weiter.

Nachdem sie in Brüssel in den Eurostar umgestiegen waren, trennten sie nur noch zwei Stunden vom internationalen Bahnhof St. Pancras in London. Leandra hielt ihr ein belegtes Brötchen vor die Nase. Die am Bahnhofskiosk gekauften Käsebrötchen sahen lecker aus. Sie griff danach, obwohl sie keinen Appetit verspürte, aber mit irgendetwas musste sie ja die Zeit totschlagen.

 

Londons Vororte glitten am Fenster vorbei, und Naomi verschlug es die Sprache. Haus an Haus reihten sich an den Gleisen entlang. Diese Stadt hatte sie sich anders vorgestellt. Niedrige Häuser in grauem oder rotem Klinkerstein säumten die Strecke. Sie waren kaum zu unterscheiden. Hin und wieder befand sich eine Schaukel im Vorgarten, aber sonst sahen alle gleich aus. Alle gleich traurig. Vielleicht lag es aber auch an der Tageszeit. Die Sonne stand tief und tauchte die Umgebung in ein fahles Licht.

Es dauerte noch eine geraume Zeit, bis der Eurostar in den Bahnhof einfuhr; wenige Minuten nach zwanzig Uhr würden sie ankommen. Naomi atmete kräftig ein und aus, um sich zur Ruhe zu zwingen. Ihre Großmutter wirkte auf sie ebenfalls unruhig. Immer wieder strich Leandra ihr glattes Haar zurück. Zwei Sekunden später rutschten ihr die Haarsträhnen erneut über die Schulter nach vorn.

Naomi erhob sich und zog die Gepäcktaschen aus dem Fach über ihrem Kopf. Die Koffer standen in einer Aufbewahrungsbox beim Ausgang, an dem sich bereits die Fahrgäste drängten. Als ob sie so schneller ankämen, dachte Naomi und setzte sich wieder.

Leandra stand auf und reckte sich. »Zehn Stunden Zugfahrt, und ich bin stocksteif. Ich werde alt.«

Naomi gluckste. »Mir tut auch alles weh. Das hat nichts mit deinem Alter zu tun. Glaub mir.« Sie ließ ihren Kopf kreisen, um die verspannte Nackenmuskulatur zu lockern. »Wie sieht Emma eigentlich aus?«

»Wenn ich das wüsste. Unser letztes Treffen ist lange her.« Leandra legte die Stirn in Falten. »Sie ist um die einssechzig, hat dunkelblondes Haar und ist ziemlich rund. Gut gegessen hat sie schon immer. Vor allem Pizza.«

Naomi streckte ihr die Zunge heraus. »Ich mag Pizza eben.«

Der Zug hielt an, und Naomi ließ Leandra den Vortritt. Sie wuchtete die Koffer aus dem Abteil, während Leandra sich suchend umsah. Auf dem Bahngleis wuselte es vor Menschen.

Naomi sah sich um und suchte nach einer alleinstehenden Frau, die sich vermutlich ebenfalls den Hals verrenkte. Ihr Blick blieb bei einer älteren Frau hängen, die nach jemandem Ausschau hielt. Sie war aber zu schlank für Leandras Beschreibung.

Ein junger Mann starrte sie unverwandt an. Naomi drehte ihren Kopf weg, verzog das Gesicht und sah sich weiter auf dem Bahnsteig um. Sie empfand es als unangenehm, dermaßen angestarrt zu werden. Sie unterdrückte den Impuls, dem Kerl, wie ein kleines Mädchen, einfach die Zunge herauszustrecken, um ihm zu zeigen, was sie davon hielt.

Leandra streckte die Hand in die Luft und winkte. Sie musste Emma entdeckt haben. Naomi drehte sich um und sah in das Gesicht der Frau, die vorher in ihre Richtung geblickt hatte. Sie kam auf sie zu, lächelte breit und umarmte Leandra. Der junge Mann schien inzwischen verschwunden zu sein.

Leandra und Emma plauderten, während Naomi hinter den beiden herging.

Nachdem sie im Wagen saßen und über eine Schnellstraße fuhren, fragte Leandra, ob Emma ein Bed and Breakfast reserviert habe.

Emma verneinte. »Wozu besitze ich ein Gästezimmer? Wir haben uns so lange nicht gesehen.«

»Emma, wir werden dir fürchterlich auf die Nerven gehen«, erwiderte Leandra.

Naomi zuckte zusammen, als sie hörte, sie müssten bei Emma schlafen.

»Warum solltet ihr? Ich freue mich. Endlich kann ich wieder jemanden verwöhnen. Ihr könnt auch kommen und gehen, wie ihr möchtet, und mein Auto brauche ich nur selten.«

Leandra seufzte. »Also gut. Nachdem du dich darauf eingestellt hast, bleiben wir gerne für ein paar Tage. In der Zwischenzeit suchen wir uns eine günstige Unterkunft in der Nähe. Aber deinen Wagen fahre ich bestimmt nicht, nachdem hier alle auf der falschen Seite unterwegs sind.« Sie grinste verlegen. »Das letzte Mal, als ich in England mit dem Auto auf Achse war, ist gut und gerne zwanzig Jahre her.«

Emma lachte. »Ach was, an den Linksverkehr gewöhnt man sich schnell wieder. Wir sind gleich da. Ich habe uns auch etwas zu essen vorbereitet.«

Es berührte Naomi unangenehm, im Haus einer Fremden wohnen zu müssen. Ohne Privatsphäre. Nachdem es sich bei dieser um Leandras Freundin handelte, und sie sich lange nicht gesehen hatten, schwieg Naomi. Sie wollte sich Leandra später vorknöpfen; wenn sie alleine im Zimmer waren.

Naomi sah aus dem Fenster. Sie hatte gehofft, etwas von der Innenstadt zu sehen, doch außer den Häuserdächern entlang der Schnellstraße sah sie nicht viel. Nach weiteren fünfunddreißig Minuten überquerten sie, kurz vor Richmond, eine Brücke, und sie erhaschte einen raschen Blick auf die Themse. Emma bog noch einige Male ab und fuhr in eine kleine Straße mit roten Klinkerbauten, deren Eingänge und Fenster sich einer Grünzone zuwandten. Dort stellte sie den Wagen ab.

Auch hier sahen die Häuser nahezu identisch aus. Die gleichen Haustüren, die gleiche Größe, sogar die gleichen Schornsteine. Wären keine Hausnummern angebracht, hätte man vielleicht mit viel Glück nach einem Blick durch eines der Fenster erkannt, ob man am richtigen Haus angelangt war.

»Da wären wir. Es liegt zwar etwas außerhalb, dafür aber ruhig. Den Londoner Trubel hatte ich gründlich satt.« Emma öffnete die Fahrertür.

Naomi und Leandra stiegen ebenfalls aus. Naomi sah sich um. Die Grünzone schien der Beginn eines Parks zu sein. Die Umgebung würde sie morgen nach dem Anwaltstermin erkunden. »Wie viele Parks gibt es hier in der Gegend? Ich jogge jeden Tag und hatte schon befürchtet, hier nicht dazu zu kommen.«

Emma wandte sich um. »Der Richmond Park ist gleich um die Ecke. Man kann allerdings nur tagsüber hinein, abends ist der Zutritt verboten. Zwei Kilometer weiter bei Kingston liegen noch Bushy Park und Home Park. Mit dem Bus kommt man ganz gut hin. Aber der Richmond liegt ja direkt vor der Tür. Nur die Straße hoch bis zur Queens Road, und schon bist du da. Morgen zeige ich euch den Weg.« Emma zerrte eine Tasche aus dem Kofferraum. »So, jetzt kommt aber rein. Ich schiebe schnell die Lasagne in den Ofen, und dann will ich erfahren, was du die letzten Jahre so getrieben hast.«

 

Gegen elf Uhr lag Naomi im Bett und wartete, bis ihre Großmutter aus dem Badezimmer kam. Emma war nett und zuvorkommend. Trotzdem wollte Naomi dort nicht lange wohnen bleiben. Spätestens, sobald sie die Unterlagen in Händen hielt, sollte sich niemand mehr in ihrer Nähe aufhalten, der seine Nase in die Dokumente stecken konnte; und sei es nur durch Zufall.

Sie hörte, wie Leandra auf dem Gang Emma eine gute Nacht wünschte. Die Schlafzimmertür öffnete sich, und Leandra stand im Nachthemd vor ihr mit ihrem Kulturbeutel in der Hand. »Emma scheint es gut ergangen zu sein. Sonst könnte sie sich kein Haus in Richmond leisten. Es muss ein Vermögen wert sein.« Leandra cremte sich die Hände ein. »Und sie ist schlanker als früher, aber sonst hat sie sich überhaupt nicht verändert. Gut, sie ist ein bisschen älter geworden, aber wer ist das nicht? Mit ihren blond gefärbten Haaren sieht man es ihr kaum an.«

Naomi wartete, bis Leandra sich neben sie in das Doppelbett gelegt hatte. »Dir ist aber schon klar, dass wir hier nicht wohnen bleiben können.«

»Warum nicht?« Leandra zog sich die Bettdecke bis zum Kinn. »Sie freut sich doch so. Und in Richmond können wir keine Unterkunft für mehrere Wochen bezahlen.«

»Oma, wir sind hier nicht auf Urlaub!« Naomi setzte sich auf. »Was, wenn sie die Unterlagen in die Finger bekommt?«

»Warum sollte sie? Emma ist nicht neugierig, also wird sie auch nicht einfach in unser Zimmer gehen und herumstöbern.«

»Neugierig oder nicht. Ich habe dabei kein gutes Gefühl.« Naomi trank einen Schluck Wasser, bevor sie das Licht löschte. »Versprich mir, dass wir umziehen, sobald wir die Dokumente abgeholt haben.«

Leandra brummte. Naomi wertete es als Zustimmung. Sie rollte sich zusammen und starrte in die Dunkelheit. Morgen Mittag hätten sie den Schlüssel, und je nachdem, wie Mr. Thursfield reagierte, könnten sie gleich zur Bank fahren. Anschließend war immer noch Zeit, sich mit dem Thema Quartierwechsel zu beschäftigen. Naomi schloss die Augen und war wenige Minuten später eingeschlafen.