Dreizehn

 

Naomi ließ das heiße Wasser über ihren Körper prasseln. Ihre eiskalten Füße begannen zu kribbeln, die Kratzspuren an ihren Beinen brannten. Ihre Gedanken kreisten um die vergangene Nacht, die ihr immer noch surreal vorkam.

Wie hatte sie ihre Großmutter Leandra verspottet, als diese versucht hatte, ihr die Geschichte zu erklären und sie auf eine solche Situation vorzubereiten. Niemals hätte sie es für möglich gehalten. Ihre Urgroßmutter war ein Katzenmensch; sie selbst war ein Katzenmensch. Und sie war nicht alleine. Sie trocknete sich ab, schlüpfte in den Jogginganzug und die flauschigen Socken. Ihre innere Ruhe befremdete sie. Keinen Moment lang hatte sie sich unwohl in diesem ungewohnten Körper gefühlt. Erschrocken, ja; aber nicht unwohl. Sie warf das Handtuch unter das Waschbecken und ging durch den schmalen Flur ins Wohnzimmer.

»Besser?« Kai schob ihr über den Couchtisch eine Tasse Tee hinüber.

Naomi nickte und griff danach. »Meine Oma wollte mich warnen, aber ich habe ihr nicht zugehört.«

»Deine Oma ist wie wir?«, fragte Kai.

Naomi schüttelte den Kopf. »Sie nicht. Ihre Mutter.«

Kai seufzte. »Dann dürfte sie gar nichts wissen. Es ist gefährlich. Für sie und für uns.«

»Warum? Sie wollte mich schützen. Ihre Mutter wäre beinahe umgekommen, als sie das erste Mal in den Wald lief.« Naomi zog die Beine an und legte ihr Kinn auf den Knien ab.

Kai beugte sich nach vorn und sah Naomi fest in die Augen. »Deswegen passt immer jemand auf die Neuen auf. Wie viel weiß sie? Was hat sie erzählt?«

Naomi dachte nach. Leandra hatte nicht viel erzählt. Sie hatte überhaupt kaum zugehört. Sie wusste nichts. »Nicht viel. Leandra folgte ihrer Mutter, also meiner Urgroßmutter Romina, in den Wald. Als kleines Mädchen. Kurz darauf verschwand Romina. Spurlos. Seither war meine Oma eine Überglucke mit merkwürdigen Vorahnungen. Sie hat meine Mutter eingesperrt, bis sie verheiratet und mit mir schwanger war. Als mein Vater ums Leben kam, sind wir umgezogen. Oma hat es dort nicht mehr ausgehalten. Überall witterte sie Gefahr. Sie meinte, unsere Familie sei verflucht. Auch mein Opa starb sehr jung. Das hat sie sehr mitgenommen. Deswegen durfte ich auch nirgendwo hin. Nie woanders übernachten. Regelrecht ausgeflippt ist sie, als ich abgeflogen bin und sie es nicht verhindern konnte.«

»Kluge Frau. Wann hat sie dir davon erzählt?« Kai lehnte sich in die Polster zurück.

»Kurz vor meiner Abreise.« Naomi stellte ihre leere Tasse auf den Tisch. »Meiner Meinung nach war Oma über Nacht senil geworden. Eine andere Vermutung war, dass sie solche Märchen erzählt, damit ich nicht weggehe.«

Kai stand auf und blieb im Türrahmen zur Küche stehen. »Was ist eigentlich heute Nacht passiert? Denk genau nach. Es ist wichtig.«

Naomi hörte Klappern aus der Küche. Ihr Magen knurrte. Bevor sie aufstand, kam Kai mit einem Korb Brot und einem Glas Marmelade zurück. »Ich hab noch Müsli.«

»Brot ist schon okay.« Naomi griff nach einer trockenen Scheibe und biss herzhaft hinein. »Ich würde im Moment alles verdrücken.«

»Also, was war los?« Kai öffnete die Margarine und bestrich eine Scheibe Brot. Nachdem er Kirschmarmelade darauf verteilt hatte, streckte er es Naomi hin.

Naomi lächelte. »An wirklich viel erinnere ich mich nicht. Schon in meinem Apartment fühlte ich mich nicht wohl. Auf dem Weg zu dieser Veranstaltung wurde es immer schlimmer. Es fiel mir schwer zu atmen. Im Hotel hielt ich es gar nicht mehr aus. Ich bin einfach abgehauen.« Sie biss ein Stück vom Marmeladenbrot ab. »Ich habe Roman einfach sitzen gelassen. Das verzeiht er mir nie.«

»Ach was, er wird dir schon verzeihen.« Kai schenkte Tee nach und beobachtete Naomi mit nachdenklichem Gesichtsausdruck. »Wie ging´s weiter?«

»Ich weiß nicht mehr, wie ich zur Lichtung kam. Und plötzlich war Sammy da.« Sie legte das angebissene Brot auf den Tisch. Der Appetit war ihr vergangen.

»Er war auf der Lichtung?«, fragte Kai.

Naomi schüttelte den Kopf. »Sammy war im Wald. Er wollte mich nicht erschrecken. Die Sache mit dem Sprechen hat er mir erklärt, und er wiederholte ständig, es sei nicht sicher auf der Lichtung wegen des feindlichen Clans.«

Kai sprang auf. Mit einer schwungvollen Handbewegung warf er das Brot auf den Tisch. Die Marmelade spritzte in alle Richtungen. »Diese miese Sau! Die Lichtung ist der einzig sichere Ort für uns. Er hat dich weggelockt, damit ich dich nicht vor ihm warnen kann!«

Naomi zuckte zusammen. »Er hat mir doch nichts getan. Nichts ist geschehen. Was regst du dich so auf?«

»Zum Teufel. Betäubt hat er dich!« Kai ging mit ausholenden Schritten im Wohnzimmer auf und ab. »Ich wüsste zu gerne warum.«

Naomi grübelte, ob sie etwas vergessen hatte. Nach den Pflanzen erinnerte sie sich an gar nichts. Sie war einfach müde geworden und eingeschlafen. Und später war Kai dort gewesen. Vielleicht hatte sich Sammy nur mit der Menge verschätzt und war in Panik geraten? Naomi sagte Kai, wie sie darüber dachte.

»Sammy und Panik. Diese verschlagene Ratte. Nein. Er hatte einen Grund dafür.« Kai blieb plötzlich stehen. »Ich dachte zwar, er sei alleine hier. Aber wer weiß, ob nicht doch noch jemand aus seinem Clan in der Gegend ist. Ich mag mir nicht vorstellen, was sie mit dir angestellt hätten, wenn ich dich nicht vorher gefunden hätte.«

»Kai«, unterbrach sie ihn. »Um was geht es hier eigentlich? Bekriegt ihr euch?«

»Was heißt hier ihr? Du steckst da mitten drin, Naomi. Du bist eine leichte Beute. Neu, unerfahren und keine Ahnung von nichts. Mit Mühe und Not kannst du geradeaus laufen. Selbst das fällt dir noch schwer.«

Kais Geschrei schüchterte Naomi ein.

»Du könntest tot sein!«

Sie sah auf ihre Fingernägel und von dort auf den Boden vor ihr. Dass sie schon wieder rot im Gesicht war, musste ihr niemand sagen. Die aufsteigende Hitze verriet es ihr ohnehin. Tot sein?, überlegte sie. Warum sollte sie jemand töten wollen? Sie hatte niemandem etwas getan.

Kai ging vor ihr in die Knie. »Es tut mir Leid. Ich bin laut geworden. Aber, ich mache das auch zum ersten Mal.«

Naomi presste die Lippen aufeinander und sah Kai an.

»Beinahe wäre alles schief gegangen. Ich hätte besser auf dich aufpassen sollen. Ausgerechnet in den paar Minuten, als ich den Wagen auf dem Hotelparkplatz abstellte, bist du mir entwischt.« Er nahm ihre Hand. »Naomi, es war verdammt knapp. Sammy ist ein Schwein.«

Naomi legte den Kopf schief. Sammy war ihr Freund. Immer war er für sie da gewesen. »Was hast du eigentlich gegen Sammy?«

Ihm entfuhr ein wütendes Schnauben. »Sammy ist ein Mörder. Ein hinterhältiger Mörder.« Er ließ ihre Hand los, bevor er aufstand. »Du kannst ihm nicht trauen.«

»Aber dir?« Nachdem Kai stand, erhob sie sich ebenfalls. Sie wollte ihm auf Augenhöhe begegnen. Sie kannte Sammy. Ihn kannte sie nicht. Kai konnte alles behaupten. Sammy war nicht hier, um sich zu verteidigen. In Erwartung heftiger Widerworte, verschränkte sie abwehrend die Arme vor der Brust. Den Blick fest auf ihn gerichtet, wartete sie ab.

Kai sank in sich zusammen, schlurfte zum Sofa, wo er wie ein alter Mann kraftlos in die Kissen sank. »Ja«, seufzte er. »Setz dich.«

Naomi blieb stehen. Die Stirn gerunzelt, überlegte sie, was nun kommen würde. Erst tobte er herum, und jetzt saß er hilflos auf dem Sofa. Sie konnte Kai nicht einschätzen. Seine Reaktionen waren unkontrolliert, und das ängstigte sie.

»Bitte.« Kai sah sie an. In seinen Augen entdeckte sie keine Aggression, nur Trauer. Er würde ihr nichts tun.

Naomi setzte sich auf die Sessellehne. »Ich sitze. Also?«

»Es ist schwieriger, als ich dachte.« Kai kratzte sich am Kopf. »Ich muss irgendwo anfangen.«

Naomi sah ihn ruhig an. Was wusste Kai? Konnte er ihr mehr über die Verwandlung erzählen? Um ihn nicht in seinen Gedanken zu stören, hielt sie sich zurück und schwieg. Später konnte sie immer noch nachfragen.

»Die Geschichte, die ich kenne, ist nicht vollständig. Ich kann dir nur das erzählen, was man mir damals gesagt hat. Offenbar weiß keiner mehr, wie wir zu dem wurden, was wir sind. Es gibt eine Legende. Aber wie das mit Legenden so ist ...«

Naomi rutschte von der Lehne in den Sessel. Die Beine baumelten über der Armstütze. Aufmunternd nickte sie Kai zu. »Sag einfach, was du weißt, okay?«

»Ursprünglich kommen wir wohl alle aus Südamerika. Andere behaupten auch, wir kämen aus Europa. Vor mehreren hundert Jahren wurde eine Familie verflucht. Ich habe versucht herauszufinden, woher dieser Fluch stammt und ob man ihn aufheben kann, aber keiner wusste etwas. Es ist ja sogar unklar, wo unsere Wurzeln liegen. Der Fluch betraf nur eine Familie. Eine Familie mit sieben Kindern. Die Kinder wuchsen heran, und jedes verwandelte sich irgendwann nach dem sechzehnten Geburtstag bei Vollmond in einen Panther. Zu Beginn der Verwandlung ähnelt die Statur eher einer größeren Wildkatze. So wie bei dir. Du bist noch sehr klein, aber das ändert sich mit der Erfahrung. Mit jeder Verwandlung wirst du größer werden. Du wirst an körperlicher Stärke und auch an Wissen zulegen. So können wir unterscheiden, wer Hilfe und Anleitung benötigt, und wer gut auf sich alleine achten kann.« Kai massierte sich die Schläfen. »Der eigentliche Fluch ist aber nicht die Verwandlung, sondern das Geheimhalten unserer Existenz vor der Außenwelt.«

Naomi verstand nicht. »Wenn es aber nur eine Familie betraf, was hat das dann mit mir oder mit dir zu tun?«

»Es ist viele hundert Jahre her. Damals betraf es nur diese eine Familie. Aber auch diese Kinder wurden erwachsen, verliebten sich, heirateten und bekamen Kinder, die mit demselben Fluch zu kämpfen hatten. Es bildeten sich sieben Clans, die zunächst in ihrer Heimat blieben. Aus Angst und Scham hielten sie den Fluch geheim. Die menschlichen Ehepartner hätten zu damaligen Zeiten den Verfluchten mit Sicherheit getötet. Die Menschen waren noch viel abergläubischer als heute, wo keiner mehr an Dämonen und Flüche glaubt. Denke nur mal an die Hexenverbrennung im Mittelalter. Unbequeme Menschen wurden einfach so verbrannt. Was glaubst du, was die Leute angestellt hätten, wenn sich jemand bei Vollmond in einen Panther verwandelt?«

Kai stand auf, um eine Flasche Wasser aus der Küche zu holen. Naomi atmete tief durch und wartete. Auf ihrer Stirn zeigte sich eine tiefe Falte, die sich immer bildete, wenn sie versuchte, ihre Gedanken zu sortieren. So sehr sie sich auch anstrengte, sie konnte sich nicht vorstellen, wie Roman reagieren würde. Er würde sie für verrückt erklären. Sie selbst hatte nicht daran geglaubt. Wie musste es für die Menschen damals gewesen sein? Sie hätten den Teufel persönlich vermutet. »Und trotzdem haben sie geheiratet? Das war leichtsinnig, oder nicht?«

Kai schenkte das Wasser in zwei Gläser. »Sie konnten nicht anders. Wir Katzenmenschen verlieben uns nur ein einziges Mal. Und das in einen normalen Menschen. Die Sehnsucht nach diesem Menschen ist so groß, dass wir das Risiko eingehen.«

»Wie meinst du das?« Naomi nippte an ihrem Wasser.

»Jeder von uns findet den einen Menschen, der zu ihm passt. Entweder wir wagen es zu heiraten und versuchen, unser Geheimnis zu wahren, oder uns wird immer der Sinn im Leben fehlen. Wir müssen sehr vorsichtig sein. Es gibt einige Regeln, die nicht gebrochen werden dürfen. Deine Urgroßmutter hat einen Verstoß begangen und euch in große Gefahr gebracht. Vielleicht ist sie deswegen verschwunden. Sie ging, um ihre Familie und sich selbst nicht zu gefährden. Vielleicht wurde sie aber auch getötet. Weißt du, wie dein Urgroßvater reagiert hat?«

Naomi überlegte. Das Gespräch war schon einige Wochen her, und sie rief sich jedes Detail in Erinnerung. »Leandra ist heute noch wütend auf ihren Vater, weil er nicht nach Romina gesucht hatte. Er kann seine Frau nicht sehr geliebt haben, ansonsten wäre ihm ihr Verschwinden nicht so gleichgültig gewesen.«

»Romina hat ihn geschützt. Und sich. Sie wollte nicht gefunden werden. Er muss geahnt haben, dass etwas nicht mit ihr stimmte. Vielleicht wusste er sogar alles. Als Romina ihn im Schlaf geküsst hat, war die Liebe weg und nur noch eine vage Erinnerung daran spürbar. Nur so kann man sich diese Reaktion erklären.«

Naomi sprang auf. »Der Kuss des Vergessens!«

»Das weißt du also auch?«, fragte Kai.

Naomi nickte. »Ja. Das kam mir aber so schräg vor, dass ich es ganz vergessen habe.«

»Vom Kuss des Vergessens gibt es verschiedene Überlieferungen. Bei manchen Menschen löscht dieser Kuss das komplette Gedächtnis an den Partner aus, bei anderen verursacht er ein Gefühl von Gleichgültigkeit. Es gab eine Mutter mit zwei Kindern. Sie küsste ihren Ehemann, nachdem er sie eines nachts beobachtet hatte und löschte mit dem Kuss fast alle Erinnerungen und Gefühle an sie aus. Seine Freunde fragten nach Frau und Kindern. Seine Antwort war nur, sie seien fortgegangen. Es schien ihm egal zu sein. Die Auswirkungen des Kusses hängen vermutlich mit den Gedanken zusammen, die wir in diesen Kuss legen.«

»Du hast den Kuss nie angewandt?« Naomi war neugierig geworden. »Warst du noch nie verliebt?« Der Gedanke, sich nur ein einziges Mal verlieben zu können, war ihr unheimlich. Sicher, es gab Menschen, die niemals ihr Herz verloren, aber es gab auch welche, die sich durchaus mehrmals ernsthaft auf einen anderen Menschen einließen. Wenn es ihr nur einmal möglich war, war Roman dann ihre einzige Liebe?

Kai räusperte sich. »Darüber möchte ich nicht reden.«

»Wie soll ich dir vertrauen, wenn du mir nur sagst, was dir in den Kram passt?«

»Dir bleibt keine Wahl, oder?« Kai sah sie eindringlich an. »Ich werde dir irgendwann meine Geschichte erzählen, aber nicht jetzt, okay?«

Naomi streckte sich. »Okay.« Ihre Muskeln schmerzten. »Aber eine Frage habe ich noch. Wir haben also nur eine Chance uns zu verlieben, richtig?« Naomi wartete auf Kais Bestätigung. Er nickte. »Was ist, wenn dieser Mensch unsere Liebe gar nicht erwidert, oder sogar stirbt? Was ist dann?«

»Dann wirst du ein Leben voller Trauer führen. Den Schmerz wirst du nicht überwinden. Er wird dich immer begleiten; und du wirst sehr alleine sein.«

Naomi sah den Schmerz in seinem Gesicht und erschrak. Kai wusste, wovon er sprach. Seine Trauer war greifbar. »Wir haben also nur eine Chance, um glücklich zu werden. Liebe heißt aber doch auch Vertrauen.« Naomi überlegte, wie sie das alles Roman erklären konnte. Welche Entschuldigung gab es schon, einfach so davonzulaufen? Die Wahrheit wäre eine Entschuldigung, doch die durfte sie ihm nicht sagen.

»Es gab schon mehrfach Verstöße gegen diese Regel. Doch es ging bisher immer schief. Am schlimmsten traf es ein ganzes Dorf. Irgendwann im sechzehnten Jahrhundert wurde die Jüngste eines Clans schwer verwundet von einem Menschen aufgefunden. Der Mann rettete ihr das Leben, obwohl er wusste, was sie war. Sie verliebten sich, heirateten. Andere Clanmitglieder akzeptierten diese Entscheidung, wenn sie auch nicht glücklich damit waren. Alles lief einige Jahre gut. Aber irgendwann kam ein Dorfbewohner dahinter. Danach war der Teufel los. Er hetzte über Werwesen im Dorf, ein Wechselbalg in Form einer schönen Frau, die bei Vollmond satanische Riten vollführe und so weiter. Auf jeden Fall ging der Mob auf die Jagd und löschte den kompletten Clan aus. Viele unschuldige Menschen starben, und mehrere unserer Verwandten wurden ebenfalls getötet. Einfach so. Sie hatten niemandem ein Haar gekrümmt. Ob der Ehemann im Rausch den Mund zu weit aufgerissen hatte oder ob es durch ein belauschtes Gespräch ans Licht gekommen war, weiß niemand. Es spielt auch keine Rolle. Der Preis war auf jeden Fall zu hoch. Seither gibt es nur noch sechs Clans. Wir müssen uns schützen. Es darf nie wieder so weit kommen.« Kai sah sie eindringlich an. »Das kannst du noch nicht wissen. Aber Liebe heißt nicht nur Vertrauen, sondern auch Verzichten.«

»Gab es deswegen Streit zwischen den Clans? Weil sich manche nicht daran gehalten haben? Eigentlich waren doch alle irgendwie miteinander verwandt. Da sollte man annehmen, dass der Zusammenhalt groß ist.«

»Nein. Soweit ich weiß, haben sich seither alle daran gehalten. Zumindest gab es keine solchen Gemetzel mehr. Es wurde auch beschlossen, dass derjenige, der sich nicht daran hält, vom Clan ausgeschlossen wird. Ohne Schutz und ohne Kontakt zum eigenen Clan ist ein Leben unmöglich. Es wäre, als müsste man ohne Familie leben.« Kai stand auf und ging wieder im Zimmer auf und ab. »Zur Feindschaft kam es durch einen Mord. Das konnte die Gemeinschaft nicht durchgehen lassen. Der Mörder wurde ausgestoßen. Anschließend hat er seine Nachfahren mit Hass auf unsere Sippe erzogen. Wie groß der neue Clan ist, weiß niemand. Damit gibt es eigentlich noch einen siebten Clan; unsere Feinde. Sie halten sich an keine Regeln und töten uns, sobald sie die Möglichkeit dazu haben. Angefangen hat alles mit einem jungen Kerl namens Neophar, der sich in ein Menschenmädchen aus der Nachbarschaft verliebte. Sie liebte aber dessen Bruder, ebenfalls ein Katzenmensch. Die beiden heirateten. Als sie schwanger wurde, drehte Neophar vor Eifersucht durch und erschlug die Frau, als sich sein Bruder mit den anderen Clanmitgliedern am geheimen Treffpunkt im Wald zur Verwandlung traf. Der Einzige, der dem Treffen fernblieb, war Neophar. Schnell war klar, was geschehen war. Neophar stritt die Tat auch nicht ab. Er litt und wollte seinen Bruder ebenfalls leiden sehen. Er gönnte ihm dessen Glück nicht. Der Clan beschloss Neophars Tod, doch der Bruder setzte sich durch. Er liebte Neophar und wollte seinen Tod nicht auf dem Gewissen haben. Er war immerhin sein Bruder. So kam es nur zur Vertreibung. Neophar sollte fortan alleine leben. Keiner konnte sich vorstellen, dass Neophar sich mehrere Frauen hielt, um Nachwuchs zu zeugen. Geliebt hat er keine. Seine große Liebe hatte er selbst getötet. Ihm ging es nur um die Vergrößerung seines eigenen Clans. In einer Vollmondnacht schwängerte er eine Jungfrau, was ihm angeblich sieben Leben einbrachte. Bis Neophar starb vergingen fast einhundert Jahre. Ob er tatsächlich so alt wurde?« Kai zuckte mit den Schultern. »Ich glaube es eigentlich nicht. Wobei? Es wird auch erzählt, dass es in unseren Reihen eine Kätzin gäbe, die schon mehr als hundert Jahre alt sei. Sie würde versuchen, unseren Clan zu schützen und unsere Feinde töten. Unvorstellbar. Es wäre ein einziges Leiden. Alleine. Verlorene Liebe, keine Familie, immer nur auf der Jagd. Vermutlich gehört beides zu den Legenden. Wie so vieles.« Kai seufzte. »Was aber Tatsache ist; in dieser Zeit vergrößerte Neophar den Clan. Immer wieder kam es zu merkwürdigen Todesfällen in unseren Reihen. Kaum hatte jemand von unserer Sippe geheiratet, wurde das Glück durch einen tödlichen Unfall zerstört. Es dauerte nicht lange, bis allen klar war, dass Neophar und sein Clan dahintersteckte. Sie wollen uns auslöschen.« Kai kratzte sich am Kopf, bevor er herzhaft gähnte und sich auf das Sofa setzte. »Um das zu verhindern, verstreuten sich die Clans auf alle Kontinente. Im Laufe der Jahrhunderte vermischten wir uns mit allen Rassen. Wir helfen uns gegenseitig, lernen so schnell es geht, um gegen die Sammys dieser Welt kämpfen zu können. Sollten wir unsere Liebe treffen, bevor wir vorbereitet sind, gehen wir ihr aus dem Weg, um sie zu schützen. Oftmals gelingt es, aber nicht immer.«

Kai brach die Erzählung ab. Naomi spürte, wie er sie fixierte. Ihr Blick blieb auf einen unsichtbaren Punkt der Tischplatte geheftet. Auch ohne weitere Erklärungen wusste sie, was er als Nächstes von ihr verlangen würde. Sie brachte Roman in Gefahr und sollte sich von ihm fern halten. Endlich liebte sie einen Mann aus tiefstem Herzen, und nun sollte sie ihn gehen lassen. Ihn fortstoßen. Aus ihrem Leben streichen. »Das kann ich nicht«, flüsterte sie.

»Naomi, du musst es tun. Sammy ist ein Nachfahre von Neophar. Er wurde mit Hass auf uns geboren und erzogen. Er wird alles tun, um euch zu zerstören. Warum er es noch nicht getan hat? Mangelnde Gelegenheit vielleicht; aber er wird es tun. Früher oder später. Vielleicht wartet er ab, bis du noch mehr liebst, um deinen Schmerz noch zu vertiefen. Er ist grausam. Wahrscheinlicher ist es aber, dass er schon längst einen Plan hat.« Kai stand vom Sofa auf. Er kam zu ihr, setzte sich auf die Armlehne und strich Naomi über das Haar. Schweigend kraulte er weiter. Es waren keine Worte mehr notwendig. Naomis Augen füllten sich mit Tränen, liefen über, und sie begann zu schniefen. »Und wenn wir Sammy töten?«

»So einfach ist es nicht. Wenn ich könnte, hätte ich es schon längst getan. Er geht mir aus dem Weg. Du bist noch viel zu schwach, und wenn ich ehrlich bin, ist er vermutlich sogar stärker als ich. Auf der Lichtung wird er es nicht wagen, uns anzugreifen. Er weiß nicht, ob ich noch andere aus unserem Clan zu Hilfe gerufen habe. Dort können wir ungestört trainieren. Du musst sehr schnell lernen, um besser zurechtzukommen. Sammy wird nicht lange fackeln.« Kai wischte Naomis Tränen von ihrer Wange. »Wir sollten uns ausruhen. Heute Nacht beginnt dein Training.«

Naomi nickte. »Kai. Hattest du Hilfe? War dein Vater oder deine Mutter wie wir?«

Kai schüttelte den Kopf. »Ich musste da auch alleine durch. Je mehr sich unser Blut mit dem der Menschen vermischt, desto seltener geben wir diese Gene weiter. Es überspringt immer mehr Generationen. Irgendwann sterben wir aus.« Er legte sich auf das Sofa, wickelte eine Decke um sich. »Im Grunde ist mir das egal. Es ist nämlich kein einfaches Leben. Und jetzt geh schlafen.« Er drehte den Kopf zur Seite. »Du kannst mein Bett haben.«

 

Bevor Kai sich wegdrehte, sah Naomi den Schatten, der sich über sein Gesicht gelegt hatte. Sie starrte auf Kais Hinterkopf. Kai war zwar bedeutend älter als sie, aber er sah gut aus, war nett und könnte mit Sicherheit Freunde finden. Er musste nicht alleine bleiben. Seine Trauer schien tief. Hatte er seine Liebe gefunden und wieder verloren? Warum? Eine Woge des Mitgefühls stieg in ihr auf. Zu gerne hätte sie nachgefragt. Seine Augen wirkten oft so traurig, so sorgenvoll. Gerade eben waren es nicht nur die Augen gewesen. Sein ganzes Gesicht hatte seine Qual verraten. Naomi verkniff es sich nachzufragen. Der Zeitpunkt war falsch. Das spürte sie. Auf Zehenspitzen schlich sie in Kais Schlafzimmer. Er sollte nicht wissen, dass sie nicht gleich das Wohnzimmer verlassen hatte. Im Schlafzimmer ließ sie die Tür einen Spalt offen stehen. Sie wollte nicht alleine sein. Zu viel war passiert. Unschlüssig blieb sie in der Mitte des Zimmers stehen.

Gestern war ihr einziger Gedanke das Fest am Abend gewesen. Das Kleid. Ihr Make-up. Jetzt lag das Kleid zerfetzt irgendwo im Wald. Sie war ein Katzenmensch. Sammy ein Feind. Roman in Gefahr. Wie konnte in nur so wenigen Stunden so viel passieren? Sie seufzte und schlurfte mit hängenden Schultern zum Bett, wo sie sich rückwärts auf die Matratze fallen ließ. Sie schlug die Hände vor die Augen. Hatte sie tatsächlich vorgeschlagen, Sammy zu töten? Was war nur in sie gefahren? Kai hatte geredet und geredet. Das alles brachte sie durcheinander. Und wenn Kai doch richtig lag, und Sammy schlecht war? Wozu hätte er ihr aber helfen sollen, die Prüfung zu bestehen? Er hätte sie einfach irgendwo umbringen können. Tausend Gelegenheiten hätte er gehabt. Sie waren alleine in den Wäldern unterwegs gewesen. Die nächtlichen Fahrten nach Hause. Unzählige Male hätte er ihr etwas tun können. Hatte er aber nicht. Naomi knetete das Kissen zu einer Kugel. Sie rollte sich auf die Seite, drückte ihren Kopf in die Federn und schlug mit der Faust auf die Matratze. Warum musste ausgerechnet jetzt alles um sie herum kaputt gehen?

 

*

 

In dieser Nacht hatte Sammy Naomi nur widerwillig in der Höhle zurückgelassen. Er war noch nicht fertig mir ihr. Trotzdem war ihm keine andere Wahl geblieben. Nachdem er sich an ihr vergangen hatte, fühlte er sich schwach und verkroch sich im Wald. Er konnte nicht riskieren von Kai oder einem seiner Freunde so hilflos aufgefunden zu werden. Die plötzliche Schwäche brachte ihn in Gefahr.

Die restliche Nacht verbrachte er hoch oben auf einem Baum, wo er in Sicherheit war. Ihm war abwechselnd heiß und kalt. Er fühlte sich zittrig und unsicher. Es dauerte bis zum Morgengrauen, bis er seine Stärke wiedergewann. Sie wuchs langsam. Er wusste nur durch die Überlieferung von der Möglichkeit, sieben Leben und ewige Jugend zu erlangen. Mit keinem Wort hieß es, was die Erlangung dieser Leben mit seinem Organismus anstellte. Mehrfach würgte er. Niemals hätte er damit gerechnet, sich so lausig und schwach zu fühlen. Sein Fell zuckte unkontrolliert, und seine Augen verloren an Sehkraft. In seinem Kopf hämmerte es unaufhörlich, bis er im Geäst ohnmächtig zusammenbrach.

Das Erste, was er vernahm, war der Ruf eines Käuzchens. Sammys Körper war verspannt; er streckte sich. Er vergaß dabei, dass er auf einem Ast lag und kam ins Rutschen. Instinktiv schlug er seine Krallen in die Rinde und fand wieder halt. Er sah sich um. Seine Augen sahen wieder scharf, und er entdeckte die Schleiereule über sich. Durch seine Bewegungen aufgescheucht, breitete sie die Flügel aus und verschwand in der Dunkelheit.

Sammy durchflutete eine angenehme Wärme. Eine unbekannte Kraft durchströmte ihn. Er hatte es geschafft. Die Schwäche hatte sich in Stärke verwandelt. Er kletterte vom Baum. Nun konnte Sammy in Ruhe nach Naomi suchen, sollte sie den Platz die Höhle verlassen haben. Auf leisen Pfoten schlich er hinein. Sie war leer. Kai hatte Naomi also gefunden. Es war auszuschließen, dass Naomi alleine zur Lichtung gefunden hatte. So gut konnten ihre Fähigkeiten nach einer Nacht nicht ausgebildet sein. Er knurrte leise, drosch vor Wut auf einen Stein ein, bevor er zur Lichtung aufbrach.

Die aufgehende Sonne erhellte den Himmel. Nachdem er gesehen hatte, wie Kai und Naomi dabei waren sich unter die Ulme zu legen, zog er sich geräuschlos zurück, um sich einen sicheren Platz für seine Verwandlung zu suchen. Um die beiden würde er sich später kümmern.

 

Während des ganzen Vormittags versuchte Sammy, diesen Typen Dave zu finden. Bei dem Wettkampf waren ihm dessen Blicke auf die Zuschauertribüne nicht entgangen. Nur deshalb hatte Naomi beim Basketball gewinnen können. Zuerst hatte Sammy nichts Außergewöhnliches entdecken können; erst, als er spürte, dass Kai in der Nähe war, war ihm aufgefallen, dass dieser sich mit einer dunkelhaarigen Frau unterhielt, was diesen Dave ganz offensichtlich aus der Fassung brachte. Er musste herausfinden, warum Kai sich für diese Frau interessierte.

Nachdem Sammy drei Runden über den Campus gedreht hatte, entdeckte er Dave auf dem Basketball-Platz. Dave trainierte alleine. Er dribbelte den Ball, warf ihn ins Netz. Die Lippen fest zusammengekniffen, dunkle Schatten unter den Augen und eine beinahe greifbare Wut, verrieten seine Stimmung. Sammy täuschte sich nicht. Mit einem heftigen Wurf donnerte er den Ball gegen die Holzplattform, an der das Netz befestigt war. Der Ball prallte zurück, und Dave gab ihm einen Tritt, bevor er in die Knie ging; die Arme auf seine Beine gestützt, den Blick auf seine Schuhe gerichtet.

Sammy schlenderte über den Platz. Er nahm den Ball in die Hände, dribbelte ihn auf dem Boden und ging auf Dave zu, der immer noch zusammengekauert auf seine Schuhe starrte. »Hey. Alles okay?«

Dave sah auf. Sein Blick verriet Abwehr. Sammy zuckte mit den Schultern und warf Dave den Ball zu. Um ihn nicht an den Kopf zu bekommen, fing Dave ihn auf. Er legte ihn desinteressiert zwischen seinen Füßen ab.

»Sorry, ich wollte nicht stören. Bin schon wieder weg.« Sammy drehte sich um.

»Du kannst den Platz haben. Ich bin fertig für heute«, sagte Dave.

»Alleine spielen macht keinen Spaß. Vielleicht klappt es ja ein anderes Mal.« Sammy gab sich uninteressiert und ließ Dave auf dem Platz zurück.

Um ihn trotzdem im Auge behalten zu können, setzte sich Sammy auf eine Holzbank vor dem Platz. Eine Wochenendzeitung lag darauf. Perfekt. Er schnappte sie und beobachtete Dave über den Rand der Zeitung hinweg. Hoffentlich ist er noch auf dieses Mädchen scharf, dachte er. Kai wäre heute mit Naomi beschäftigt, also würde er sich um Kais kleine Freundin kümmern können. Mit etwas Glück führte dieser Trottel Dave ihn direkt zu ihr.

Sammys Warten wurde belohnt. Dave verließ den Platz und ging mit eiligen Schritten in Richtung der Apartments, wo einige der Tutoren untergebracht waren, die nur für ein Semester an der Uni unterrichteten. Die dunkelhaarige Frau war mit Sicherheit keine Studentin mehr. Sammy klemmte sich die Zeitung unter den Arm und spazierte hinterher. Es bestünde natürlich die Möglichkeit, dass Dave selbst dort wohnte, doch wahrscheinlicher schien ihm, dass er zu dieser Frau wollte. Sein flotter Schritt sprach dafür.

Sammy ließ sich zurückfallen. Daves Schritte hatten sich verlangsamt, als würde er zögern, das Haus zu betreten, vor dem er stehen geblieben war. Er starrte nach oben. Den Blick in die Höhe gerichtet, veränderte sich seine Körperhaltung. Die Schultern sackten nach vorn, die Spannung wich aus seinem Körper.

Die Haustür öffnete sich. Die dunkelhaarige Frau verließ den Block. Sofort entdeckte sie Dave. Die Frau ging auf ihn zu, sprach leise auf Dave ein und zog ihn am Arm mit zu einer Bank. Sie setzten sich. Sammy konnte sich den Inhalt des Gesprächs schon allein durch die Gesten zusammenreimen. Dave redete auf sie ein und gestikulierte wild. Sie saß da, sprach nicht viel, zuckte hilflos mit den Schultern und schüttelte den Kopf. Daves Handbewegungen wurden langsamer, bevor er seine Hände auf die ihren legte. Sie zog ihre behutsam unter seinen hervor, legte sie um sein Gesicht, bevor sie aufstand und ihn alleine auf der Bank zurückließ.

Sammy folgte ihr. Er überlegte. Was hatte Kai mit dieser Frau zu schaffen? Kais Freundin Cassidy war blond. Kai hatte sie vor sechs Jahren in Arlington verlassen. Lange hatte Sammy gewartet, ob Kai wieder in der Stadt auftauchen würde, um wieder Kontakt zu ihr aufzunehmen. Er hatte es nicht getan. Nach einem Jahr hatte Sammy das Interesse an ihr verloren und selbst Arlington verlassen. Dort war es ihm zu langweilig geworden.

Hatte Kai eine neue Freundin? Eigentlich unmöglich. Das dunkle Haar der Fremden leuchtete in der Sonne. Er musste ihr Gesicht sehen. Wenn Kai tatsächlich mit ihr ausging, könnte er ihm heimzahlen, dass dieser Naomi aus der Höhle geholt hatte.

Sammy folgte der Fremden bis in eine Bäckerei. Der Verkäufer packte ihre Bestellung in eine Tüte. Sie zahlte, drehte sich um. Sammy blickte in ein bekanntes Gesicht; feine Gesichtszüge, hellblaue Augen, sanft geschwungene Lippen. Cassidy. Kais alte Freundin.