Sieben

 

Naomi schlüpfte in ihre Jogginghose. Immerhin konnte sie den großen Bluterguss an ihrem Oberschenkel dadurch verdecken. Aber ihr Gesicht? Unschlüssig blickte sie in den Spiegel. Überschminken? Unmöglich. Sie musste wohl oder übel die Blicke auf dem Campus über sich ergehen lassen. Sie straffte die Schultern und band sich entschlossen die Haare im Nacken zusammen. Sie ins Gesicht zu kämmen würde nur lächerlich aussehen. Es gab keinen Grund, sich zu schämen. Trotzdem war es Naomi unangenehm, sich nicht unauffällig auf dem Campus bewegen zu können. Naomi griff nach der Sonnenbrille, warf sich die Sweatshirt-Jacke über, zog sich die Kapuze tief in die Stirn und verließ ihr Zimmer.

Auf dem Campusgelände sah sich Naomi suchend um. Wo zum Teufel war dieser verdammte Vorlesungssaal? Der Weg musste stimmen. Ihr Orientierungssinn ließ sie doch sonst nie im Stich. Sie zog den gefalteten Plan aus der Hosentasche, warf einen Blick darauf und eilte über die Treppe hinauf in Richtung des Hauptplatzes. Von dort aus sollte der Unisaal rechter Hand liegen. Mit jeder genommenen Stufe rutschte ihr die Umhängetasche von der Schulter. Mit dem Plan in der rechten Hand griff sie nach dem Gurt und verhinderte gerade noch, dass die Tasche zu Boden fiel. Obwohl der Plan Naomi nur kurz die Sicht nahm, reichte dieser Moment aus, um ihren Lauf jäh zu stoppen. Sie prallte gegen eine menschliche Wand. Naomi wurde zurückgeworfen. Sie verfing sich zwar am Treppengeländer, was den Sturz etwas minderte, dennoch zog sie die Schwerkraft unaufhaltsam nach hinten. Sie landete auf dem Hintern; die Beine treppaufwärts ausgestreckt; die rechte Hand am Geländer festgeklammert. Die Tasche rutschte über ihre linke Schulter, und der Inhalt purzelte die Treppenstufen hinab. »Verdammt noch mal! Kannst du nicht aufpassen«, fauchte Naomi.

Der Typ, der um die Ecke des Platzes gebogen war, starrte sie erschrocken an. »Warte. Ich helfe dir hoch.« Er stieg die Stufen hinab, stellte sich hinter sie und half ihr auf die Beine.

Naomi stöhnte leise auf. Durch ihr rechtes Bein zuckte ein brennender Schmerz. Naomi biss die Zähne zusammen. Sie schloss für einen Moment die Augen, um das Pochen in ihrem Bein ertragen zu können.

»So schlimm?« In seinen Augen lag Mitgefühl. Er bückte sich und reichte ihr die Sonnenbrille, die ihr von der Nasenschiene gerutscht war. »Soll ich dich auf die Krankenstation begleiten?« Mit versöhnlichem Gesichtsausdruck reichte er Naomi die aufgesammelten Hefte und Stifte. »Hat dir schon mal jemand gesagt, dass man nicht wie der Teufel um Ecken rennt?«

»Hat dir schon mal jemand gesagt, dass man Leute, die um Ecken biegen, nicht einfach die Treppen hinunterstößt?« Naomi schnappte nach ihren Sachen und stopfte sie zurück in die Tasche. Sie funkelte ihr Gegenüber wütend an.

»Nur, um eines klar zu stellen. Ich habe dich nicht gestoßen. Ich habe versucht, nach deinem Arm zu greifen, um zu verhindern, dass du fällst.«

»Das muss ich wohl übersehen haben«, meckerte Naomi, die wusste, dass der Zusammenstoß ihre Schuld gewesen war. Doch zugeben würde sie das niemals.

Der Typ grinste schief. »Das könnte daran gelegen haben, dass du dir nicht nur deine Kapuze bis zur Nasenspitze gezogen hattest, sondern dir die letzte freie Sicht noch mit irgendwelchen Papieren genommen hast.« Er steckte ihr die Hand hin. »Roman Barton.«

»Naomi Roberts.« Sie drückte seine Hand. »Sorry, dass ich dich angebrüllt habe.« Naomi rieb sich verlegen den rechten Oberschenkel.

Roman sah sie einen Moment forschend an. »Geht´s, oder soll ich dich doch zum Arzt bringen? Dein Bein scheint verletzt zu sein.«

Naomi schüttelte verneinend den Kopf. »Das ist es schon seit Freitag.«

»Lass mich raten. Ein Treppenunfall?« Er zeigte auf ihre Nase. »Oder doch voll gegen die Wand?«

Naomi lachte kurz. »Das trifft es besser.« Romans lockere Art lag ihr. Spöttische Augen, breites Grinsen, energisches Kinn. Wäre seine Nase nicht ein wenig zu groß und gebogen, hätte er noch besser ausgesehen. Vielleicht sieht er aber genau wegen dieser außergewöhnlichen Nase so interessant aus, dachte sie.

Seine braunen Augen blitzten amüsierst. »Jetzt weiß ich, wer du bist. Du bist die Sportstudentin im Austauschprogramm. Robert hat mir eben von dir und der Prüfung erzählt. Falls du in seine Vorlesung wolltest; die hat vor fünf Minuten angefangen.«

Naomi presste die Lippen zusammen. »Na, super. Das hat mir noch gefehlt.«

»Robert wird dich nicht gleich fressen. Eigentlich ist er ein feiner Kerl. Der tut nur so grob.«

Naomi nickte. Sie drehte sich zum Gehen um. Der Kloß in ihrem Hals wurde immer dicker. Warum brachte sie keinen Ton heraus? Sie war doch sonst nicht schüchtern.

»Bis bald, und pass auf dich auf, ja?«

Sie fühlte sich von Romans Blick durchbohrt, obwohl er sie nur freundlich ansah und lächelte. Sie räusperte sich. »Mach ich.« Naomi spürte, wie Roman ihr nachblickte, als sie über den Platz humpelte. Sie widerstand der Versuchung, sich nochmals nach ihm umzudrehen.

 

*

 

Naomi öffnete die Tür zum Vorlesungssaal nur einen kleinen Spalt, um unbemerkt hineinzuschlüpfen. Geräuschlos ließ sie die Tür zugleiten.

»Ach, Miss Roberts erweist uns doch noch die Ehre.« Robert zog missbilligend eine Augenbraue nach oben.

Naomi ließ sich auf einem Platz direkt neben dem Eingang nieder. Die weiteren Sitzreihen lagen unter ihr. Sie waren voll besetzt. Alle drehten sich nach ihr um und starrten zum Eingang hoch. Sie merkte, wie sie puterrot anlief.

»Wir unterhalten uns nach der Stunde«, fügte er trocken hinzu.

Naomi schlug die Augen nieder. Sie wollte nur noch die Vorlesung hinter sich bringen. Langsam wich die Hitze aus ihrem Gesicht. Sie hob den Blick und suchte den Saal nach Alice ab. In der vierten Reihe entdeckte sie sie. Alice hatte die Prüfungen also ebenfalls geschafft.

Nach der Stunde humpelte Naomi die Stufen hinab, bis sie vor Roberts Schreibtisch stehen blieb, um die bevorstehende Standpauke über sich ergehen zu lassen. Er musterte sie aufmerksam. Sein strenger Blick wurde etwas sanfter. »Noch Schmerzen?«

Naomi schüttelte den Kopf. »Geht schon wieder.«

Robert brummte. »Da dein Training ausfällt, verlange ich, dass du wenigstens zu den Vorlesungen pünktlich kommst. Ansonsten gibt es Sonderaufgaben, bis dir die Finger brechen! Du hast ein Stipendium und kannst nicht einfach kommen und gehen, wie es dir passt. Ich will nicht, dass dieser Stipendienplatz an jemanden vergeudet wird, der sein Studium nicht ernst nimmt und es als halbjährigen Urlaub ansieht. Verstanden?«

Naomi sah auf ihre Schuhe. Sie kämpfte die aufsteigenden Tränen nieder. Sie wusste, sie hätte pünktlich sein müssen. Sie wusste auch, dass sie mit Ausreden nicht weiterkommen würde. »Verstanden. Es wird nicht mehr vorkommen.«

Robert trat einen Schritt auf sie zu. Er fasste ihr unter das Kinn und hob ihren Kopf an. »Hübsch. Wirklich hübsch. Und nun geh, sonst kommst du auch noch zur nächsten Vorlesung zu spät.«

Naomi bemerkte sein schiefes Grinsen. Er war ihr nicht wirklich böse. Er brüllte nur gerne herum. Roman Barton hatte Recht. Robert war kein schlechter Kerl. Sie humpelte die Treppe nach oben zum Ausgang.

Alice wartete neben der Tür auf sie. »Wow, hübsches Make-Up.« Alice griff nach Naomis Tasche. »Ich wollte dich anrufen. Aber ohne Telefonnummer ...«

Naomi hängte sich bei Alice ein. »Kein Problem. Ich wollte sowieso nur meine Ruhe haben. Der Umzug ins Wohnheim war anstrengend genug.«

»Ich hätte dir helfen können.«

Naomi lächelte dankbar. »Das ist lieb. Sammy hat mir geholfen. Du erinnerst dich an ihn?«

Alice nickte. »Du hast heute übrigens wirklich was verpasst. Das kann ich dir sagen.«

Naomi zog eine Augenbraue hoch.

Alice seufzte. »Roberts Freund ist einfach ...« Alice machte eine theatralische Geste. »Einfach nur wow.«

Naomi schwieg und wartete auf den weiteren Bericht.

»Er muss ein Gastdozent sein. Nicht zu jung, nicht zu alt. Genau richtig. Knackiger Hintern in stylischen Jeans, rosafarbenes Hemd. Ich hätte niemals geglaubt, dass ich einen Typen in einem rosa Hemd sexy finden würde.«

»Rosa Hemd?« Naomi grinste breit. »Wegen diesem Kerl bin ich zu spät gekommen.«

»Was? Du kennst ihn?« Alice blieb stehen und fasste Naomi an den Schultern. Alice starrte sie aufgeregt an. »Erzähl. Sofort!«

»Er heißt Roman Barton. Und er rannte mich auf der Treppe draußen über den Haufen. Viel mehr gibt es nicht zu sagen.« Naomi zog Alice mit sich. Sie wollte nicht schon wieder zu spät kommen; noch weniger wollte sie über Roman Barton sprechen, der ihr die vergangene Stunde nicht aus dem Kopf gegangen war. Seine spöttischen Augen spukten immer wieder durch ihre Gedanken.

»Gib´s zu, der Typ ist heiß. Und jetzt möchte ich jedes kleinste Detail wissen.«

 

Mit Alice im Schlepptau kehrte Naomi nach den Vorlesungen ins Wohnheim zurück. Sie wollten bei einer Tasse Kaffee noch ein bisschen quatschen. Alice pfiff durch die Zähne. »Wenn da mal nicht dein Verehrer auf dich wartet.«

Naomis Herz machte einen Sprung. Sie folgte Alices Blick. Vor dem Eingang hockte Sammy auf der obersten Treppenstufe. Ihre Aufregung ging in Enttäuschung über. Hatte sie tatsächlich geglaubt, Roman dort zu sehen? Sie schüttelte ungläubig den Kopf. Was war nur los mit ihr? Roman. Den ganzen Tag über war er durch ihre Gedanken gegeistert. Alice hatte durch ihre Begeisterung für ihn noch dazu beigetragen. Dabei kannte sie ihn doch gar nicht. Sie winkte Sammy zu.

»Verschieben wir unseren Hühnerabend?«, schlug Alice vor.

Naomi gluckste. »Wo denkst du hin? Sammy ist nur ein Freund. Kein Grund, unsere Pläne zu verschieben.«

»Klar. Darum hast du ihn auch geküsst, nicht?« Alice blieb stehen und scharrte mit dem Fuß. »Warum lerne ich nie so tolle Typen kennen?«

Naomi grinste breit. »Wenn dir Sammy gefällt, lass uns doch einfach zusammen etwas unternehmen!« Das Glitzern in Alices Augen verriet, wie sehr ihr dieser Gedanke gefiel. »Wir sind wirklich nur Freunde. Er hat mir aus der Klemme geholfen, ansonsten ist echt nichts zwischen uns.« Naomi ging auf Sammy zu. »Hey, komm schon!« Alice schlich hinter Naomi her.

»Sammy, was machst du denn hier?«

»Nach deinem ersten Tag fragen. Na, wie lief´s?« Sammy stand auf und eilte auf Naomi zu. »Du siehst immer noch aus wie nach einem Boxkampf.«

Naomi quittierte den Kommentar mit einem Schulterzucken. »Du erinnerst dich bestimmt an Alice.«

Sammy küsste Naomi sanft auf die Wange, bevor er sich zu Alice drehte. »Klar, die Notfallschwester.« Er schenkte ihr ein schelmisches Lächeln.

Alice strahlte Sammy an. Naomi bemerkte Alices leuchtende Augen. Sie war tatsächlich in Sammy verschossen. Auf diese Idee wäre sie nie gekommen, zumal Alice heute nur von Roman geschwärmt und kein Wort über Sammy verloren hatte. Sie betrachtete ihre beiden Freunde. Das wäre die Lösung. Sammy müsste sich nur noch für Alice interessieren. Dann müsste sie ihn nicht vor den Kopf stoßen, weil sie in ihm nur einen Freund sah.

»Wollen wir etwas essen gehen?«, schlug Naomi vor. Alice nickte begeistert, während Sammy ihr einen Blick zuwarf, den sie nicht zu deuten wusste. Trotzdem stimmte er zu und schlug die Pizzeria in der Innenstadt vor.

 

Naomi ging auf den Eingang zu und versuchte ihren Zusammenstoß mit Roman nachzuahmen, was Alice zu einem Lachanfall reizte. Sammy verdrehte die Augen und grinste breit, als sie mit ungelenken Bewegungen am Treppengeländer des Restauranteingangs hing und sich vor Lachen bog. Nun fand sie die Situation eher lustig als peinlich. Aber es waren zwischenzeitlich auch Stunden vergangen. Sie ging rückwärts die letzte Stufe nach oben und sah nach unten zu Sammy, der plötzlich die Augen aufriss.

»Vorsicht!«, schrie er.

Zu spät. Naomi bekam die Tür in den Rücken, hüpfte eine Stufe nach unten und stand sicher auf beiden Beinen. Sie prustete los vor Lachen. Beinahe wäre sie an diesem Tag zum zweiten Mal gestürzt. Amüsiert drehte sie sich um und starrte direkt in blitzende braune Augen; in Romans Augen.

Naomi schluckte trocken. Er hielt ihr galant die Tür auf. Seine Lippen umspielte ein Lächeln. »Darf ich dich bis zu einem Tisch bringen? Nur, um sicherzugehen, dass du auch tatsächlich an einem Stück dort ankommst.«

Naomi versank in seinen Augen. Sie legte den Kopf leicht schräg, bevor sie die Stufe nach oben stieg und sich bei Roman unterhakte. »Du meinst wohl, bevor du mich wieder übersiehst und ein drittes Mal die Treppen hinabstößt.«

Roman wartete kurz, bis Sammy an der Tür war, um sie Alice aufzuhalten und ging anschließend in den Innenraum vor. Er zog einen Stuhl vom Tisch, ließ Naomi Platz nehmen und flüsterte ihr leise zu. »Ich glaube kaum, dass man dich übersehen kann.« Roman zwinkerte ihr zu, rückte ihr den Stuhl zurecht und verabschiedete sich.

Alice ließ sich auf den Stuhl neben Naomi plumpsen. Sammy sah verwirrt von Naomi zu Alice, die beide lauthals lachten und sich verschwörerische Blicke zuwarfen.

»Was ist denn so lustig?« Sammy setzte sich an den Tisch.

»Das war der Typ von heute Morgen, den Naomi gerade noch nachgeäfft hat«, platzte Alice heraus.

»Meinst du, er hat was bemerkt?« Naomi presste die Lippen fest aufeinander, um nicht wieder laut loszulachen.

»Nö. Du warst ja mit deiner Vorstellung fast fertig.« Alice prustete los. »Der Sprung vom Treppenabsatz war wirklich sehr elegant. Wenn das Robert gesehen hätte, hätte er dich glatt ohne Prüfung zugelassen.«

Sammy winkte nach dem Kellner. »Ich habe Hunger. Könnten wir nun bestellen?«

Naomi bemerkte Sammys Stimmungswechsel. Vorhin hatte er noch herzhaft über ihre Imitation gelacht. Jetzt kam er ihr irgendwie übellaunig vor. Sein Gesichtsausdruck konnte ihr die gute Stimmung nicht vermasseln. Sie freute sich, Roman wiedergesehen zu haben. Immerhin war sie nicht erneut hilflos und fluchend auf dem Hintern gelandet, sondern hatte gut gelaunt vor ihm gestanden. »Ich glaube kaum, dass man dich übersehen kann«, hatte er gesagt. Seine Worte spukten noch durch ihre Gedanken. Sie bestellte automatisch eine große Pizza Diavolo, einen Salat und ein Wasser. Roman hatte sich zwar über sie lustig gemacht, war aber auch sehr charmant gewesen. Ihr ganzer Körper hatte gekribbelt, als er sie zum Tisch gebracht hatte. Ihr war, als könne sie seinen Arm noch immer an ihrer Seite spüren.

»Erde an Naomi, bitte kommen!« Alice klopfte ungeduldig auf den Tisch. »Sammy hat gerade gefragt, ob wir nach dem Essen noch Lust auf einen Kinofilm haben.«

»Sorry, aber ich hatte mir gerade überlegt, wie ich die Verspannung in meinem Oberschenkel in den Griff bekomme.« Naomi hatte keine Lust auf Kino. Sie hätte sich sowieso nicht auf einen Film konzentrieren können. »Geht ihr beiden doch ins Kino. Ich werde noch ein bisschen laufen.«

Sammy starrte sie ungläubig an. »Du willst nach einer großen Pizza joggen gehen?«

»Blödsinn!« Sie sah zu Alice. »Ich habe aber schon zu Alice gesagt, dass ich mehr Bewegung brauche, also werde ich nach Hause spazieren. Die frische Luft wird mir gut tun.«

 

*

 

Sammy starrte auf die Leinwand. Alice saß neben ihm und versuchte, ihn in ein Gespräch zu verwickeln. Alice war nett. Trotzdem war er froh, als der Film endlich startete, dadurch war er mit seinen Gedanken alleine und konnte ungestört über Naomi nachdenken. Warum zum Teufel wollte sie alleine nach Hause gehen? Das war gefährlich. Naomi hatte sich nicht umstimmen lassen. Sie konnte es nicht wissen, aber er wusste es. Während des gesamten Essens hatte sie abwesend gewirkt; in den Augen ein merkwürdiges, fast fiebriges Glitzern. Am Freitag hatte sie ihn noch vor aller Augen geküsst und heute schickte sie ihn mit ihrer Freundin ins Kino. Sie hatte ihn regelrecht gedrängt, mit Alice auszugehen. Er wusste, der Kuss hatte keine Bedeutung für Naomi; aber es war ein Anfang gewesen. Irgendetwas war passiert. Er musste herausbekommen, was das war. Nur aus diesem Grund saß er hier mit Alice. Vielleicht konnte sie ihm weiterhelfen. Er wollte Naomi Zeit lassen, das ja, aber er wollte sich auf keinen Fall aus ihrem Leben drängen lassen; dafür war es zu spät. Viel zu spät. Er würde später bei ihr vorbeifahren. Nur um zu sehen, ob sie zu Hause und in Sicherheit war.

 

*

 

Naomi schlenderte die Hauptstraße entlang. Sie sah die Brücke über den Stillwater River bereits vor sich. Die Holzstreben waren marode, jedoch sicherte ein Eisengeländer die Brüstung. Neben der Lichtung im Wald war die wenig befahrene Brücke ihr Lieblingsplatz. Sie blieb in der Mitte stehen und sah den Stillwater River hinab. Der Blick auf den angrenzenden Wald war spektakulär, selbst wenn keine Nebelfelder vom Wasser her aufstiegen. Die Ulmen und Ahornbäume zeigten die ersten Knospen, und bald würden die blanken Äste unter einem dichten Laubteppich verschwinden. Tief sog sie die würzige Luft ein. Manchmal bildete sie sich ein, das Meer zu riechen, aber das war kaum möglich. In ihrem verletzten Bein spürte sie ihre Muskeln zucken. Um die Schmerzen zu vertreiben, lockerte sie den Muskel und massierte sanft über die verkrampfte Stelle. Wie schon früher auf der Lichtung, fühlte sie sich plötzlich beobachtet. Sie sah sich um, konnte aber wie gewöhnlich niemanden entdecken. Das Gefühl verstärkte sich mit jeder Sekunde. Es verursachte ihr eine Gänsehaut, ihr Herzschlag beschleunigte sich und sie fröstelte. Irgendjemand stellte ihr nach. Sie rubbelte sich über die Arme, um die Kälte zu vertreiben. Ihre Augen suchten das Flussufer ab. Sie folgten dem Flusslauf bis zur Brücke. Am Ende der Brücke meinte sie, jemanden stehen zu sehen. Sie versuchte, Genaueres zu erkennen, als ein Wagen auf die Brücke fuhr. Die hellen Scheinwerfer nahmen ihr die ohnehin schon schwache Sicht in der Dämmerung. Sie atmete erleichtert auf.

Der Wagen näherte sich, und Naomi hoffte, es wäre Sammy. Sie wollte hier nicht mehr alleine sein, obwohl sie erst einen Kilometer gelaufen war. Der Wagen verlangsamte sein Tempo. Naomi erkannte an der Form, dass es sich nicht um Sammys Fahrzeug handeln konnte, drehte sich wieder um und beschleunigte den Schritt. Sie wollte schnell nach Hause. Weg von dieser Brücke, weg von diesem Gefühl, beobachtet zu werden.

Der Klang der Autohupe zerriss die Stille. Naomi fuhr erschrocken herum.

»Kann ich dich mitnehmen?« Braune Augen blickten sie freundlich an. Roman.

Naomis Herz klopfte noch heftiger. Sie ging einen Schritt auf das Seitenfenster zu und spähte in den Wagen. »Meine Oma sagt immer, wenn man sich drei Mal über den Weg läuft, sollte man etwas miteinander trinken gehen, weil das Schicksal es so will. Aber ich wäre schon zufrieden, wenn du mich tatsächlich mitnehmen könntest.«

»Spring rein.« Roman klopfte auf den Beifahrersitz.

Naomi ging um den Pick-up und warf noch einen Blick in die Richtung, wo sie vor einem Augenblick noch die Gestalt gesehen hatte. Sie war weg. Roman beugte sich über den Sitz, um ihr die Tür zu öffnen. Naomi stieg ein.

»Deine Oma ist übrigens eine kluge Frau. Wir sollten ihren Ratschlag annehmen oder musst du nach Hause?«

Naomi schüttelte lachend den Kopf. Ihr Puls raste, und ein ungewohntes Kribbeln in der Magengegend verwirrte sie gewaltig. Roman fuhr über die Brücke und bog auf die Stillwater Avenue ein, die direkt am Fluss entlanglief. Naomi konnte es nicht glauben, tatsächlich neben Roman in seinem Wagen durch die Nacht zu brausen. Heute Morgen hatte sie noch nichts von seiner Existenz gewusst, und nun saß sie mit klopfendem Herzen und flauem Magen in seinem Auto. Wohin wollte er überhaupt? Sie hatten das Unigelände hinter sich gelassen und fuhren durch eine Gegend, die Naomi nicht kannte.

Roman schien ihre Gedanken erraten zu haben. »Warst du schon am Pushaw Lake?«

»Die vergangenen zwei Wochen habe ich nur trainiert. Wo genau liegt der See?« Naomi sah zu Roman, der weiterhin konzentriert auf die Straße sah. Rechts und links lagen dichte Wälder.

»Noch ungefähr fünf Meilen nördlich von hier. Dort gibt´s ein kleines Restaurant direkt am See.« Roman drosselte die Geschwindigkeit und bog links ab. »Auf dieser Strecke muss man höllisch aufpassen. Ein Freund von mir hat letzten Herbst hier ganz in der Nähe einen Bären angefahren. Durch den Nebel war die Sicht aber auch ziemlich schlecht.«

»Du machst Witze, oder?« Naomi sah sich erschrocken um.

Roman schüttelte verneinend den Kopf. »Keine Angst. Bären sind im Grunde scheu, außer du brichst in ihr Revier ein.«

»Ich habe keine Angst«, widersprach sie. »Ich jogge regelmäßig durch den Wald.« Er sollte sie keinesfalls für einen Feigling halten, obwohl sie auf die Bekanntschaft mit einem Bären gerne verzichten konnte.

Roman sah zu ihr hinüber. »Solange du in der Nähe von Städten und Dörfern läufst, ist das kein Problem. Aber hier sind wir weiter draußen. An deiner Stelle würde ich so etwas lassen.«

Naomi schielte zu Roman. Sie war sich nicht sicher, ob er sie nicht doch auf den Arm nehmen wollte. In seinem Gesicht fand sie jedoch keine Anzeichen dafür.

Er bog in einen kleinen Waldweg ein. Nach zweihundert Metern parkte er den Wagen vor einem dezent beleuchteten Restaurant. Bis auf die vereinzelten Lichter war weit und breit nur undurchdringliche Dunkelheit. Kein weiterer Wagen; keine Menschenseele. »Da wären wir.«

Später saß Naomi in eine Wolldecke eingekuschelt an einem Tisch direkt am See. Die Tasse mit heißem Kakao wärmte ihre Finger. Der See lag pechschwarz vor ihr; nur der Halbmond warf bizarre Lichtreflexe auf die Wasseroberfläche. Wenn sie genau hinsah, entdeckte sie am gegenüberliegenden Ufer einen zarten Lichtschimmer. Dort musste sich ein Wohnhaus befinden. Mitten im Nirgendwo. Naomi lächelte. Wenn ihre Oma wüsste, wo sie gerade mit einem Fremden war, würde sie einen Herzinfarkt bekommen. Auch wenn sie Roman nicht kannte, hatte sie nicht das Gefühl, mit einem Fremden zusammen zu sein. Auf der Fahrt hatten sie kaum gesprochen. Das Schweigen war jedoch angenehm gewesen, und sie meinte nicht, irgendetwas sagen zu müssen. Sie hätte auch nicht gewusst was. Ihre Nervosität war so übermächtig, dass ihr das Schweigen lieber gewesen war, als sinnloses Geplapper, was sie mit Sicherheit von sich gegeben hätte. Dieses unkontrollierbare Gefühl war schlimmer, als ihre Prüfungsangst. Sie wusste nichts über Roman. Trotzdem fühlte sich alles vertraut und doch neu an.

Das Restaurant gehörte Romans Großonkel Bertram. Es war offiziell geschlossen und würde erst im Juni wieder Gäste bewirten. Roman lud gerade den defekten Fernseher seines Onkels auf die Ladefläche seines Pick-ups. Ein Freund wollte ihn reparieren. Ein Leben so weit weg von allem musste sehr einsam sein. Sie selbst ertrüge es vermutlich nicht. Ohne Fernseher schon gar nicht. Roman trat aus dem Haus und ging auf sie zu.

»Tut mir Leid, dass ich dich so sitzen gelassen habe.« Er legte sich eine Decke um die Schultern und nahm einen Schluck von seinem Kakao. »Ein Schuss Cognac würde nicht schaden«, grinste er. »Ist dir kalt?«

Naomi trank ebenfalls einen Schluck. »Nein, mit der Decke und dem Kakao ist es gemütlich hier draußen.«

»Weißt du, was mich interessiert?« Roman setzte sich neben sie auf die Holzbank. »Was hat dich ausgerechnet hierher verschlagen? Das Sportangebot allein kann es nicht sein. So toll ist es auch wieder nicht.«

Naomi zog sich die Decke enger um die Schultern. »Es war die einzige Uni, die mir für dieses Semester zugesagt hat.« Sie drehte die Tasse in ihrer Hand und lugte neugierig über den Rand hinweg. »Und du? Bist du hier aufgewachsen?«

Roman erwiderte ihren Blick. »Nein. Ich bin Naturwissenschaftler auf Jobsuche. Seit einem halben Jahr gebe ich Vorlesungen in Biologie. Nach meinem Master in Zoologie blieben mir nicht viele Optionen. Entweder in die Forschung oder in die Pharmazie. Beides wollte ich nicht. Forschungsgelder werden kaum bewilligt, aber hier habe ich wenigstens tiefe Wälder, ein kleines Labor mit bester Ausstattung und kann gleichzeitig unterrichten und forschen.«

»Welche Forschungen betreibst du?«, fasste Naomi nach. »Reißt du armen Insekten die Beine aus? Oder sezierst Frösche und überfahrene Bären?«

»Das mache ich nur in meiner Freizeit«, frotzelte Roman zurück. »Hauptsächlich befasse ich mich mit Pflanzen. Die Wirkung gewisser Pflanzen. Aber, wenn mir ein Insekt unterkommt, das ich nicht kenne, landet auch das unter dem Mikroskop, bis ich weiß, um welche Art es sich handelt.«

»Pflanzen, also? Wie Cannabis wirkt, weiß sogar ich«, murmelte sie leise und gluckste.

»Das wissen die Meisten. Viele rauchen jedes Kraut, das ihnen in die Finger kommt.«

»Erfahrungswerte?« Naomi zog die Beine an ihren Körper und wickelte die Decke darum. »Aus Forscherdrang, du weißt schon.«

»Am Anfang schon. Einfach aus Neugierde. Als aber mein Freund beinahe draufgegangen wäre, habe ich die Finger davon gelassen.« Roman pustete in die Hände. »Wir sollten los. Es ist zwischenzeitlich eiskalt hier.«

Naomi nickte. »Nachdem du mir erzählt hast, was damals passiert ist.«

Roman stand auf. Offensichtlich fiel ihm die Antwort schwer.

»Wenn du nicht darüber reden willst ...« Naomi wollte ihn zu nichts drängen. Sein Freund war beinahe gestorben. Sie wollte keine alten Wunden aufreißen.

»Er rollte sich die Blätter vom Giftsumach zu einem Joint, zündete ihn an, und der inhalierte Rauch ließ seine Lungen kollabieren. Er hat es nur überlebt, weil er die Blätter mit Tabak gemischt hatte.«

Naomi folgte ihm ins Lokal, wo es angenehm warm war. »Warst du damals bei ihm?«

Roman nickte nur. »Sollen wir los oder magst du noch eine Tasse?«

Naomi sah auf die Uhr. Es war schon nach zehn, und sie war müde. Außerdem schien Roman lieber fahren zu wollen. »Es ist spät geworden«, erklärte sie.

Roman nahm ihr Decke und Tasse ab.

Sein Großonkel Bertram kam aus dem Hinterzimmer. »Ihr wollt schon los? Jetzt hatte ich gar keine Möglichkeit zu fragen, was mit deinem Gesicht passiert ist.«

Naomi verdrehte die Augen. Bisher hatte sie es geschafft, nicht über ihr Aussehen nachzudenken und die Zeit mit Roman einfach zu genießen. »Ein Sportunfall. Bald bin ich aber die Nasenklammer wenigstens los. Wenn die Blutergüsse verschwunden sind, bin ich wieder wie neu!«

»Dann werde ich dich das nächste Mal kaum wiedererkennen. Du bringst sie doch wieder mit, oder?« Bertram knuffte Roman mit einem Augenzwinkern in die Seite.

»Sobald ich die Zeit finde, kommen wir tagsüber vorbei. Mit etwas Glück bringe ich dir den reparierten Fernseher mit.«

In Naomis Magen kribbelte es. Sie fühlte sich leicht beschwipst, genauso, als hätte sie den heißen Kakao tatsächlich mit einem kräftigen Schuss Cognac getrunken. Roman wollte sie wiedersehen. Sie spürte seine Hand auf ihrem Rücken und unterdrückte einen wohligen Seufzer.

»Bist du soweit?«

Naomi nickte. Sie verließen das Restaurant. Naomi warf noch einen letzten Blick auf den ruhig daliegenden See. Einzelne Nebelschwaden zogen gemächlich über ihn hinweg und verwischten die Sicht auf das gegenüberliegende Ufer.

Roman bemerkte ihre Faszination und sah lächelnd zu ihr hinab. »So geht es mir jedes Mal, wenn ich hierher komme.«

Sie verharrte noch einen Augenblick, bevor sie sich abwandte. »Jetzt bin ich wirklich soweit.«

Die Nebelschwaden verdichteten sich. Roman drosselte das Tempo. Die Sicht verschlechterte sich zusehends. Naomi beobachtete, wie die Nebelfetzen über die Windschutzscheibe fegten. Ihre Gedanken schweiften ab. In den letzten Jahren hatte sie viele Jungs getroffen, aber nie hatte sie etwas anderes als Freundschaft für sie empfunden. Was war an Roman anders? Warum löste er in ihrem Körper Gefühle aus, die sie nicht einordnen konnte? Ein fremdes Kribbeln im Magen, als hätte sie einen ganzen Bienenschwarm verschluckt, das Herzklopfen und die beinahe greifbare Unsicherheit, sie könne etwas Falsches sagen, etwas Verkehrtes tun. Naomi begriff. Sie war zum ersten Mal in ihrem Leben verliebt.

Vorsichtig sah sie zu Roman, der gelassen durch die Nacht fuhr. Fühlte er ähnlich? Oder betrachtete er sie nur als die neue Austauschstudentin, der man ein bisschen die Gegend zeigen musste? Eine diffuse Angst machte sich breit. Langsam begriff sie, wie sich ihre Verehrer gefühlt haben mussten, wenn sie ihnen erklärte, mehr als Freundschaft empfände sie nicht. Wenn Roman diesen Satz ausspräche, würde sie sterben. Ganz sicher. Das würde sie nicht überleben. Naomi beschloss, sich ihre Verliebtheit nicht anmerken zu lassen. Sie kannten sich überhaupt nicht. Mit Sicherheit war es nur eine nette Geste, ihr die Gegend zu zeigen. In ihrem Kopf rasten die Gedanken durcheinander. Zu gleichgültig durfte sie auch nicht sein. Das würde ihn abschrecken.

»Sehr müde? Du bist so schweigsam.«

Abrupt stand ihr Gedankenkarussell still. »Du sagst doch auch nichts. Ich wollte dich nicht vom Fahren ablenken. Es würde mir Leid tun, wenn du bei dieser miesen Sicht ein Tier anfährst, nur weil ich dich ablenke.«

Roman lachte. »Keine Bange. Ich bin durchaus in der Lage, Auto zu fahren und zuzuhören.«

»Ach?« Naomi schmunzelte. »Und ich dachte, Männer können keine zwei Dinge gleichzeitig tun.«

»Du solltest nicht alles glauben, was du liest. Wir können durchaus.« Er strich sich eine widerspenstige Haarsträhne zurück, die sofort wieder an ihre gewohnte Stelle fiel. »Wir wollen nur nicht immer.«

Naomi bemerkte sein amüsiertes Lächeln. »So ist das also. Das werde ich mir merken.«

Sie bogen auf das Unigelände ein. Naomi hätte noch Stunden durch die Nacht fahren können, nur, um noch neben Roman sitzen bleiben zu können. Er fuhr in Richtung der Wohngebäude. Der Ausflug war leider vorbei.

»In welchem der Blocks wohnst du?«

Sie erklärte ihm den Weg. Roman stoppte den Wagen. Wenn er jetzt einfach sitzen bleibt und wartet, bis ich aussteige, bin ich ihm gleichgültig, dachte sie. In diesem Moment drehte er den Schlüssel im Zündschloss und stellte den Motor ab. Ihr Herz klopfte wie tausend Hämmer in ihrer Brust, als Roman wie selbstverständlich ausstieg, um den Wagen schlenderte und ihr die Tür öffnete. »Hier wären wir, Madame. Danke fürs Mitfahren. Da machen sogar Botengänge Spaß.«

Naomi stieg aus und blieb unschlüssig neben der Wagentür stehen. »Ich bin gerne mitgefahren. Solltest du also wieder einen Copiloten benötigen  ... du weißt jetzt, wo du mich findest«, wagte sie einen Vorstoß und entfernte sich einen Schritt vom Wagen; und von Roman.

Roman schloss die Tür. »Worauf du dich verlassen kannst!«

Für einen Moment schwiegen beide. Naomi konnte den Abschied nicht hinauszögern. Es wäre nur peinlich geworden, länger stehen zu bleiben. »Komm gut nach Hause,« verabschiedete sie sich.

Roman ging auf Naomi zu. »Danke für den schönen Abend.« Er zog sie an sich und gab ihr einen Kuss auf die Wange. Naomi stand noch an der gleichen Stelle, als Roman wieder in den Wagen stieg. Sie hob noch kurz die Hand, winkte ihm zum Abschied, bevor sie zur Eingangstür ging. Ihre innere Stimme mahnte sie, sich nicht umzudrehen. Wenn sie sich umdrehte und er bereits wegführe, wäre sie zutiefst enttäuscht. Sie steckte den Schlüssel ins Schloss, sperrte auf und drehte sich um. Sie musste einfach wissen, ob Roman ihr nachsah. Romans Wagen stand noch am selben Ort. Durch die Dunkelheit konnte sie sein Gesicht nicht sehen. Sie zwang sich zu einem Lächeln in seine Richtung, bevor sie durch die Tür ins Innere schlüpfte. Wenigstens war er noch nicht fort gewesen.

 

*

 

Roman blicke Naomi nach. Dreh dich bitte dieses Mal um, nur dieses eine Mal, flehte Roman. Er beobachtete, wie sie den Schlüssel ins Schloss steckte und die Tür öffnete. Enttäuschung machte sich breit. Plötzlich drehte sie sich um und schenkte ihm ihr bezauberndes Lächeln. Er lächelte unwillkürlich zurück. Dieses Mal hatte sie sich nach ihm umgedreht. Nicht wie am Morgen, wo er ihr nachgesehen und auf einen weiteren Blick von ihr gehofft hatte. Trotz der anfänglichen Enttäuschung war es ein unglaublicher Tag geworden. Auch wenn er sich gewünscht hatte, Naomi nach dem Zusammenstoß auf der Treppe bald wiederzusehen, war es ein verrückter Zufall, ihr am selben Abend gleich noch zwei weitere Male zu begegnen. Ihr Temperament und diese funkelnden grünen Augen hatten ihn sofort gefesselt. Selbst als sie fluchend auf der Treppe lag, hatte sie nicht hilflos gewirkt, sondern überaus selbstsicher. Dieses Mädchen war anders, als die, mit denen er bisher ausgegangen war. Sie war stark, selbstbewusst und ihm irgendwie unnahbar vorgekommen, wie sie mit hocherhobenem Haupt über den Platz marschierte, ohne sich nochmals umzudrehen. Jetzt wusste er, sie war weder unnahbar, noch so stark und selbstbewusst, wie sie sich gab. Das hatte er daran erkannt, wie sie verloren auf den See geblickt hatte. Diesen sehnsüchtigen Gesichtsausdruck würde er niemals vergessen.

Gerne hätte er sie zum Abschied geküsst, aber er war Dozent an der Uni, die sie besuchte. Selbst wenn Naomi nicht in seine Vorlesung ging, würde es Gerede geben. Ratlos starrte Roman aus dem Fenster. In dem Fahrzeug auf der anderen Straßenseite saß jemand im Dunkeln. Roman hatte den Wagen vorher schon entdeckt, aber nicht weiter beachtet. Vielleicht ein Student, der vergeblich auf seine Verabredung wartete, dachte er. Roman startete seinen Pick-up, legte den Gang ein und fuhr los. Der Fahrer kramte im Handschuhfach, als er an dem geparkten Wagen vorbeifuhr, sodass er sein Gesicht nicht sehen konnte. Im nächsten Moment hatte er den Fahrer vergessen und dachte wieder über Naomi nach. Er musste sie besser kennen lernen, bevor er eine Entscheidung treffen konnte. Es hatte ihn Überwindung gekostet, Naomi nur auf die Wange zu küssen. Sie war eine Studentin, und er durfte sie keinesfalls bedrängen. Wenn es auch nur die leisesten Gerüchte gäbe, er wäre bei einer Studentin zudringlich geworden, würde er sich einen neuen Job suchen müssen. Ein weiterer Gedanke kam ihm in den Sinn. Naomi war Austauschstudentin und würde nach einem halben Jahr wieder gehen. Was für eine Zukunft hätte eine Beziehung mit ihr? Wenn er ehrlich zu sich selbst war; keine. Er musste sich Naomi aus dem Kopf schlagen.

 

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Naomi stapfte die Treppe zu ihrem Apartment hoch. Ein Kuss auf die Wange! Einen Wangenkuss gibt man seiner Mutter, der Schwester oder seiner Oma. Wenigstens war er nicht einfach weggefahren. Sie schleuderte die Schuhe von den Füßen, holte sich einen Schokopudding aus dem Kühlschrank und setzte sich damit bewaffnet auf die Fensterbank. Mechanisch stopfte sie sich Löffel für Löffel in den Mund. Das Kribbeln im Bauch war genauso verschwunden, wie das Hochgefühl. Es war Enttäuschung gewichen. Am liebsten hätte sie Alice angerufen. Alice war die einzige Freundin, die sie bisher hatte. Ein Blick auf die Uhr mahnte sie, den Anruf besser zu unterlassen und bis zum nächsten Morgen zu warten. Es war elf Uhr. Nicht eben die Zeit, eine neue Freundin aus dem Schlaf zu reißen. Sie stand auf, schaltete den Fernseher an und holte sich einen weiteren Schokopudding.