Acht

 

Roman saß auf der Terrasse und starrte auf den See hinaus. Der Mond verwandelte die Oberfläche in ein silbernes Meer aus funkelnden Sternen. Bertram trat zu ihm, drückte ihm einen doppelten Whiskey in die Hand und setzte sich zu ihm.

Nach einigen Sekunden brach sein Onkel das Schweigen. »Und du erinnerst dich immer noch an überhaupt nichts? Nicht einmal an Naomi? Dabei war ich so sicher, dass aus euch beiden ein Paar wird. So wie ihr euch angesehen habt. Du warst hin und weg von ihr. Das habe ich gleich bemerkt.«

Roman trank einen kräftigen Schluck. »Lass gut sein. Du kannst mir noch so oft von ihr erzählen. Ich habe nicht einmal ein Gesicht vor Augen. Ich weiß nur, was mir Robert erzählt hat. Eine Austauschstudentin, die, ohne sich abzumelden, zurück nach Europa gereist ist. Nachdem ich mich nicht an sie erinnere, kann sie kaum einen großen Eindruck auf mich gemacht haben, oder?«

»Dieses Mädchen macht auf jeden Eindruck, du Blödmann.« Bertram legte den Kopf schief. »Wenn ich nur ein Foto von ihr hätte. Warum versuchst du nicht, Kontakt mit ihr aufzunehmen? Eventuell fällt dir dann alles wieder ein.«

»Erstens komme ich nicht an ihre persönlichen Daten. Dazu müsste ich im Uni-Sekretariat einbrechen. Zweitens kann ich ihr nicht viel bedeuten, sonst wäre sie nicht ohne ein Wort nach Europa abgedampft. Und drittens gehe ich zurzeit mit einer sehr süßen Spanierin namens Pilar aus.« Roman stürzte den Drink hinunter.

»Und weil du so glücklich bist mit dieser Pilar, besäufst du dich auf meiner Terrasse.« Bertram kniff die Augen zusammen. »Ich weiß zwar nicht, was zwischen dir und Naomi passiert ist, aber sie ist nicht der Typ, der sich mir nichts dir nichts aus dem Staub macht.« Er nippte an seinem Glas. Die Eiswürfel klirrten durch die stille Nacht. »Ganz und gar nicht«, setzte er leise hinzu.

»Und trotzdem ist sie weg. Also, was soll´s?« Roman sah auf sein leeres Glas. Dieses ständige Gerede über Naomi frustrierte ihn. Vergangene Woche hatte sein Freund Robert sogar behauptet, dass dieses Mädchen vor einigen Wochen ebenfalls einen Blackout erlitten hätte und es da eventuell einen Zusammenhang geben könnte. Er war ihm über den Mund gefahren, weil er über dieses leidige Thema nicht mehr sprechen wollte. Wozu auch? Es brachte nichts außer Frust. »Hast du die Flasche mitgebracht?«

»Wenn diese Pilar so toll ist, warum besäufst du dich dann?« Bertram knallte sein Glas auf den Tisch und ging ins Haus.

Sein Onkel war offensichtlich verärgert. Warum ließ er ihn nicht einfach in Ruhe? Pilar war toll. Sie war in ihn verknallt und himmelte ihn an. Dessen war Roman sich sicher. Er war zwar nicht in sie verliebt, aber das spielte keine Rolle. Immerhin waren die Depressionen abgeklungen. Allerdings war sie für drei Tage nach Bangor gefahren.  Das gebrochene Bein ihrer Bekannten sollte untersucht und ein neuer Gips angelegt werden. Dadurch hatte er wenigstens Zeit darüber nachzudenken, wie es mit Pilar weitergehen sollte. Es musste schließlich nicht gleich die große Liebe sein, oder?

Roman verschränkte die Arme vor der Brust. Man durfte doch auch einfach nur ein bisschen Spaß mit einem Mädchen haben. Und den hatte er! Endlich fühlte er sich wieder wohler in seiner Haut. Warum sollte er also dieser Naomi nachlaufen, an die er sich gar nicht erinnern konnte?

Bertram kam zurück. Die Whiskyflasche öffnete er auf dem Weg zur Terrasse. »Einen kriegst du noch, aber dann ist Schluss.« Die braune Flüssigkeit gluckerte in sein Glas. »Was ist bloß mit dir los? So kenne ich dich gar nicht!«

»Was soll schon los sein?« Nachdenklich trank Roman einen Schluck. »Diese Naomi. Die lebte nicht zufällig in Barcelona?« Seitdem Pilar erwähnt hatte, dass sie aus Barcelona sei, ließ ihn diese Stadt nicht mehr los. Irgendetwas klingelte bei ihm, wenn er diesen Namen hörte, doch was? Er wusste zwar, dass Naomi eine Deutsche war, aber warum brachte er sie mit Barcelona in Verbindung? Irgendjemand musste so etwas erwähnt haben.

»Barcelona? Nein, Naomi lebt in Norddeutschland. Irgendwo bei Hamburg. Meine ich zumindest. Warum fragst du?« Mit zusammengezogenen Augenbrauen stand Bertram vor ihm und fixierte ihn wie die Schlange ein Kaninchen.

»Weiß ich auch nicht. Seitdem ich Pilar kenne, geht mir Barcelona nicht mehr aus dem Sinn. Und ich komme einfach nicht darauf, warum das so ist.« Roman stellte sein Glas weg. Er wollte plötzlich nichts mehr trinken. »Mit Pilar hat das nichts zu tun. Dessen bin ich mir sicher. Es ist zum verrückt werden.«

»Barcelona.« Bertram runzelte die Stirn. »Da kenne ich niemanden. Überhaupt kenne ich niemanden in Spanien. Und du bisher auch nicht.« Er setzte sich wieder neben ihn. »Was sagt eigentlich dein Seelenklempner?«

Roman zuckte hilflos mit den Schultern. »Der sollte nochmals auf die Uni gehen. Seine Weisheiten kann er sich jedenfalls sparen. Der meint nur, entweder kommt die Erinnerung wieder, oder eben nicht. Und dafür verlangt er hundert Dollar die Stunde.«

»Gib die hundert Dollar mir, und ich trete dir so kräftig in den Hintern, dass du bis nach Deutschland fliegst. Mal sehen, ob das nicht besser hilft, als so eine Sitzung.« Bertram prustete in sein Glas.

»Wozu soll das gut sein? Dann stehe ich vor einer Frau, die vor mir davongelaufen ist und die ich nicht einmal kenne.« Roman betrachtete den vollen Mond. »Das nächste Mal bringe ich Pilar mit. Du wirst sie mögen.« Er fing einen unergründlichen Blick von Bertram auf. Sein Onkel öffnete kurz den Mund, als wolle er etwas erwidern, schluckte den Kommentar aber mit seinem Whiskey hinunter, stand auf und wünschte ihm eine gute Nacht.

 

*

 

Mein geliebtes Kind, ich schreibe dir weiterhin. Selbst wenn du vermutlich auch diesen Brief nicht in Händen halten wirst. Trotzdem muss ich ihn schreiben. Alleine schon, weil es mir das Gefühl gibt, dir nahe zu sein und dich an meinem Leben teilhaben zu lassen. Die nummerierten Briefe werden viel erklären, vielleicht sogar zu viel. Aus diesem Grund darf ich keine weiteren Informationen hinterlegen. Es wäre unser aller Tod, wenn die Unterlagen in die Hände unserer Feinde gelangten. Die Umschläge tausche ich regelmäßig aus.

 

Leandras Stimme war kaum wahrnehmbar. »Von wann ist der Brief?«, unterbrach Naomi ihre Großmutter.

Leandra drehte den Brief um und zog die Luft ein. »Das ist ...«

»Was?« Naomi griff danach und suchte nach dem Datum. Der Brief trug ein zwei Jahre altes Datum. Sie sah Leandra eindringlich an. »Deine Mutter ist am Leben!«

Leandra atmete schwer ein und aus, sank in sich zusammen und brach in Tränen aus. Ihr Kopf sank auf die Brust, während sich ihr Mund gleichzeitig zu einem Lächeln verzog. Naomi ging in die Knie, nahm Leandras Hände in die ihren. »Nicht weinen, alles wird gut. Wir finden sie. Da bin ich mir ganz sicher, Oma.«

Leandra sah auf. »Sie lebt ...«

Naomi setzte sich zu Füßen ihrer Großmutter. »Wir suchen sie. Und wir werden sie finden.« Sie streckte ihr das Schreiben entgegen. »Vielleicht erwähnt sie im Brief etwas, was uns weiterhilft.«

Leandra holte tief Atem und schüttelte ungläubig den Kopf. »Ich kann nicht ... lies du.«

Vermutlich hätte Naomi in dieser Situation selbst ebenso wenig den Mut weiterzulesen. All die Hoffnung, die eigene Mutter nach so vielen Jahren vielleicht wiederzusehen, lag in diesen Zeilen. Sie schlug die Beine übereinander und blieb im Schneidersitz vor ihr sitzen. »Soll ich wirklich?«

Leandra schwieg.

Naomi begann zu lesen.

 

Ich habe euch in Gefahr gebracht. Um euch zu schützen, musste ich gehen. Anthony, der mich in den Vollmondnächten manchmal begleitete, gab sich als mein Gefährte und Freund aus. Die anderen Clanmitglieder, es waren sehr wenige, misstrauten ihm, weil er nur kam, wenn ich alleine am Treffpunkt war. Ich entschuldigte dieses Verhalten mit seiner Arbeit. Er reise viel und könne aus diesem Grund nicht regelmäßig kommen. Ich vertraute ihm, doch er verriet jedes Wort an seinen Clan. Bis ich erfuhr, dass er dem Feind angehörte, war es zu spät. Der Clan plante, deinen Vater zu töten. Auch du solltest sterben, um zu verhindern, dass unsere Gene weiterverbreitet würden. Du warst noch so klein.

Doch du warst damals schon stark. Ich wusste, du würdest mein Verschwinden verkraften. Hätte ich dir gesagt, ich müsste gehen, damit du lebst, hättest du mich nicht gehen lassen. Du hättest geweint und gebettelt, und deinen Tränen konnte ich noch nie widerstehen. Ich wäre geblieben. Und hätte euch nicht so schützen können, wie ich es getan habe.

Ich tötete Anthony, der als Einziger von euch wusste. Früher oder später hätten die Clanmitglieder euch gefunden. Sie hätten mir aufgelauert, mich verfolgt und ich hätte sie direkt zu euch geführt. Du sollst nicht denken, ich hätte Anthony leichtfertig getötet. Ich gab ihm eine falsche Information über ein angebliches Clanmitglied, das kürzlich in unsere Gegend gezogen wäre. Es handelte sich dabei nur um den neuen Bäcker. Wir ließen Anthony überwachen und ertappten ihn, wie er diesen Bäckermeister ausspionierte. Es war eindeutig. Deine Mutter ist keine kaltblütige Mörderin. Ich habe getötet, ja – aber aus Notwehr. Die Strafe büße ich noch heute.

Bis ihr von Southampton nach London gezogen seid, war ich oft in eurer Nähe. Stolz verfolgte ich, wie du erwachsen wurdest. Meine Freude war übergroß, als sich herausstellte, dass du nicht so bist wie ich. Du würdest ein normales Leben führen. Dachte ich. Bis dein Mann umkam; doch das ist eine andere Geschichte. Lies die Umschläge bitte der Reihe nach.

In ewiger Liebe, deine Mutter.

 

Naomi wischte sich die Tränen von der Wange. Leandras zarter Körper schüttelte sich, und sie schluchzte hemmungslos. Besorgt sah Naomi zu ihr. Die laut ausgesprochenen Worte klangen in ihr nach: Du konntest ein normales Leben führen. Dachte ich. Bis dein Mann umkam. Was bedeutete das? War sein Sturz ins Hafenbecken damals doch kein Unfall gewesen? War ihr Großvater ein Opfer des feindlichen Clans?

»Ich habe es immer geahnt«, flüsterte sie. »Aber ...«

»... aber?«

»Ach, Luna war noch zu klein. Mit ihr konnte ich darüber nicht reden. Mein Vater war ein Jahr zuvor an einem Herzinfarkt gestorben und sonst ... sonst gab es niemanden. Und meine Freunde? Was hätte ich denen sagen sollen?«

»Aber damals wusstest du doch noch gar nichts von dem feindlichen Clan«, erwiderte Naomi.

»Das nicht. Trotzdem spürte ich, dass etwas nicht stimmte, ein Unglück bevorstand. Wie auch bei deinem Vater. Bis er dann ermordet wurde.« Leandra griff nach dem Beweisstück und suchte die Stelle.

Naomi erinnerte sich genau an den Wortlaut. Romina hatte nicht geschrieben, bis dein Mann ermordet wurde, sondern bis dein Mann umkam. Das war ein Unterschied. Auch wenn sie nicht ausführlicher darüber berichtet hatte, lag der Verdacht nahe, dass es sich beim Tod ihres Großvaters um keinen Zufall gehandelt hatte. »Oma, wir müssen los. Morgen lesen wir weiter.«

Leandra sah auf ihre Armbanduhr. Kurz vor fünf Uhr nachmittags. »Dann wasche ich mir mal mein verheultes Gesicht.« Mit einem Blick auf Naomi fügte sie hinzu. »Dir könnte ein bisschen Politur auch nicht schaden.«

Naomi lachte freudlos. »Ich kann meine verheulten Augen auf einen Streit mit meinem erfundenen Freund schieben. Außerdem setze ich mir einfach eine Sonnenbrille auf.«

Während Leandra sich frisch machte, sah sich Naomi in ihrem Zimmer um. Die Unterlagen offen herumliegen zu lassen, kam nicht in Frage. Immerhin würde sie nicht nur das Abendessen bei Emma hinter sich bringen müssen, sie wäre anschließend die ganze Nacht im Park.

Sie überlegte, wo sie die Papiere verstecken sollte. Auf dem Schrank war zu simpel, unter der Matratze auch; ihr Gepäck war keine Option, dort würde man am ehesten danach suchen. Alles unter den Läufer vor dem Bett zu schieben, fiele zu sehr auf. Einen der Nachttische daraufzustellen wäre gut, aber die schieden aus, da sie an der Wand angebracht waren. Viel mehr befand sich nicht im Raum. Eventuell könnte sie die Unterlagen hinter eines der Bilder klemmen. Sie stieg auf das Bett, hob den Rahmen über dem Kopfteil an und versuchte zwei der Umschläge dahinter zu verbergen. »Jepp!«, rief sie aus, als sie tatsächlich hielten. Kaum war sie vom Bett gestiegen, um die nächsten Umschläge hinter dem zweiten Gemälde anzubringen, als hinter ihr die Briefe bereits raschelnd wieder hervorrutschten.

Naomi schnaubte wütend. Wo zum Teufel sollte sie die Papiere verstecken? Sie starrte das Bild an, als sei es schuld an ihrer Misere. Dann kam ihr eine Idee. Sie nahm den Bilderrahmen von der Wand und drehte ihn um. Es war ganz einfach. Nur die Häkchen zurückbiegen, den Karton anheben und sie konnte die Umschläge zwischen die Pappe und den Druck klemmen. Durch die Glasscheibe würde es halten. Zumindest musste sie es versuchen. Sie legte zwei Kuverts hin, klappte den Stützkarton wieder zu, drückte die Häkchen schützend nach unten und drehte das Bild um. Der Kunstdruck wellte sich zwar ein bisschen, aber man musste sehr genau hinsehen, um die Umrisse der Briefumschläge zu entdecken. Zufrieden hängte sie das Bild zurück.

Während Naomi das zweite Bild auseinandernahm, kam Leandra aus dem Badezimmer zurück. »Was treibst du denn da?«

Naomi sagte nichts und arbeitete konzentriert weiter. Die spitzen Häkchen stachen ihr in die Finger, ein Nagel war ihr bereits abgebrochen. Eine Schere zum Aufbiegen der Haken wäre hilfreich gewesen, aber es musste eben auch so gehen. Die verbleibenden drei Umschläge passten genau in den Rahmen. Wenige Minuten später hing das Bild wieder neben dem Kleiderschrank. »Und, was meinst du?«

»Du übertreibst maßlos, meine ich.« Leandra ließ sich auf das Bett fallen und begutachtete die Bilder. »Aber es fällt kaum auf. Wie bist du denn darauf gekommen?«

Naomi ging ins Badezimmer, um ihr vom Weinen verschmiertes Augen-Make-up wieder in Ordnung zu bringen. »Du sagst zwar immer, ich sehe zu viel fern, aber es kann auch für was gut sein.« Mit einem Kosmetiktuch entfernte sie den verlaufenen Kajal und zog in einem zarten Strich den unteren Lidrand nach. Das musste genügen. Emma wartete auf sie.

Leandra saß reglos auf dem Bett. Ihre Augen waren zwar nicht mehr rot, sahen aber noch leicht geschwollen aus. Kommentarlos packte Naomi die Zeitschriften, die sie für Emma gekauft hatten, in den Rucksack, nahm den Schlüssel vom Nachttisch und nickte zur Tür. »Wollen wir?«