Siebzehn

 

Karsten stand Händchen haltend mit Alice vor der Oper und sah sich suchend um. Naomi pirschte sich von hinten an die beiden heran.

»Wartet ihr etwa auf mich?«, fragte sie und legte den Kopf schief.

Alice grinste über das ganze Gesicht. »Sí Señorita!«, rief sie und fiel Naomi lachend in die Arme. »Na endlich. Wie geht´s dir?«

»Hey. Darf ich auch mal? Ich habe schließlich die älteren Rechte«, brummte Karsten, doch seine Augen blitzten amüsiert. Er drückte Naomi eine Minute an sich, hob sie hoch und küsste sie mitten auf den Mund. »Das war überfällig. Mensch, wie hast du mir gefehlt!« Mit ausgestreckten Armen hielt er Naomi von sich. »Lass dich ansehen.«

»Hör auf mich so anzustarren! Du tust ja so, als hättest du mich seit Jahren nicht gesehen.« Karstens forschender Blick war ihr unangenehm.

Die letzten Monate hatten sie verändert. Mit Sicherheit strahlte sie nicht mehr die gleiche Unbeschwertheit aus wie früher. Außerdem war sie schwanger, und alle Welt behauptete, man sähe das einer Frau auf hundert Meter Entfernung an. Ihr war selbst schon aufgefallen, dass sich ihr Bauch leicht wölbte. Unter dem weiten Sweatshirt sah man noch nichts, doch wenn sie nackt vor dem Spiegel stand und sich zur Seite drehte, konnte man die Wölbung deutlich erkennen.

»Du siehst anders aus. Und damit meine ich nicht deine Frisur oder so was in der Art.« Karsten zog die Stirn kraus. »Irgendwie müde und traurig.«

»Nach einer stundenlangen Zugfahrt wärst du auch erledigt«, mischte sich Alice ein.

Karsten schüttelte den Kopf. »Das meine ich nicht.«

»Könntet ihr bitte aufhören? Mit mir ist alles in Ordnung. Lasst uns was trinken gehen.« Naomi stemmte die Hände in die Hüften und funkelte beide herausfordernd an.

»Hey, beruhig dich.« Er legte den Arm um ihre Schultern. »Du siehst aus, als würdest du mich jeden Moment mit einem Karateschlag niederstrecken.«

»Blödmann«, gab Naomi zurück und boxte ihm auf den Oberarm.

Alice lachte. »Es war echt Zeit, dass du kommst. Sag mal, wie kam das mit Roman? Ich meine, dass du Schluss gemacht hast.«

Mit einem Seufzer drehte sie sich zu Alice. »Schwierig zu erklären.«

»Man muss auch nicht immer alles erklären können.« Karsten hakte sich bei Naomi unter. »Und jetzt lasst uns gehen! Das kannst du uns alles nachher erzählen, okay?«

 

Händchen haltend schlenderten sie die La Rambla entlang. Karsten ging in der Mitte. Er hielt Naomis linke und Alices rechte Hand. Die Blicke der Passanten amüsierten ihn köstlich. Sobald jemand ihn zu sehr fixierte, nickte er demjenigen mit einem anzüglichen Grinsen zu. Alice verdrehte theatralisch die Augen.

Naomi genoss es, mit ihren Freunden zusammen zu sein. Einen kurzen Moment gerieten ihre wahren Motive für diese Reise in den Hintergrund. Alles schien so normal und unbeschwert wie früher.

Der Besuch bei Iker hatte sie verwirrt und geängstigt, weil er ihre Gedanken lesen konnte. Es war, als stünde sie nackt vor einem Fremden, der jeden Makel an ihr sofort entdeckte. Iker hatte gleich verstanden, auf was sie mit ihrer Frage, ob er verheiratet sei, hinauswollte. Sie wollte Roman zurück. Was hatte er geantwortet? Alles zu seiner Zeit. Doch Geduld war noch nie ihre Stärke gewesen.

»Hey, ist wirklich alles in Ordnung mit dir?« Karsten musste ihre Schweigsamkeit aufgefallen sein.

»Ich hätte nicht nach Roman fragen sollen«, entschuldigte sich Alice. »Ihr seid doch so glücklich gewesen. Ich war mir so sicher, dass du entweder dortbleibst oder er mit dir nach Deutschland geht.« Alice suchte ihren Blick. »Also, was zum Teufel ist passiert?«

»Lasst uns im Bistro erst einen ruhigen Tisch suchen, okay? Dann kannst du Naomi immer noch löchern.« Karsten zog beide mit sich die Straße entlang. »Weißt du eigentlich, dass du gerade über eine Sehenswürdigkeit marschierst? Hier sind schon Könige entlanggeschritten.«

»Na, dann ist die Straße für uns ja gerade gut genug«, erwiderte Naomi mit einem schelmischen Grinsen.

Alice prustete los.

Am nördlichen Ende der Fußgängerzone lag auf der linken Seite ein Bistro. Karsten steuerte direkt darauf zu. »Unsere Stammkneipe. Man könnte es auch unseren Zweitwohnsitz nennen. Manchmal helfe ich hier an der Theke aus. Die Kasse aufbessern, du weißt schon.«

Das Bistro wirkte einladend. Runde Tische aus dunklem Holz, dazu gemütlich aussehende Stühle. Die katalanische Flagge hing zwischen Gemälden von Stierkämpfern in ihren edlen Trachten. Diesen Sport verabscheute Naomi, doch die Kostüme der Toreros sahen herrlich aus.

Karsten bestellte an der Bar drei Gläser Bier.

»Hey, ich trink keines, lieber eine Cola, besser noch ein Wasser!«

»Ich hatte von Anfang an recht. Mit dir stimmt was nicht. Ich wusste es«, stichelte Karsten, bevor er seine Bestellung korrigierte.

»Hey?« Alice kratzte sich die Nase. »Ist bei dir echt alles okay

Naomi scharrte an einem unsichtbaren Fleck auf dem Tisch herum, bis Karsten mit den Getränken kam und sich zu ihnen setzte.

»Also, raus mit der Sprache.«

Naomi spürte seinen Blick auf sich ruhen.

»Ha, ich hab´s. Ich glaub, ich spinne.« Karsten schlug sich mit der flachen Hand an die Stirn. »Du bist blass, abgespannt und trinkst kein Bier mehr. Du bist schwanger. Richtig?«

Alice zuckte zusammen. »Schwanger? Im Ernst?«

Das war typisch für Karsten, einfach mit seiner Meinung herauszuplatzen. Naomi grinste verlegen. »Ich hätte wissen müssen, dass du darauf kommst.«

Er sprang vom Stuhl auf. »Deswegen bist du nach Hause geflogen.«

Sie nickte. »Deshalb, und weil es mit Roman schief lief.«

»Hat er dich sitzen gelassen?«, fragte Alice. »So ein Mistkerl! Das hätte ich echt nicht von ihm gedacht.«

»Nein. So war es nicht. Setz dich wieder Karsten, sonst bekomme ich noch eine Halsstarre.« Sie trank einen Schluck Wasser. »Roman weiß gar nichts davon. Wir hatten uns schon getrennt. Als ich merkte, dass ich von ihm schwanger bin, saß ich praktisch auf gepackten Koffern. Ich habe ihm nichts gesagt. Wozu auch?«

Alice zog die Nase kraus. »Er wird Vater. Findest du nicht, er sollte es wissen?«

»Das hätte nichts an meiner Entscheidung geändert.«

Karsten legte seine Hand auf ihre Schulter. »Bist du dir sicher, dass du das alleine durchziehen willst.«

»Ja. Bin ich. Roman lebt in Maine und ich in Deutschland. Was soll es also bringen, ihm davon zu erzählen?«

Alice zuckte mit den Schultern. Naomi sah ihr an der Nasenspitze an, dass sie ihre Entscheidung für falsch hielt.

Karsten sah sie ruhig an. »Wenn du Hilfe brauchst. Anruf genügt. Das weißt du.«

»Können wir jetzt von etwas anderem reden? Wie geht es euch?«, wechselte Naomi das Thema.

Den restlichen Abend erwähnte keiner mehr ihre Schwangerschaft oder Roman.

Alice erzählte, wie schwer es ihr fiele, Spanisch zu lernen. Vor allem frustrierte sie, dass Karsten inzwischen fließend sprach und sie sich neben ihm, wie eine Erstklässlerin vorkam.

Karsten frotzelte über Alices Weigerung, Spanisch mit ihm zu sprechen, oder darüber, dass sie sich im Kino nur Filme im Original mit spanischen Untertiteln ansehen wollte. Beide erwägten, länger in Barcelona zu bleiben. Karsten plante sich einen Job zu suchen, um an Berufserfahrung zu gewinnen. Vielleicht an der Uni, wo er als Gastdozent Deutsch unterrichten könnte. Alice müsste zwar noch ihre Sprachkenntnisse verbessern, bevor sie daran denken konnte, an einer hiesigen Uni ihr Sportstudium fortzusetzen, aber auch das wollte sie irgendwie schaffen. Alices Eltern waren wenig begeistert, konnten jedoch nichts gegen den Dickkopf ihrer Tochter ausrichten.

Alice schlug vor, eine Kommune aufzumachen, wenn das Baby geboren wäre. Naomi könnte mit ihr studieren, während Karsten auf das Kind achtete. Obwohl Naomi darüber lachte, war es der erste vernünftige Vorschlag seit Langem.

Als Karsten und Alice sie vor dem Hoteleingang verabschiedeten, trafen sie gleich eine Verabredung für den nächsten Tag.

»Du, ich könnte mich auch früher verdrücken«, meinte Karsten.

»Besser nicht, sonst dreht mir Oma den Hals um. Ich musste ihr versprechen, mit ihr die Stadt anzusehen.«

»Wir dachten, die Nachtfahrt mit dem Touri-Bus wäre eine gute Idee. Bring Leandra mit. Die Tour ist genial!« Alices Augen glänzten.

»Du dachtest das!«, widersprach Karsten. »Darauf freut sich Alice schon die ganze Zeit. Sie könnte sich jeden Abend durch Barcelona kutschieren lassen.«

»Die Fahrt ist toll! Gib´s zu.«

Karsten grinste und küsste Alice. »Ich gebe es ja zu.«

Ihre Vertrautheit und die liebevollen Neckereien versetzten Naomi einen Stich. In ihr krampfte sich alles zusammen. Nachdenklich betrat sie das Hotel.

 

*

 

Naomi lehnte am Fenstersims. Die Sonne stand tief am Himmel, was den vernachlässigten Hinterhof noch trostloser aussehen ließ, als am Tag zuvor. Gegen acht hielt sie es nicht mehr im Zimmer aus. Vielleicht vertrieb eine Runde Joggen ihre Unruhe. Leandra schnarchte laut, als sie den Raum verließ.

Mit schnellen Schritten lief Naomi zur Fußgängerzone. Trotz der frühen Morgenstunde eilten schon die ersten Passanten über die La Rambla. Am Vorabend war sie mit Alice und Karsten nach Norden gegangen, so schlug sie nun den Weg nach Süden ein.

Ihr schlechtes Gewissen wegen der Lügen schob sie beiseite. Karsten wusste, dass sie ihm etwas verheimlichte. Das hatte sie deutlich gespürt, obwohl er kein Wort darüber verloren hatte. Sie kannten sich einfach zu gut, um sich gegenseitig etwas vormachen zu können. Bisher hatten sie sich letzten Endes immer die Wahrheit gesagt. Dieses Mal wäre es anders.

Nach dreihundert Metern ragte vor ihr die Kolumbussäule auf, dahinter glitzerte das Meer. Sie überquerte die Kreuzung und joggte weiter nach Osten am Hafen entlang. Bald verdrängte die salzige Meeresluft die Auspuffgase, die ihr allgegenwärtig schienen. Im Hafenbecken dümpelten Segelboote, an der Hafenmole reihten sich Restaurants aneinander, bis die Mole endete und ihr freien Blick auf das offene Mittelmeer bot. Die aufgehende Sonne verwandelte das Wasser in eine silbern glänzende Oberfläche. Die Gischt der leichten Wellen, die der Wind an die Küste trieb, leuchtete schneeweiß.

Augenblicklich erinnerte sich Naomi an den Abend am Atlantischen Ozean. Roman. Er hatte mir ihr einen Ausflug dorthin gemacht und sie gefragt, ob sie mit ihm auf das Universitätsfest gehen wollte. Es wäre ihr erster gemeinsamer Auftritt gewesen. Dazu war es dann nicht mehr gekommen. All ihre Pläne waren in dieser Nacht zerstört worden.

Naomi straffte die Schultern, bevor sie Roman aus ihren Gedanken verbannte und am Strand weiterlief, bis die Promenade nach mehreren Kilometern an einem Platz mit Läden und Restaurants endete. Der Duft frischgebackener Brötchen wehte von einer der Fast-Food-Ketten herüber.

Nach einigen Dehnübungen lief sie auf gleichem Weg zurück zum Hotel. Selbst Oma wäre nun wach. Zusammen könnten sie die Zeit bis zum Treffen totschlagen. Die ganze Nacht hatte sie darüber nachgedacht, wie Romina wohl sein mochte. Ob sie sich verstünden, und wie Leandra auf das Zusammentreffen mit ihrer Mutter reagieren würde. Es ging nicht in ihren Kopf, wie ihre Großmutter in der Lage war, einfach friedlich zu schlafen.

Das Joggen an der frischen Luft sowie die näher rückende Begegnung hoben Naomis Stimmung. Das Meer übte eine besondere Magie auf sie aus. Die endlose Weite wirkte beruhigend. Bald wüsste sie mehr, und dieses Wissen würde sie sich zu Nutzen machen.

 

Leise öffnete Naomi die Zimmertür. Das Bett war leer. Leandra stand im Badezimmer vor dem Spiegel und richtete sich das Haar.

»Ich sehe fürchterlich aus. So kann ich meiner Mutter nicht gegenübertreten!« Sie strich sich eine widerspenstige Haarsträhne zurück und fixierte sie mit Haarspray.

»Omi, du siehst großartig aus.« Naomi nahm ihr die Spraydose aus der Hand. »Hör mit dem Spray auf, sonst ähnelt deine Frisur nur einem betonierten Sturzhelm.« Sie zog ihre Joggingsachen aus und stieg in die Duschwanne. »Außerdem wird Romina auch nervös sein. Und, für den Fall, dass sie dich in den Arm nimmt, wäre es dir nur peinlich, wenn sie sich an deinem Helm ein Veilchen holt.«

»Du übertreibst, wie immer!« Mit unsicherer Hand zog sie einen Lidstrich. Er verwischte. »Selbst schminken schaffe ich nicht. Dabei erledige ich das seit Jahren im Schlaf.«

»Und ich dachte, du wärst nicht aufgeregt. Immerhin hast du heute Nacht lauter geschnarcht, als ein Bär im Winterschlaf.« Naomi drehte die Dusche auf kalt und prustete, als das Wasser eiskalt über ihren Rücken rann.

»Das kann ja gar nicht sein. Ich habe die ganze Nacht kein Auge zugemacht!«, protestierte sie. »Sag lieber, wie es gestern mit Karsten und Alice lief.«

»Alice hat mir die Geschichte geglaubt. Sie kennt mich aber auch nicht so gut wie Karsten. Bei ihm bin ich mir nicht sicher. Er sagte zwar nichts, aber das lag eher daran, dass Alice dabei war.« Naomi griff nach dem Handtuch, um sich trocken zu rubbeln. »Da kommt mit Sicherheit noch was nach.«

Leandra betrachtete ihre Kleidung. »Hm, die Wahrheit errät er jedenfalls nicht. Soviel steht fest.« Sie streckte Naomi eine geblümte Bluse hin. »Die und das blaue Kostüm?«

»Wenn du wie deine eigene Oma aussehen willst.«

Ihre Großmutter zog eine Schnute. »Das habe ich extra für unser Treffen eingepackt.«

»Zieh deine Jeans an, die Stiefel und die rote Bluse. Damit wirkst du zwanzig Jahre jünger. Glaub mir.«

 

Um ein Uhr hielt der Taxifahrer vor Rominas Haus. Leandra strich sich erneut übers Haar. »Sehe ich auch präsentabel aus?«

Naomi umarmte sie. »Besser denn je.« Sie hatte sich ebenfalls für eine Jeans und ein weißes T-Shirt entschieden. Darin fühlte sie sich am Wohlsten. »Viel schlimmer finde ich, dass wir eine Stunde zu früh hier sind.«

Iker empfing sie lächelnd vor der Haustür. »Warum wundert es mich nicht, dass ihr schon da seid?«

»Zeit vertrödeln war noch nie meine Stärke«, sagte Leandra und zupfte nervös an ihrer Bluse. »Stören wir?«

»Natürlich nicht.« Iker küsste Leandra auf die Wangen, bevor er ihr den Weg ins Haus freigab.

»Buenos días«, grüßte Naomi.

»Du sprichst Spanisch?«, fragte Iker und küsste sie ebenfalls zur Begrüßung.

Naomi lachte und schüttelte den Kopf. »Mehr als das und einen Kaffee bestellen, kann ich leider nicht. Ich würde es aber gerne lernen.«

»Dann bist du hier richtig.« Iker ging voran ins Wohnzimmer. »Romina ist eben aufgestanden. Sie kommt gleich. Wie war der gestrige Abend?«

»Freunde zu belügen ist einfach schrecklich.« Naomi setzte sich in einen Sessel mit Blick zur Tür. Keinesfalls wollte sie den Moment verpassen, wenn Romina hereinkäme. Leandra nahm ihr gegenüber Platz.

Iker blieb im Türrahmen stehen. »Naomi, leider geht es nicht anders.«

»Ich weiß«, flüsterte sie. »Trotzdem muss es mir nicht gefallen, oder?«

»Kann ich euch etwas zu trinken anbieten?«

»Wasser bitte«, sagte Leandra. »Wenn ich noch einen Kaffee trinke, bekomme ich einen Herzinfarkt.«

»Bin gleich wieder zurück. Fühlt euch wie zu Hause.«

Kaum war Iker verschwunden, sprang Naomi auf und ging zu Leandra. »Glaubst du, ich erfahre heute endlich die ganzen Hintergründe?«, flüsterte sie. »Vielleicht gibt es noch mehr Verwandte. Ich fand es immer schrecklich, nur euch beide zu haben.«

»Herzlichen Dank!«, knurrte Leandra.

»Ach Omi, du weißt genau, wie ich das gemeint habe.« Naomi drückte Leandras Hand. »Ich habe mich schon immer nach einer großen Familie gesehnt.«

Mit einer Flasche Wasser und zwei Gläsern in der Hand kam Iker ins Wohnzimmer zurück. »Romina kommt jeden Moment herunter. Sie ist nervös, weil sie nicht weiß, ob du ihr böse bist.«

Leandra presste die Lippen aufeinander und schwieg.

Naomi sah besorgt, wie auf dem Gesicht ihrer Großmutter rote Flecken erschienen. Das Treffen machte ihr mehr zu schaffen, als sie jemals zugegeben hätte. Sie hörte Schritte nahen. Erst klangen sie eilig, gleich darauf langsamer, bis sie schließlich stoppten.

Naomi zog hörbar die Luft ein.

Jeden Augenblick käme Romina herein.

Leandra erhob sich schwerfällig. Ihre Augen fixierten den Zimmereingang.

Mit geballten Fäusten stand Naomi da und starrte zur Tür. Ihre Hände fühlten sich eiskalt und feucht an.

»Komm schon, Mutter«, forderte Iker Romina auf.

Ein Räuspern war zu hören. Dann trat sie durch den Türrahmen, ging einen Schritt in den Raum und blieb unsicher stehen.

Naomi schüttelte unmerklich den Kopf. Sie sah sich selbst; etwas älter zwar und in anderer Kleidung, doch das war sie! »Das gibt es doch gar nicht«, flüsterte sie.

Dann erklang hinter Naomi ein Seufzer. Romina eilte in ihre Richtung, doch sie erreichte Leandra nicht mehr rechtzeitig. Ohnmächtig brach Leandra über dem Sofa zusammen.

Iker kam zuerst bei Leandra an. Er bettete sie auf die Couch und fächelte ihr Luft zu.

»Es ist meine Schuld«, flüsterte Romina. »Ich hätte nicht ohne eine Vorwarnung ins Zimmer kommen dürfen. Es muss ein Schock für sie gewesen sein, mich so jung zu sehen. Ich ...« Zärtlich strich sie ihrer Tochter über die Stirn. »Meine arme Kleine. Mein Liebling.«

Naomi starrte sie immer noch an. »Es ist ... unfassbar. Wir ähneln uns wie Zwillinge.«

»Leandra. Hörst du mich?« Romina tätschelte ihr die Wange. »Iker, holst du bitte ein kaltes Tuch. Und einen Schnaps kannst du auch gleich mitbringen. Den wird sie nachher brauchen.« Sie fühlte Leandras Puls. »Fast normal. Bald kommt sie zu sich.«

Ohne ein Wort zu sagen, beobachtete Naomi das Geschehen. Ihre Urgroßmutter Romina kauerte neben ihrer fast siebzigjährigen Großmutter und wirkte dabei keinen Tag älter als dreißig. Naomi stand vor ihrer dreißigjährigen Urgroßmutter. Ihre eigene Mutter sah älter aus. In den Briefen hatte sie gelesen, Romina würde nicht altern, aber irgendwie war das nicht wirklich zu ihr vorgedrungen. Es überstieg ihre Vorstellungskraft.

Naomi setzte sich im Schneidersitz auf den Fußboden und versuchte zu begreifen, was hier vor sich ging. Sie hörte die Stimmen, doch verstand sie die gesprochenen Worte nicht.

Erst als Iker sich zu ihr hinab beugte, blickte sie auf.

»Man gewöhnt sich daran. Leandra ist zu sich gekommen. Geht´s bei dir?« Er hielt ihr ein Glas Wasser hin. »Hier. Trink einen Schluck.«

Widerspruchslos griff sie nach dem Glas und leerte es. »Danke.«

Romina saß reglos an Leandras Seite. Lautlos weinte sie. Die Tränen liefen ihre Wangen hinab und tropften ihr vom Kinn. Mit der Hand strich sie ihrer Tochter über die Stirn. »Es tut mir unendlich leid«, flüsterte sie.

Leandra setzte sich auf. »Das muss es nicht. Du konntest nicht anders. Es ist nur so ... unfassbar. Du hast dich nicht verändert.«

Iker half Naomi auf die Beine. Bewegungslos blieben sie stehen, um Romina und Leandra nicht zu stören. Nach über sechzig Jahren sahen sie sich zum ersten Mal wieder in die Augen.

Leandra wischte Romina die Tränen fort. »Endlich. Ich dachte, ich würde dich niemals wiedersehen.«

»Ich habe dich oft beobachtet. Ohne dich zu sehen, zu wissen, wie es dir geht, hätte ich all die Jahre nicht durchgehalten. Ich musste wissen, wie und wo du lebst. Die erste Zeit war ich mir noch unsicher, ob du zum Clan gehörst. Ich war noch zu unerfahren. Bald merkte ich, dass du von diesem Fluch verschont bliebst. Auch bei deiner Tochter erkannte ich sehr früh, dass sie nicht zu uns gehörte.« Sie drehte sich zu Naomi. »Bei dir gab es keine Zweifel. Ab da ließ mich der Gedanke nicht mehr los, durch dich meine Tochter zurückzubekommen.«

»Was nun geschehen ist«, flüsterte Leandra.

Romina nickte. »Weil du den Brief nicht vernichtet hast.«

»Ich konnte nicht.« Leandra knetete ihre Hände. »Erst hatte ich Angst um Luna, später dachte ich, er könnte Naomi nützlich sein.«

Naomi setzte sich den beiden gegenüber in einen Sessel. »Und wie geht es jetzt weiter?«

Romina erhob sich. »Ich werde mein Wissen an dich weitergeben. Vielleicht hast wenigstens du eine kleine Chance, irgendwann glücklich zu werden.«

»Wann fangen wir an?«, fragte Naomi. Sie konnte es kaum erwarten, endlich mehr über sich und ihre Art zu erfahren. »Und was mich schon die ganze Zeit brennend interessiert. Warum hast du mich neulich im Wald einfach zurückgelassen?«

»Das werde ich dir erklären, wenn wir unten sind.« Romina streckte Leandra die Hand entgegen, um ihr aufzuhelfen.

Leandra schnaubte laut auf. »Ich sehe vielleicht älter aus als du, aber aufstehen schaffe ich noch alleine.« Mit einem Satz sprang sie auf die Beine.

»Ich weiß, ich sollte das nicht sagen.« Iker kratzte sich am Kopf. »Aber Naomis Schwangerschaft verkompliziert alles.«

Naomi zog hörbar die Luft ein. In diesem Haus durfte sie an gar nichts denken. Hatte sie wirklich heute an das Baby oder an Roman gedacht?

»Nicht heute«, erklärte Iker. »Das weiß ich schon seit gestern. Und über das andere Thema reden wir später.«

Leandra sah von Iker zu Naomi. Da sie offensichtlich nicht nachvollziehen konnte, worum es ging, zuckte sie ratlos mit den Schultern und betrachtete ausgiebig Romina, die den Schlagabtausch zwischen Iker und Naomi mit einem Lächeln quittierte.

Naomi kannte diesen Blick in den Augen ihrer Großmutter. Es handelte sich um denselben ungläubigen Ausdruck, wie damals, als sie sich nicht von ihrer Abreise nach Maine hatte abbringen lassen.

Sie selbst konnte kaum glauben, wie jung Romina aussah. Aber das war nicht ungeheuerlicher, als die Tatsache, sich bei Vollmond in einen Panther zu verwandeln, oder heimlich jeden kleinsten Gedanken von Iker aus ihrem Kopf gestohlen zu bekommen.

»Du bist also von Roman schwanger?«, fasste Romina nach. »Im wievielten Monat?«

»Anfang Fünfter«, antwortete Leandra. »Jetzt, wo du da bist, bitte ich dich, auf sie zu achten. Alleine lasse ich sie keinesfalls mehr in den Wald.«

»Hallo?«, unterbrach Naomi. Sie musste sich beherrschen, nicht wie ein wütendes Kind mit dem Fuß aufzustampfen. »Iker belauscht mich, und ihr beide glaubt, über mein weiteres Leben bestimmen zu können? Ich bin keine Zwölf mehr!«

Wortlos verließ Iker den Raum. Naomi bebte noch immer vor Zorn, und ihr Blick wechselte von Leandra zu Romina. »Du weißt von Roman?«

Romina presste die Lippen aufeinander. Offenbar wusste sie nicht, was sie antworten sollte.

»Natürlich bist du kein kleines Kind mehr, aber es kann für dich im Wald gefährlich werden. Denk an den letzten Vollmond.« Leandras Stimme verlor an Kraft. »Wenn der alte Thursfield dich ernsthaft angegriffen hätte, wärst du ohne Rominas Hilfe höchstwahrscheinlich nicht mehr am Leben. Willst du dein Leben und das deines Kindes durch deinen Starrsinn aufs Spiel setzen?«

Das von Angst gezeichnete Gesicht ihrer Großmutter bewirkte, dass Naomi ein schlechtes Gewissen bekam. Sie wollte nicht, dass sich ihre Oma ängstigte. Niemals hätte sie ihr von dieser Nacht erzählen dürfen. Diesen Fehler beginge sie nicht nochmals.

»Bitte. Streitet doch nicht. Es ist schon schwierig genug«, wandte Romina ein.

Naomi schluckte ihren Zorn hinunter, ging auf Leandra zu und drückte sie an sich. »Ach Omilein. Alles wird gut. Du kannst mich nicht einsperren. Ich pass auf mich auf. Versprochen. Außerdem bin ich nicht mehr alleine.« Mit der Hand streichelte sie ihrer Großmutter über den Rücken.

Bisher waren es nur Briefe, Erzählungen und Geschichten gewesen. Doch jetzt? Das junge Aussehen ihrer Mutter war für Leandra der erste greifbare Beweis, dass ihre Familie außergewöhnlich war.

Naomi gestand sich ein, dass sie nicht wusste, wie es weitergehen sollte. Ihre ganze Hoffnung setzte sie auf Romina, obwohl sie nicht wusste, inwiefern Romina ihr tatsächlich helfen konnte.

»Kommt mit. Am besten, ich zeige euch, was ich im Laufe der Jahre herausgefunden habe.« Romina strich sich eine Haarsträhne hinter das Ohr und sah Naomi auffordernd an.

Ohne zu zögern, folgte sie Romina, die im Türrahmen stehen blieb, weil Leandra sich nicht von der Stelle rührte. »Leandra. Ich will dich zu nichts drängen. Du musst nicht mitkommen, wenn dir das alles zu viel ist. Aber solltest du mehr über uns erfahren wollen, bist du herzlich willkommen. Um ehrlich zu sein, betreffen einige Vorkommnisse auch deine Vergangenheit.