Eins

 

Naomi kämpfte die aufsteigenden Tränen nieder. Der Kloß in ihrem Hals schnürte ihr die Luft ab. Am liebsten hätte sie laut geschrien. Ihren ganzen Schmerz herausgebrüllt. Stattdessen unterdrückte sie den Impuls und starrte aus dem Fenster. Unter ihr lag ein trüber Wolkenteppich, dunkelgrau, wie ihre Stimmung. Fühlte es sich so an, wenn einem das Herz brach? Die an ihr nagende Bedrückung nahm mit jeder Meile zu, die das Flugzeug sie weiter von Roman fortbrachte. Ihre Entscheidung war richtig gewesen, das wusste sie. Sie hätte sie auch ohne das Versprechen an Kai getroffen. Der Gedanke an Kais traurige Augen presste ihr das Herz noch mehr zusammen. Auch er hatte sich von Cassidy getrennt, um sie nicht in Gefahr zu bringen. Umsonst. Sie war tot. Sammy hatte sie auf dem Gewissen. Und nun hatte sie Roman verlassen. Vermutlich wirkten ihre Augen jetzt genauso traurig. Die unbeschwerte Zeit war endgültig vorüber. Und damit auch die Zeit mit Roman. Sie wusste nicht, ob und wann sie ihn wiedersehen würde.

Naomi zog ihren Koffer vom Gepäckband. Ein stechender Schmerz in der Schulter ließ sie die Luft anhalten. Die kleinste Anstrengung erinnerte sie an ihre Verletzung. Die Wunde, die Sammys Reißzähne ihr zugefügt hatten, war noch nicht komplett verheilt. Roman hatte sie gesäubert, genäht und verbunden. Eigentlich hätte sie zu einem Arzt gehen müssen. Doch wie hätte sie eine solche Bisswunde erklären sollen? Durch eine glückliche Fügung war Bertram, Romans Onkel, für zwei Wochen zu seiner Familie nach Florida gereist. Dadurch hatten sie das Haus am See für sich gehabt. Keiner stellte Fragen, keiner bemerkte ihre Verwundung und selbst Roman konnte sich nun nicht mehr daran erinnern. Ebenso wenig, wie an sie.

Tränen füllten Naomis Augen. Mit einer energischen Bewegung wischte sie sich über die Wange. Sie wollte ihrer Mutter nicht mit verheulten Augen gegenübertreten. Luna würde es nicht verstehen. Sie hatte ihr nur erklärt, sie habe sich von Roman getrennt und käme deswegen nach Hause. Viel mehr wusste auch ihre Großmutter Leandra nicht. Bevor sie die Gepäckhalle durch die Schiebetüren verließ, verharrte sie einen Moment, um sich zu sammeln. Selbst wenn sie in Tränen ausbräche, könnte sie es auf ihren Liebeskummer schieben. Naomi zwang sich zu einem Lächeln. Sie machte einen Schritt auf die Türen zu, die sich automatisch vor ihr öffneten und sie wieder in ihr altes Leben in der Lüneburger Heide entließen.

Naomi entdeckte ihre Mutter sofort. Luna riss vor Freude die Hände in die Luft und rannte auf sie zu, um sie fest in ihre Arme zu schließen. Der Druck auf die Verletzung raubte Naomi den Atem. Sie biss die Zähne zusammen. Behutsam schob sie ihre Mutter von sich, küsste sie auf die Wange und zwang sich zu einem Lächeln. »Ist Oma gar nicht mitgekommen?«

»Ach, wo denkst du hin?« Luna schüttelte den Kopf und nahm ihr den Rucksack ab. »Wir freuen uns doch so, dass du endlich wieder da bist.« Luna nickte in die Richtung des nächsten Gates. »Deine Oma wartet dort. Wir wollten dich auf keinen Fall verpassen!«

Leandra drängte sich durch die wartende Menschenmasse. Naomi entdeckte in ihren Augen, dass Leandra bei ihrem Anblick erschrak. Sie warf ihrer Großmutter einen flehenden Blick zu, den diese offenbar verstand. »Naomi, ach mein Schätzchen«, flüsterte Leandra, bevor sie sie umarmte und zärtlich an sich drückte. »Gut siehst du aus. Ein wenig müde vielleicht, aber das ist ja auch kein Wunder!«

Naomi war ihr dankbar für die Lüge und freute sich aufrichtig, ihre Mutter und ihre Großmutter wiederzusehen, selbst wenn sie keine Lust hatte, irgendetwas zu erzählen. Luna plapperte munter los und erzählte Neuigkeiten aus der Nachbarschaft, sprach vom Wetter, und dass sie die ersten reifen Erdbeeren aus ihrem Garten zu einem Kuchen verarbeitet habe.

Leandra zog den Koffer hinter sich her und Naomi bemerkte, wie sie ihr von der Seite einen verstohlenen Blick zuwarf. Naomi war bewusst, dass ihre Großmutter darauf brannte, mit ihr alleine zu sein, um zu erfahren, was vorgefallen war.

Während der Fahrt vom Hamburger Flughafen nach Hause starrte Naomi aus dem Seitenfenster und nahm nur zur Hälfte wahr, was ihre Mutter zum Besten gab. Ihr Kopf war wie leer gefegt, und es fiel ihr schwer, einen klaren Gedanken zu fassen. Sie wusste einfach nicht, wie es weitergehen sollte. In fünf Tagen wäre Vollmond. Aber wohin könnte sie gehen? Gab es hier überhaupt einen passenden Platz, um sich zu verwandeln - andere Katzenmenschen, oder bliebe sie alleine und ohne einen Zufluchtsort?

Luna stellte den Wagen in der Einfahrt ab. Alles sah noch genauso aus, wie vor ein paar Monaten. Der gepflegte Garten, der hölzerne Zaun, das gemütliche Haus. Obwohl alles gleich war, kam Naomi ihr Zuhause viel kleiner vor. Sogar der Ort wirkte noch verschlafener und bedrückender auf sie als früher. Naomi seufzte. Sie wollte sich nur in ihr Zimmer verkriechen, die Bettdecke über den Kopf ziehen und ihre Ruhe haben. Nicht mehr nachdenken, keine Fragen beantworten, mit niemandem reden.

Luna wuchtete das Gepäck aus dem Fahrzeug. Naomi kam ihr zu Hilfe, doch ihre Mutter nahm ihr schnell den Koffer aus der Hand. Sie schien eilig ins Haus zu wollen. In ihren Augen lag ein Funkeln, was Naomi nicht entging.

Leandra hielt Naomi am Arm fest, während Luna auf die Haustür zusteuerte. »Sie weiß von nichts, Naomi, und so soll es auch bleiben. Du musst dich jetzt zusammenreißen.«

Naomi sah ihre Großmutter fragend an.

»Du wirst es gleich sehen. Ich versuchte, es ihr auszureden.«

Leandra ließ die Schultern hängen und ging voraus. Naomi schlurfte hinterher. Im Gang hing ein Transparent mit der Aufschrift: »Willkommen zu Hause!«

Hier stimmte etwas nicht. Die in der Luft liegende Spannung war beinahe greifbar. Bevor Naomi reagieren konnte, stürmten ihre Freunde aus der Küche, und die Hölle brach los. Naomi schloss für einen Moment die Augen. Innerlich schrie sie auf. Nichts kam ihr weniger gelegen, als eine Überraschungsparty. Sie widerstand der Versuchung, sofort aus dem Haus zu laufen. Ihre Mutter meinte es gut. Das hatte Leandra also damit gemeint, sie habe versucht, es Luna auszureden. Zu einem anderen Zeitpunkt, unter anderen Umständen, hätte Naomi sich gefreut, alle ihre Freunde um sich zu haben. Eine Überraschungsparty hatte sie sich immer lustig vorgestellt. Doch an diesem Tag kam es ihr vor wie ein wahr gewordener Albtraum.

Naomi riss sich zusammen und bemühte sich, diese Party irgendwie hinter sich zu bringen. Sie erzählte von der Aufnahmeprüfung, samt der gebrochenen Nase, und wie es im abgelegenen Maine zuging. Sie berichtete von Karstens Besuch und wie er ihr die einzige Freundin ausgespannt hatte. Alice hatte sich während seines Aufenthalts in Stillwater heftig in ihn verliebt und war ihm nach Barcelona gefolgt, wo sie jetzt gemeinsam in einer kleinen Wohnung lebten. Alles, was sie sonst beschäftigte, verschwieg sie. Kein Wort von Roman, kein Wort davon, dass sie schwanger war, kein Wort darüber, warum sie früher zurückgekehrt war. Naomi spürte den aufmerksamen Blick ihrer Großmutter. Ihre Freunde und auch ihre Mutter schienen ihre Schweigsamkeit auf die anstrengende Reise zu schieben und plauderten wild durcheinander. Nur Leandra ahnte, was tatsächlich in ihr vorging. Sie warfen sich vielsagende Blicke zu. Nach zwei Stunden beendete Leandra das Treiben.

»Leute, morgen ist auch noch ein Tag. Naomi ist todmüde. Seht sie euch an. Es ist besser, wenn wir sie nicht noch länger von ihrem Bett fernhalten.« Sie zeigte theatralisch auf die Wanduhr. »Es ist zwar erst zehn, aber Naomi ist seit vierundzwanzig Stunden auf den Beinen.«

Naomi seufzte in sich hinein und gähnte bestätigend. »Stimmt. Ich bin wirklich hundemüde.«

Nachdem ihre Freunde gegangen waren, schlurfte Naomi in den ersten Stock. Sie brauchte dringend eine heiße Dusche und ihre Ruhe. In ihrem Zimmer wusste sie wenigstens, dass sie sich nicht zusammennehmen musste, um nicht wegen ihrer finsteren und traurigen Miene irgendwelche Fragen heraufzubeschwören. Luna hatte den Koffer bereits nach oben getragen, und er lag geöffnet auf ihrem Bett. Naomi verabschiedete sich mit einem Küsschen von ihrer Mutter und dankte ihr für die Überraschungsparty. Von ihrer Großmutter war nichts zu sehen. Vermutlich hatte sie sich ebenfalls schon schlafen gelegt. Sie klopfte leise an deren Zimmertür und wünschte ihr durch die geschlossene Tür eine gute Nacht.

Wenig später stand Naomi unter der prasselnden Dusche. Sie drehte ihre Wunde schützend zur Seite. Ihr Gesicht hielt sie direkt in den warmen Wasserstrahl. Das Wasser spülte die aufsteigenden Tränen fort. Naomi schloss die Augen und ließ ihrem Kummer freien Lauf. Sie schluchzte und ihr Körper zitterte. Ohne Rücksicht auf ihre Verletzung rutsche sie an den Wandfliesen zu Boden, setzte sich in die Duschwanne und umschlang mit beiden Armen ihre Beine. Das Wasser prasselte wie ein heftiger Regenguss auf sie nieder. Sie kauerte in der Wanne, bis nur noch kaltes Wasser kam; erst dann drehte sie den Hahn zu. Fröstelnd wickelte sie sich ein Handtuch um den Körper.

Naomis Haar tropfte vor Nässe und hinterließ eine Spur auf den Fliesen. Mit hängenden Schultern betrat sie ihr Schlafzimmer und zuckte zusammen. Leandra saß neben ihrem Koffer auf dem Bett; in der Hand hielt sie einen abgegriffenen Umschlag. »Ich dachte, du schläfst schon.«

»Als ob ich einfach zu Bett gehen könnte. Ich will wissen, was dort drüben passiert ist. Du bist nicht mehr dieselbe.« Leandra sah sie auffordernd an. »Also. Erzähl schon. Und behaupte nicht, du seist müde. Das kaufe ich dir nicht ab.«

Naomi trocknete sich ab und schlang sich das Handtuch um den Kopf. Sie hatte schon so oft nackt vor ihrer Großmutter gestanden, dass ihr das völlig normal vorkam. Leandra reichte ihr den Jogginganzug, und sie schlüpfte in die Hose. Bevor sie den Sweater überstreifen konnte, hörte sie Leandra die Luft einziehen.

»Was zum Henker ...« Leandra sprang auf und drehte Naomis Körper ins Licht. »Wie ist das geschehen?«, flüsterte sie.

»Nicht weiter schlimm.« Mit einer energischen Bewegung zerrte sie am Oberteil. Der Halsausschnitt war zu eng, um über den Turban, den sie um ihr Haar geschlungen hatte, zu passen. Sie fluchte, bevor sie sich das Handtuch vom Kopf riss und endlich in ihren Joggingsachen steckte.

Naomi drehte sich zum Fenster und sah hinaus. Warum hatte sie auch gedacht, ihrer Großmutter die Verletzung verheimlichen zu können? Die hässliche Risswunde verlief von ihrem linken Arm bis zur Schulter. Selbst nach der Abheilung würden Narben bleiben. »Oma, es ist spät, und es ist eine lange Geschichte. Lass uns ein andermal darüber reden, ja?«

»Nein.« Leandra stand auf und fasste sie an den Schultern.

Naomi schloss die Augen. Diesen Ton kannte sie von Leandra. Sie ließe nicht locker, bis sie über alles genau im Bilde wäre.

»Ich weiß genau, dass du sowieso nicht schlafen kannst. Luna ist zu Bett gegangen und wir reden jetzt darüber. Deine Mutter darf nichts davon wissen. Also?« Leandra drehte sie zu sich herum.

Naomi spürte, wie ihr erneut die Tränen in die Augen stiegen, und warf sich in Leandras Arme.

Leandra strich ihr das nasse Haar aus dem Gesicht. »Meine arme Kleine. Weine ruhig. Ich bin ja da. Ich bin immer für dich da.«

Nachdem sich Naomi beruhigt hatte, schnäuzte sie sich und ließ sich auf ihr Bett fallen. Ihre Großmutter klappte den Koffer zu und stellte ihn auf den Boden, um sich zu ihr setzen zu können. »Jetzt sag schon, was ist passiert? Was hast du mir bisher unterschlagen?«

Naomi lehnte sich mit dem Rücken an das Kopfende des Bettes, umfasste ihre Beine und zuckte mit den Schultern. Es waren nur drei Monate vergangen. Ihr kam es vor wie ein ganzes Leben. Alles war verändert; fremd und beängstigend. Niemals hatte sie sich hilfloser und verlorener gefühlt. Was hatte sie verschwiegen? Viel. Sehr viel. Naomi räusperte sich.

»Ich hatte dir doch am Telefon erzählt, dass es außer mir noch andere gibt.«

Leandra nickte.

»Was ich dir nicht gesagt habe: Es sind nicht alle friedlich. Es gibt unterschiedliche Clans, und einer davon ist böse. Abgrundtief schlecht. Die Mitglieder dieses feindlichen Clans wollen uns vernichten; aus reiner Boshaftigkeit. Sie töten, was wir lieben, nur um uns zu zerstören. Und sie verstellen sich gut.«

»Was willst du damit sagen?« Leandra riss die Augen auf. »Etwa Roman? Hat er dir was getan? Bist du deswegen zurückgekommen?«

Naomi schüttelte den Kopf. »Ich kam zurück, um Roman zu schützen. Sammy. Dieser miese Dreckskerl hat sich an mich herangeschlichen, nur um Roman und mich fertigzumachen.« Instinktiv legte sie sich die Hand schützend über ihre Verletzung. »Ihm habe ich das hier zu verdanken.«

»Sammy? Ich dachte, der ist ein netter Kerl und dein Freund. Zumindest klang das in deinen Erzählungen so. Was ist nur passiert?« Leandra sah sie aufmerksam an.

»Kai hat mir vieles beigebracht und mir einiges erklärt. Er sagte, Sammy sei ein Mörder, doch ich glaubte ihm nicht. Warum auch? Sammy war für mich ein Freund. Immer charmant, immer hilfsbereit. Und als Kai mir klarmachen wollte, dass ich mich irre, habe ich ihm nicht geglaubt. Bei meiner ersten Verwandlung im Wald war Sammy für mich da, bis er mich plötzlich in einer Höhle alleine ließ und Kai später auftauchte. Ich weiß bis heute nicht, warum Sammy mich einfach in der Höhle zurückließ. Kai meinte, um seine Clanfreunde zu holen. Doch das glaube ich nicht.« Hilflos zuckte Naomi mit den Schultern. »In einem hatte Kai aber recht. Sammy wollte mir schaden. Selbst Roman. Und auch Kai konnte nichts gegen ihn ausrichten. Sammy hat Kais Freundin getötet. Es gibt zwar keine Beweise dafür, aber nach dem Kampf auf der Lichtung, bin ich überzeugt, dass Kais Vermutung stimmt. Immerhin wollte er auch Roman töten. Und mich. Beinahe wäre ihm das sogar gelungen. Kai hat beim Kampf sein Leben verloren – durch meine Schuld.« Naomi schniefte laut. »Kai sagte, ich müsse Roman verlassen, wenn ich ihn nicht ebenfalls verlieren wolle; so wie er Cassidy. Sammy ist zwar tot, aber seine Clanmitglieder werden keine Ruhe geben. Deswegen bin ich gegangen.«

Leandra schüttelte ungläubig den Kopf. Sie rieb sich die Stirn, als ob sie das Gehörte dadurch besser verstehen könnte. »Und was ist mit Roman?«

Naomi kaute auf ihrer Unterlippe. »Er hat mich gerettet und Sammy getötet. Danach brachte er mich in ein Haus an einem abgelegenen See, das seinem Onkel Bertram gehört. Sein Onkel war verreist, sodass wir dort in Sicherheit waren. Roman pflegte mich, bis es mir wieder besser ging. Bertram, der Onkel, kündigte seine Rückkehr an, und ich musste gehen.« Naomi rang mit sich. Sie klammerte sich an einen Zipfel ihrer Bettdecke, als könne ihr dieses Stück Stoff die notwendige Kraft zum Weitersprechen geben. »Ich musste verschwinden«, wiederholte Naomi leise.

»Du bist verschwunden, ohne ein Wort zu sagen?« Leandra legte ihre Hand auf Naomis und drückte sie aufmunternd.

Naomi nickte. »Ich küsste ihn ein letztes Mal und dann bin ich gegangen. Jetzt weiß er nichts mehr von mir. Nichts von mir und auch nicht davon, dass er Vater wird.« Naomis Stimme war zu einem Flüstern geworden.

Leandra zuckte beim letzten Satz zusammen. »Du bist schwanger?« Sie schloss die Augen und presste die Lippen aufeinander. Mit einem Kopfschütteln blieb sie sitzen. »Als ob ich es nicht geahnt hätte! Die Geruchsempfindlichkeit, von der du erzählt hast. Dann heute kein Wein und keine Pizza! Dazu noch diese niedergedrückte Stimmung. Hormonumstellung durch die Verwandlung. Von wegen! Stimmt wenigstens das, was du mir darüber gesagt hast? Die Verwandlung meine ich. Oder hast du auch da die Hälfte weggelassen? Hattest du Schmerzen?«

»Nein. Da habe ich dir die Wahrheit gesagt. Es ist ein merkwürdiges Gefühl. Schwer zu beschreiben. Man fühlt sich eingeengt, regelrecht eingesperrt und fiebrig. Dieses Gefühl drängt dich nach draußen; zum Treffpunkt. Sonst merkst du nicht viel. Es ist nicht schmerzhaft.« Naomi blickte auf. Diesmal drückte sie die Hand ihrer Großmutter. »Ich werde deine Hilfe brauchen, Oma. Ohne dich schaffe ich das nicht. Du musst dich um das Baby kümmern, wenn ich in den Wald muss. Versprich mir, dass du mir helfen wirst.« Naomi wischte sich die Tränen fort.

Leandra zögerte einen Augenblick. »Wie sollen wir das nur Luna beibringen?«

»Hilfst du mir nun, oder nicht?«

Ihre Großmutter nickte. »Versprochen. Aber, was hast du nun vor? Bleibst du hier?«

Darüber hatte sich Naomi noch gar keine Gedanken gemacht. Zu viel war geschehen. Sie musste unbedingt mehr über die Clans herausfinden. Gab es jemanden in ihrer Gegend? Jemand, dem sie vertrauen, und mit dem sie trainieren konnte? »Ich weiß es nicht. Es gibt unendlich viel, was ich noch nicht weiß.«

Leandra stand auf. Der vergilbte Umschlag lag auf dem Koffer. Sie nahm ihn in die Hand und drückte ihn kurz an ihre Brust, bevor sie ihn Naomi reichte.

»Was ist das?« Naomi blickte auf die verschnörkelte Schrift auf dem Umschlag. Darauf stand: For Leandra. Sonst nichts, keine Anschrift, kein Absender. Naomi sah sofort, dass der Umschlag sehr alt sein musste. Das Papier war grob, fleckig und abgegriffen. »Er ist verschlossen. Und er ist für dich. Warum hast du ihn nie geöffnet?«

»Weil die Informationen nicht für meine Augen bestimmt sind. Ich bin nicht wie du, oder wie Romina. Der Umschlag ist von ihr. Ich musste ihr versprechen, ihn erst nach meiner ersten Verwandlung zu öffnen, sonst sollte ich ihn ungeöffnet verbrennen.« Leandra ging mit schweren Schritten im Raum auf und ab. »Das konnte ich aber nicht. Ich wollte Kinder. Viele Kinder. Ich konnte nicht riskieren, wertvolle Informationen einfach zu vernichten. Luna blieb zwar das Einzige, aber als sie dann mit dir schwanger war, brachte ich es wieder nicht übers Herz. Es war wohl Bestimmung. Vielleicht steht etwas darin, was du wissen musst.« Leandra wandte sich zum Gehen. »Er gehört nun dir.« Sie griff nach der Türklinke, um Naomis Schlafzimmer zu verlassen.

»Oma. Bleib. Bitte.«

Leandra zögerte einen Augenblick, bevor sie ihre Hand von der Klinke nahm. Ihr Gesicht war aschfahl, als sie auf Naomi zuging. Der Umschlag war von Leandras Mutter. Naomi versuchte zu ergründen, was in ihrer Großmutter vorgehen mochte. Nach all den Jahren zu erfahren, was Romina ihr geschrieben hatte, bevor sie verschwand, musste beängstigend sein. Naomis Finger zitterten. Sie drehte den Umschlag in Händen. Die schwungvollen Buchstaben in englischer Schrift waren kaum noch zu erkennen. Leandra stand immer noch inmitten des Zimmers. Ihre Gestalt wirkte verloren, die für sie sonst so typische Körperspannung war verschwunden. Sie sah alt aus; zerbrechlich.

»Er ist an dich gerichtet. Du solltest ihn öffnen.« Naomi streckte ihr das Kuvert hin.

Leandra ging vorsichtig auf sie zu, gerade so, als hielte Naomi ihr eine giftige Pflanze entgegen. Mit den Fingerspitzen berührte sie das grobe Papier, bevor sie die Hand wieder zurückzog. »Ich kann nicht. Die ganzen Jahre über wollte ich erfahren, was meine Mutter niedergeschrieben hat. Und jetzt habe ich fürchterliche Angst, die Wahrheit zu lesen. Was, wenn sie mich tatsächlich einfach im Stich gelassen hat?« Leandra setzte sich auf die Bettkante, die Hände zwischen ihre Knie gepresst.

»Glaubst du das wirklich? Freiwillig hat sie dich nicht zurückgelassen. Sie hatte mit Sicherheit ihre Gründe. Sonst hätte sie dich geküsst, damit du sie vergisst und dir nicht eine Nachricht hinterlassen.« Naomi rückte dichter an ihre Großmutter heran. »Komm. Lass uns gemeinsam nachsehen.« Ihr selbst schnürte sich der Magen zusammen. Sie wusste nichts über Romina. Zumindest nichts über ihr eigentliches Leben. Leandra hatte immer behauptet, Romina sei gestorben, als Leandra selbst noch ein kleines Mädchen gewesen war, und sie wisse kaum etwas über sie. Erst als Naomis Abreise bevorstand, hatte Leandra erklärt, Romina habe sich bei Vollmond in einen Panther verwandelt und sei plötzlich spurlos verschwunden. Sie sei damals nicht gestorben. Alles sei eine große Lüge gewesen, um unnötige Fragen zu verhindern. Naomi erinnerte sich genau, wie sie über diese Verwandlungsgeschichte gelacht und ihr kein Wort geglaubt hatte. Sogar an Leandras Verstand hatte sie gezweifelt. Doch jetzt tauchte ihre Großmutter mit diesem geheimnisvollen Umschlag auf. Mit Rominas Nachlass.

Naomi nickte. »Los geht´s.« Sie steckte ihren Fingernagel in eine Ecke, die nicht komplett verschlossen schien, und riss daran. Nichts. Das Papier war stabiler, als es aussah. Sie sah sich in ihrem Zimmer um. Das Nageletui lag auf dem Tischchen vor ihrem Schminkspiegel. Mit einem Schritt war sie dort, fingerte nach der Nagelfeile und schob diese in die Öffnung. Drei kräftige Bewegungen genügten, um den Umschlag aufzuschlitzen. Sie seufzte, bevor sie sich wieder neben Leandra setzte. Naomi starrte auf den Briefbogen, den sie vorsichtig herauszog und Leandra übergab.

Leandras Hände zitterten. Sie faltete den Papierbogen auf und räusperte sich.

 

Mein geliebtes Kind, ich hoffe, du wirst nie diese Zeilen lesen. Es fällt mir unglaublich schwer, sie niederzuschreiben. Du kennst mein Geheimnis, und ich spüre in meinem Herzen, dass du es bis zum heutigen Tage bewahrt hast.

 

Leandras Stimme brach. Für einen Moment legte sie ihren Kopf in den Nacken und blickte zur Zimmerdecke.

Naomi legte ihr die Hand auf das Knie. »Oma, du hast dein Versprechen nicht gebrochen. Du selbst hast gesagt, Romina hätte gewollt, dass ich es erfahre. Du hast dir nichts vorzuwerfen. Was hättest du denn tun sollen?«

Leandra atmete schwer ein und aus. Dann las sie weiter.

 

Du weißt, ich wäre bei euch geblieben, wenn es mir irgend möglich gewesen wäre. Doch das war es nicht. Ich habe euch in Gefahr gebracht und musste euch schützen. Ich wurde getäuscht und verraten. Freund und Feind vermischten sich, um zu täuschen und zu vernichten. Sei immer auf der Hut. Traue nur dir selbst und wäge stets ab, bevor du jemandem etwas von dir preisgibst. Auch wenn es mir verboten ist, muss ich dir zumindest auf deinem schweren Weg die notwendige Hilfe zuteilwerden lassen. Du kannst ihn unmöglich alleine gehen.

Weißt du noch, was ich dir früher über den Kuss gesagt habe? Man küsst nicht nur aus Liebe. Erinnerst du dich, wie ich diesen Kuss genannt habe? Weißt du noch das genaue Wort? Du hast geschworen, es nie zu vergessen. Dieses Wort wird dich zu mir führen. Verrate es nie. Niemandem. Auch nicht Matthew Hedleys Nachkommen. Matthew ist ein aufrechter Mann, doch er ist alt. Er wird nicht mehr lange als Anwalt tätig sein und sich bald zurückziehen. Ich weiß, er wird den Schlüssel an seine Nachfolger weitergeben. An Leute, die ich nicht kenne. Ich bin mir des Risikos bewusst. Aus diesem Grund liegen alle Informationen, die ich in den kommenden Jahren sammeln werde, in einem Schließfach bei der Coutts & Co Bank am Cavendish Square in London. Nur wir beide sind im Besitz aller notwendigen Angaben, um es zu öffnen. Matthew hat einen Schlüssel, den er dir aushändigen wird, die Bank hat den anderen. Was fehlt, ist das hinterlegte Codewort, das nur wir beide kennen.

Ich werde immer auf dich achtgeben. Du wirst es nicht spüren, aber ich werde immer da sein. Glaube und vertraue mir.

In ewiger Liebe, deine Mutter.

 

Leandra ließ die Seite sinken. Tränen standen in ihren Augen. Ihre Schultern bebten. Naomi konnte kaum erahnen, was in ihrer Großmutter vorgehen musste. Romina hatte Leandra verlassen, um sie zu schützen; aus demselben Grund, weswegen sie Roman verlassen hatte. Naomi grübelte über den Inhalt des Briefes nach. Sie hatte auf Erklärungen gehofft, auf irgendwelche Ratschläge, doch war sie nur auf ein weiteres Rätsel gestoßen. Ein geheimes Schließfach, ein Codewort, noch mehr Hinweise auf die Gefahren des gegnerischen Clans. Romina musste es ähnlich ergangen sein, wie ihr selbst mit Sammy. Er hatte sich als Freund gezeigt, nur um in ihre Nähe zu kommen und sie hintergehen zu können. »Oma, meinte deine Mutter den Kuss des Vergessens?«

Leandra schwieg, stand auf und ging zum Fenster.

»Sie wollte uns schützen.« In ihrer Stimme lag Erleichterung. »Auch wenn ich überzeugt davon war, dass sie nicht grundlos gegangen ist, nagten immer Zweifel an mir. Sie hätte doch mit mir reden können.«

Naomi trat hinter ihre Großmutter. »Du warst ein Kind. Was hätte sie dir denn sagen sollen?«

»Irgendwas.« Leandra zuckte hilflos mit den Schultern. »Sie hätte nicht einfach so verschwinden dürfen.«

»Wir müssen nach London.« Naomi drehte ihre Großmutter zu sich um. »Ist das Passwort »Kuss des Vergessens«? Erinnerst du dich?«

Leandras Augen blitzten auf. »So dumm war meine Mutter nicht. Alle Clanmitglieder wissen um diesen Kuss. Hätte jemand diesen Brief in die Finger bekommen, wäre es ein Kinderspiel gewesen, das Schließfach zu öffnen. Wann fahren wir los?«

Naomi runzelte die Stirn. »Nach dem nächsten Vollmond. Bis dahin können wir auch die Adresse des Anwaltsbüros herausfinden. Ich möchte mich nicht in London verwandeln. Das wäre zu gefährlich.«

Leandra nickte.

»Wie ist nun das Codewort?« Naomi ging zum Bett und griff nach dem Brief, als könne sie darin die Lösung finden.

»Alles zu seiner Zeit, Naomi. Du erfährst es in London. Sonst kommst du noch auf die Idee, mich einfach hier sitzen zu lassen.« Leandras Augen funkelten. »Das wird ein Abenteuer, das ich mir nicht entgehen lasse.«

Naomi prustete entrüstet los. »Wie kommst du nur auf diese Schnapsidee?«

»Denke du lieber darüber nach, was wir Luna sagen, damit wir ohne sie nach London fahren können.« Leandra gähnte und sah auf ihre Armbanduhr. »Ich gehe jetzt schlafen.«

Naomi küsste ihre Großmutter, bevor diese, mit dem Brief in der Hand, das Zimmer verließ. Leandra würde mit Sicherheit nicht schlafen. Sie würde darüber nachgrübeln, was zwischen den Zeilen stand. Deswegen hatte sie auch den Brief mitgenommen. Daran zweifelte Naomi keine Sekunde.

Naomi lag mit offenen Augen im Bett. Sie musste also nach London reisen, wenn sie die Aufzeichnungen von Romina einsehen wollte. Was war damals geschehen, dass Romina so überstürzt verschwand? Würde sie die Wahrheit in diesem ominösen Schließfach finden? Naomi hoffte es. Ebenso hoffte sie, mehr über die Clans zu erfahren. Es musste Dokumente geben. Listen der Mitglieder. Listen der Feinde, damit man sich vor ihnen schützen konnte.

Naomi setzte sich auf. Wie war der Name des Anwalts? Matthew Hedley. Als Romina zu ihm ging, musste sie um die dreißig Jahre alt gewesen sein. Leandra war noch ein Mädchen gewesen und jetzt fünfundsechzig Jahre alt. Wenn Romina noch lebte, wäre sie heute neunzig. Könnte Romina noch am Leben sein? Naomis Körper durchzog ein Kribbeln. Sie wagte kaum, darüber nachzudenken. Doch, was wäre, wenn es das Anwaltsbüro überhaupt nicht mehr gab? Dann wären alle Informationen verloren. Der Gedanke an das Schließfach ließ ihr keine Ruhe.

Naomi schlug die Bettdecke zurück, knipste die Nachttischlampe an und stand auf, um ihren Laptop zu holen. Während das Gerät startete, wippte ihr Fuß nervös auf und ab. Endlich erschien die Benutzeroberfläche und die Internetverbindung stand. In die Suchmaschine gab sie den Namen des Anwalts ein. In Großbritannien gab es unzählige Matthew Hedleys. Sie versuchte es in Verbindung mit London und Anwalt. Die Ergebnisliste war deutlich kürzer. Sie fand einen Artikel in der London Daily. Es war ein Nachruf aus dem Jahr 1962. Matthew Hedley war gestorben, was Naomi nicht weiter verwunderte. Nach Rominas Aussage war er kein junger Mann mehr gewesen, als sie ihm den Schlüssel anvertraut hatte. Doch wer hatte die Kanzlei übernommen?

Naomi suchte nach weiteren Todesanzeigen. Sie fand unzählige Anzeigen von Geschäftspartnern, bis sie endlich auf einen Nachruf von Hedleys Familie in der Times stieß. Matthew Hedley hatte drei Töchter hinterlassen, doch keine davon war Anwältin. Es musste jemanden geben, der dieses Anwaltsbüro weitergeführt hatte.

Dreißig Minuten später entdeckte sie einen Artikel über die Hochzeit von Diane Hedley, der mittleren Tochter. Ein halbes Jahr nach dem Tod ihres Vaters heiratete sie einen jungen Anwalt, der im Anschluss die Kanzlei übernahm. Ein gewisser Walter Thursfield. Sie durchforstete das Internet nach weiteren Informationen, bis sie die Anschrift fand. Eine E-Mail-Adresse war ebenfalls angegeben. Naomi hackte einige Sätze in die Tastatur, klappte den Laptop zu und schlich auf den Gang hinaus. Sie legte ein Ohr an Leandras Schlafzimmertür. Kein Geräusch. Naomi grinste und drückte die Türklinke herunter.

Das Licht brannte. »Wusste ich doch, dass du nicht schläfst!« Naomi huschte ins Zimmer und schloss geräuschlos die Tür.

»Und woher?« Leandra saß aufrecht im Bett. Rominas Brief lag geöffnet vor ihr auf der Bettdecke.

»Ich habe an der Tür gelauscht, und nachdem ich kein Schnarchen hörte, wusste ich, dass du noch wach bist.« Sie ging auf das Bett zu und setzte sich.

Leandra zog die Augenbrauen zusammen. »Ich schnarche nicht.«

»Nicht, wenn du wach bist.« Naomi klappte den Laptop auf und zeigte ihrer Großmutter die Adresse der Kanzlei. »Wir können gleich eine E-Mail hinschicken. Dazu brauche ich aber deinen Mädchennamen.«

Leandras Augen weiteten sich. »Jetzt?«

Naomi nickte. »Es fehlt nur noch dein Name von damals.«

»Thomson. Leandra Jean Thomson.«

Naomi gab den Namen ein und las Leandra anschließend die Mail vor, in der sie anfragte, ob eine Romina Thomson für ihre Tochter Leandra Jean Thomson einen Schlüssel oder Dokumente hinterlegt hätte. Naomi gab nur Leandras Namen an, keine Adresse, keine Telefonnummer; nur den Hinweis, sie würde im Laufe des kommenden Tages anrufen. Bevor Leandra etwas erwidern konnte, drückte Naomi auf das Absendezeichen.

»Zu spät. Die E-Mail ist weg. Mal sehen, was wir morgen herausfinden.« Naomi beugte sich zu ihrer Großmutter hinunter und küsste sie. »Jetzt wird aber geschlafen, sonst erreichen wir morgen gar nichts, außer wir schütten literweise Kaffee in uns rein. Und Oma, grübel nicht weiter über den Brief nach, ok?«