Sechs

 

Naomi telefonierte mit ihrer Mutter. Sie erzählte von ihrem Trainingsplan, den sie die letzten neun Tage durchgezogen hatte. Sie war völlig fertig, hatte aber ihre Schwimmzeiten und die Trefferquote beim Basketball verbessert.

»Dieser Sammy muss ja ein netter Typ sein«, sagte ihre Mutter.

Naomi nickte. »Stimmt. Wir haben jeden Abend trainiert. Er macht sogar früher Feierabend, um mir zu helfen. Wenn nur nicht alles umsonst ist.«

»Hey, nicht so pessimistisch. Du bist doch sonst nicht so«, versuchte ihre Mutter sie aufzumuntern.

Naomi atmete hörbar aus. »Ach, du hast leicht reden, Mama. Ich darf morgen nicht durchfallen. Es wäre einfach  ...«

»Ach was. Selbst wenn du es nicht schaffst, muss es ja keiner erfahren. Du kommst einfach nach Hause und fertig.«

Das wollte sie auf gar keinen Fall. Sie musste es einfach schaffen. Allein, wenn sie an den mitleidigen Blick von Robert dachte. Eines Abends hatte er sie ausgerechnet beim Schwimmen beobachtet. Das war immer noch ihre große Schwäche. Ihre Zeit für die hundert Meter Brustschwimmen war zwar besser geworden, aber sie würde es nicht schaffen. Da hatte sie beim Basketball noch bessere Chancen.

Naomi beendete das Gespräch und sah auf die Uhr. Sammy würde gleich kommen. Zum letzten Training. Sie war ihm unendlich dankbar. Seine Tricks funktionierten. Sie traf bedeutend öfter, und auch bei den Zweikämpfen schaffte sie manchmal einen Treffer. Sammy war ihr ein richtig guter Freund geworden. Naomi mochte ihn und war gern mit ihm zusammen. Sie hatte bemerkt, dass Sammy sie anders ansah, als am Anfang, doch konnte sie sich wegen seiner Gefühle keine Gedanken machen. So lange er sie nicht darauf ansprach, war alles bestens. Erst kam die Prüfung. Danach konnte sie sich überlegen, wie es mit Sammy weitergehen sollte. Er hatte sich wirklich ins Zeug gelegt, sich nachmittags frei genommen, nur um mit ihr zu trainieren. Ihr Programm war so straff, dass sie keine Zeit mehr gefunden hatte, die Gegend zu erkunden. Der Waldlauf fehlte ihr. Ab morgen wäre alles anders. Sie hätte entweder Zeit, wieder durch die Wälder zu laufen, oder sie müsste ihre Koffer packen. Naomi straffte die Schultern, um sich selbst zu animieren und ging auf den Parkplatz hinaus, wo Sammy auf sie wartete.

 

*

 

Naomi sprang aus dem Bett. Sie hatte die ganze Nacht nicht geschlafen und sich gezwungen liegen zu bleiben, bis ihr Wecker um sieben Uhr klingelte. Um acht Uhr saß sie vor einer Tasse Kaffee und zwei Toastbrotscheiben. Sie zwang sich, wenigstens einen Toast zu essen, ansonsten würde sie die gewaltige Anstrengung nicht überstehen. Die Wanduhr tickte leise. Meine Zeit läuft ab, dachte Naomi.

Amy trat neben ihren Tisch. »Heute ist der große Tag?«

Naomi nickte und stand auf.

»Kindchen, du hast hart trainiert, und das ist schon eine ordentliche Leistung. Ich sehe hier so viele kommen und gehen, die sich keine Mühe geben, aber du? Du ackerst wie ein Maultier.« Amy zog sie an ihren gewaltigen Leib und drückte sie. Naomi kamen vor Rührung beinahe die Tränen. Durch diese Umarmung bemerkte sie, wie sehr sie ihre Mutter und ihre Oma vermisste. Niemand, der sie anfeuerte, niemand, der ihr Mut zusprach. Sie fühlte sich alleine auf der Welt. Verlassen. Mit einem Mal überkam sie das große Heulen. Verstohlen wischte sie sich die Tränen aus dem Gesicht.

»Na, wer wird denn  ...« Amy schob sie von sich und hielt sie an beiden Armen fest. »Wer soll denn an dich glauben, wenn du es selbst nicht tust? Nur Mut.« Amy zog sie nochmals an sich, gab ihr einen Klaps auf den Rücken und wünschte ihr viel Glück.

Naomi ging in den Hotelgarten. Sie lief am Ufer entlang, machte Streck- und Dehnübungen, bis sie bemerkte, dass sie versuchte, Zeit zu schinden. Sie musste sich auf dem Sportgelände sowieso warmlaufen. Die Sporttasche über die Schulter geworfen, überquerte sie den Parkplatz. »Was machst du denn hier?«

Sammy wartete neben seinem Wagen. Er öffnete die Beifahrertür und lachte. »Dachtest du wirklich, ich würde mir die große Show entgehen lassen?«

Naomi stieg ein. Ein Lächeln umspielte ihre Lippen. Sie war nicht allein. Sammy war hier. Er würde sie anfeuern und unterstützen. Sammy war der beste Typ der Welt! Ihr flaues Gefühl im Magen wich einem Kribbeln.

 

Robert wartete schon auf dem Sportplatz. Naomi beobachtete, wie er auf die Uhr sah und zufrieden nickte. Es war kurz vor neun Uhr. Sammy stieg ebenfalls aus dem Wagen. Er nahm Naomi die Tasche ab und ging neben den beiden her. Naomi bemerkte Roberts Gesichtsausdruck. Den Mund fest zusammengekniffen, stapfte er voraus. Sammys Anwesenheit gefiel ihm offensichtlich nicht. Aber, das war Naomi egal. Sie war froh, Sammy in ihrer Nähe zu wissen.

Außer Naomi mussten fünf weitere Studenten die Prüfung ablegen. Punkt neun Uhr waren alle da. Drei junge Männer und zwei zierliche Frauen. Naomi nahm sich nicht die Zeit, sie genauer anzusehen. Sie schloss die Augen, atmete tief ein und aus, um sich zu konzentrieren.

Robert jagte sie fünf Runden um den Platz. Naomi sah aus den Augenwinkeln, wie sich Zuschauer auf der Tribüne tummelten. Sammy saß ebenfalls dort. Kleinere Grüppchen, einzelne Familienmitglieder; alle schienen gespannt, wie die Prüflinge abschnitten.

Beim Hochsprung fiel eine Studentin durch, sie hatte alle drei Versuche versaut. Sie tat Naomi Leid. Gleich die erste Disziplin zu vergeigen, war demotivierend. Den Dreisprung schafften sie alle problemlos, auch das Kugelstoßen. Beim 100-Meter-Lauf startete das Mädchen, das beim Hochsprung durchgefallen war, direkt neben ihr. Naomi sah nur noch den blonden Pferdeschwanz vor sich. Er hatte auf sie die Wirkung einer Karotte vor der Nase eines Pferdes. Sie starrte nur auf den blonden Zopf, der hin und her schwang, holte immer weiter aus, um auf gleiche Höhe zu kommen. Naomi lief so schnell sie konnte, trotzdem schaffte sie es nicht. Der Blondzopf hatte sie abgehängt. Naomi hörte die durchgesagten Zeiten. 13,1 Sekunden für den Blondzopf, der sich als Alice entpuppte. Naomi hörte ihren Namen durch den Lautsprecher. Die genannte Zeit 13,3 Sekunden. Naomi reckte die Faust in den Himmel und fiel der überraschten Alice in die Arme. »So schnell war ich noch nie. Danke. Das lag an dir!«

Alice strahlte sie an. »Laufen und Schwimmen sind meine besten Disziplinen.«

Naomi nickte anerkennend. »Jetzt weißt du, wen du beim Schwimmen neben dir haben wirst.«

Naomi und Alice absolvierten die nächsten Prüfungen erfolgreich. Alice versenkte jeden Ball im Korb und gewann jeden Zweikampf gegen ihren Trainingspartner. Vor Naomi lagen noch Basketball, Kampfsport und Schwimmen.

Als Naomi den Basketballplatz betrat, hörte sie Sammy rufen. Sie drehte sich zu ihm und sah, wie er die Arme in die Luft reckte; die Daumen gedrückt. Ihr Gegner hatte den Ball, er dribbelte ihn problemlos um Naomi herum und warf ihn locker in den Korb. Naomi schloss kurz die Augen. Konzentriere dich, du kannst es schaffen, motivierte sie sich. Die nächste Runde ging tatsächlich an sie. Ihr Gegner stolperte und verlor den Ball. Naomi griff danach und traf den Korb. Gleichstand. Ihr Gegner sah immer wieder zu den Zuschauern. Naomi bemerkte, dass ihn irgendetwas aus dem Konzept brachte. Eine dunkelhaarige Frau saß ganz oben auf der rechten Tribüne und unterhielt sich mit einem Mann, der ihr etwas ins Ohr flüsterte, was sie offensichtlich amüsierte. Ein Lächeln breitete sich auf ihrem Gesicht aus. Ihr Gegner starrte auf genau dieses Pärchen.

Was auch immer er mit dieser Frau zu schaffen hatte, für Naomi war es ein Wink des Schicksals. Sie ergatterte immer wieder den Ball, traf jeden Wurf und gewann. Naomi jaulte vor Freude, hüpfte wie ein Gummiball auf und ab und fiel Sammy in die Arme, der von der Tribüne gestürmt war, um ihr zu gratulieren. Naomi war so aus dem Häuschen, dass sie Sammy einen Kuss auf den Mund drückte. Sammy riss überrascht die Augen auf. In diesem Moment war es Naomi egal, wie er den Kuss deutete und ob andere vielleicht ebenfalls falsche Schlüsse zogen. Sie hatte es geschafft. Nur das zählte. Sie strahlten sich an.

»Wenn sich das junge Glück nun wieder trennen könnte. Ich warte«, brummte Robert.

Naomi merkte, wie sie errötete. Es war ihr peinlich, dass Robert sie vor allen ermahnte. Naomi folgte Robert in die Kampfsportarena. Sammy verzog das Gesicht und trottete mit Abstand hinterher.

Kampfsport war Naomis Stärke. Sie sah sich nach Alice um, die sich von zwei Studenten verabschiedete. Naomi war vor lauter Freude entgangen, dass zwei Prüfungsteilnehmer mit Basketball in der zweiten Disziplin durchgefallen waren. Naomi sah den beiden bedauernd nach. Aber Naomi konnte trotzdem ihre eigene Freude kaum im Zaum halten. Sie wusste, es war gemein, mit einem breiten Grinsen im Gesicht herumzulaufen; aber, was sollte sie machen? Sie platzte beinahe vor Glück.

Naomi zog sich die Schuhe aus, legte ihren Karateanzug an und verknotete den braunen Gürtel. Ihr Wettkampfgegner wartete in der Mitte der Gummimatte. Naomi zog eine Augenbraue hoch, als sie ihn ansah. Es war der gleiche Gegner, gegen den sie Basketball gespielt hatte. Wenn er immer noch so durcheinander war, hätte sie leichtes Spiel. Sie ging auf ihren Gegner zu, grüßte ihn und entfernte sich, um ihre Kampfstellung einzunehmen, nachdem sie ihren Zahnschutz in den Mund geschoben hatte. Sie war bereit. Der Gong ertönte. Ihr Gegner rührte sich nicht. Also blieb ihr nichts anderes übrig, als anzugreifen. Sie zielte mit ihrem Arm auf seine Brust, schlug zu, er wehrte ab. Nach drei Runden lag Naomi eine Runde hinten. Der Gong für die nächste Runde ertönte. Naomi tänzelte auf ihn zu, die Hände abwehrbereit. Sie holte mit dem Bein aus und traf ihn in die Seite. Naomis Tritt war stärker ausgefallen, als beabsichtigt. Bei einem solchen Wettbewerb durfte der Schlag nur berühren und andeuten. Der Tritt brachte ihren Gegner komplett aus dem Konzept. Er hob das Bein, trat mit voller Wucht gegen Naomis Oberschenkel. Ein heftiger Schmerz durchzuckte sie. Noch bevor sie zu Atem kam oder ihr verletztes Bein wieder auf den Boden stellen konnte, setzte er mit einem weiteren Schlag nach. Naomi sah, wie seine Handkante auf ihr Gesicht zusauste. Sie hörte das Knirschen von Knochen. Vor ihren Augen tauchten grelle Blitzlichter auf, bevor eine undurchdringbare Dunkelheit sie umfing. Sie strauchelte und fiel; den Aufprall auf dem Boden spürte sie nicht mehr.

Naomi dröhnte der Schädel, ihr Gesicht brannte, ihr war übel und kalt. Um sich herum hörte sie Stimmen. Irgendjemand sprach beruhigend auf sie ein. Robert fluchte und schimpfte. Jemand anders wiederholte ständig, es täte ihm Leid.

»Sie kommt zu sich.«

Naomi schlug die Augen auf. Über sie gebeugt, leuchtete ihr jemand im weißen Kittel mit einer Taschenlampe in die Augen. Das Licht schmerzte, sie schloss die Augen.

»Die Augenreaktion ist okay, es hat also nur die Nase erwischt. Die aber richtig.«

Robert stampfte mit dem Fuß auf. »Was zum Teufel hat dich geritten? So zuzuschlagen!«

Naomi öffnete die Augen. Neben Robert fuchtelte ihr Gegner hilflos mit den Händen. »Sie hat mir einen Tritt verpasst. Instinktiv gab ich kontra.«

»Ach, geh mir aus den Augen«, brummte Robert. »Du bist heute zu nichts zu gebrauchen!«

Bevor ihr Gegner verschwand, beugte er sich zu Naomi hinunter. »Tut mir echt Leid mit deiner Nase.«

Alice saß neben Naomi. Sie drückte ihr die Hand. »Hast ordentlich was eingesteckt. Wie geht´s?«

Naomi versuchte, sich bequemer aufzusetzen. In ihrem Kopf wummerte es, und vor ihren Augen verschwammen die Konturen. In ihrem rechten Bein pochte es heftig. Alice drückte ihr einen Becher Wasser in die Hand. Sie trank ihn automatisch leer. Das kalte Wasser schmeckte metallisch; nach Blut. Was hatten sie über ihre Nase gesagt? Naomi fasste sich ins Gesicht. Die leichte Berührung mit dem Zeigefinger genügte, um ihr vor Schmerz die Tränen in die Augen zu treiben. Tamponaden steckten in ihren Nasenlöchern. Kaltes Wasser lief ihr über den Rücken. Sie zog das nasse Handtuch weg.

»Jetzt aber ab in die Klinik.« Der Sanitäter hob sie mit Hilfe von Robert auf eine Trage.

 

Als Naomi aus dem Behandlungszimmer humpelte, tigerte Robert im Gang auf und ab. Sammy saß auf einer Bank; neben sich ihre Sporttasche, an die sie gar nicht mehr gedacht hatte. Sammy war im Sitz zusammengesunken und bemerkte sie erst, als Robert mit schnellen Schritten auf sie zukam. »Wow, das war in Rekordzeit.« Robert trat näher an sie heran, hob ihr Kinn an und drehte ihren Kopf vorsichtig von links nach rechts.

»Rekordzeit? Der Arzt hat ewig gebraucht. Die Nase soll aber wieder in Ordnung kommen.« Naomi wusste, wie sie aussah. Sie hatte sich ihre Nase im Behandlungsraum im Spiegel angesehen. Nachdem die Tamponaden entfernt worden waren, hatte die Blutung wieder eingesetzt. Ihr Gesicht war zwar nicht mehr blutverschmiert, aber ihre Nase war aufgeschwollen und an der linken Seite grün verfärbt. Morgen sähe es noch schlimmer aus. Sammy brachte bei ihrem Anblick kein Wort heraus. Er starrte sie nur aus aufgerissen blauen Augen an. Er sah aus, als gäbe er sich persönlich die Schuld.

»Hey Sam, das wird schon wieder. Ist doch nur die Nase.« Naomi rang sich ein Lächeln ab.

Robert lachte los. Es klang wie das Lachen einer Hyäne. »Ne, Mädchen. Bisher hat es noch niemand auf eine gebrochene Nase während der Aufnahmeprüfung gebracht.«

Naomi zuckte unwillkürlich zusammen. Die Aufnahmeprüfung! Die Schwimmprüfung konnte sie in ihrem Zustand vergessen, und beim Karate hatte sie mit einem Punkt zurückgelegen. »Kann ich die Prüfung wiederholen?«, flüsterte sie.

»Darüber habe ich noch gar nicht nachgedacht.« Robert rieb sich das Kinn. »Mal sehen.«

Er hakte Naomi unter und zog sie mit sich in Richtung Ausgang. Bei jedem Schritt zuckte sie wegen ihres schmerzenden Oberschenkels zusammen. Sammy wollte ihr helfen und etwas sagen, doch Naomis warnender Blick ließ ihn verstummen.

Bei jedem Schritt hätte sie am liebsten losgeheult. Sie biss sich auf die Zähne und setzte einen Fuß vor den anderen. Es war nicht ihre erste Sportverletzung und wäre mit Sicherheit auch nicht ihre letzte. Vor ihrem Tutor wollte sie keine Schwäche eingestehen. Wenn sie nur die Prüfung wiederholen konnte. Bis sie wieder fit genug wäre, würden locker zwei Wochen vergehen. Die Nase musste wieder zusammenwachsen, auch ihr Bein hatte einen ordentlichen Schlag abbekommen.

Vor der Klinik blieb Robert vor einer Bank stehen. Er half Naomi, sich zu setzen und sah sie lange an.

Sie reckte ihr Kinn nach vorn. »Robert. Ich will die Prüfung nochmal machen.« Sammy ließ sich neben sie auf die Bank fallen. Er nahm ihre Hand und drückte sie kurz. Die aufmunternde Geste machte sie noch mutiger. »Sag was.«

Robert sah sie immer noch an. »Nein. Das wird nicht ...«

»Nein?«, unterbrach sie ihn. »Warum nicht?« Naomi sprang auf die Beine, strauchelte kurz und stand Auge in Auge mit Robert, bereit um die Wiederholung zu kämpfen. Er musste ihr einfach noch eine Chance geben.

»Das wird nicht nötig sein. Durch das begangene Foul hast du den Kampf gewonnen. Das gab zwei Strafpunkte, damit lagst du zum Schluss einen Punkt vorn.« Robert legte ihr die Hand auf die Schulter und blinzelte ihr verschwörerisch zu. »Ich habe dich beobachtet. Du wärst beim Schwimmen durchgefallen, aber das spielt jetzt keine Rolle mehr.«

Naomi grinste schief, nur um im nächsten Augenblick vor Schmerzen aufzustöhnen, als es in ihrer Nase widerlich knirschte. Ihr geschundener Körper verhinderte, dass sie vor Freude in die Luft sprang. Sie hatte es geschafft. Sie konnte tatsächlich bleiben. »Danke.« Robert nickte kurz zum Abschied und verschwand.

Sammy stand neben ihr. Er wollte sie auf die Wange küssen. Beim Anblick auf die Schiene und das zugeschwollene Gesicht, wich er wieder zurück. »Gratuliere! Mit feiern ist wohl nichts, oder?«

Naomi verneinte. »Ich will mich einfach nur hinlegen und mir einen Film anschauen.« Sammy kam ihr zuvor, als sie nach ihrer Sporttasche greifen wollte. »Danke Sammy, für alles.«

Sammy lächelte sie an. »Kann ich sonst noch etwas für dich tun?«

»Könnten wir bei der Pizzeria anhalten? Ich habe Hunger und will mich einfach nur in meinem Zimmer verkriechen.«

 

*

 

Amy schoss trotz ihres Umfangs in einer atemberaubenden Geschwindigkeit hinter der Rezeption hervor. »Kindchen, was ist denn mit dir passiert?« Sie nahm Sammy die Sporttasche und den Pizzakarton aus der Hand. »Ich kümmere mich schon gut um sie«, fertigte sie ihn ab.

Sammy verabschiedete sich mit einem leicht verärgerten Blick auf Amy. Naomi fing seinen Blick auf. »Sammy, ich ruf dich morgen an, ja?«

Amy zog sie mit sich. »Deine Mutter und deine Oma haben angerufen. Sie wollten wissen, wie die Prüfung gelaufen ist.«

Naomi seufzte. Wie sollte sie ihnen nur das mit ihrer Nase beibringen?

»Ach, Mädchen, so schlimm ist eine verpatzte Prüfung doch gar nicht«, plapperte Amy weiter.

»Amy, ich hab´s geschafft. Trotzdem fühle ich mich aber, als hätte mich einer von euren Schwarzbären durch die Mangel gedreht.«

Amy prustete los. »Solange du deinen Humor noch hast, gibt es nichts, was ein heißes Bad nicht in Ordnung bringen könnte.«

 

Naomi saß auf ihrem Bett. Sie starrte das Telefon an, als es an der Tür klopfte.

Amy überreichte ihr feierlich einen Badezusatz. »Zwei Verschlusskappen davon ins Badewasser und du fühlst dich wie neu. Sogar die Muskeln eines Holzfällers nach fünfzehn Stunden Arbeit werden damit wieder locker, glaub mir, Mädchen.« Amys rote Wangen leuchteten noch mehr, als sie vielsagend nickte.

Naomi bedankte sich und versprach, die vorgeschriebene Menge zu benutzen. Das klingelnde Telefon unterbrach das Gespräch.

»Hallo Oma«, meldete sie sich.

»Wo steckst du nur? Wir sterben hier vor Neugierde.« Sie bemerkte den vorwurfsvollen Klang in der Stimme ihrer Großmutter.

»Die Prüfungen haben länger gedauert. Ich bin eben erst zurückgekommen.« Naomi knüllte das Kopfkissen zusammen und legte sich auf das Bett. Naomi rang mit sich, ob sie sagen sollte, dass sie direkt aus dem Krankenhaus kam.

»Bist du erkältet? Deine Stimme hört sich so komisch an.«

Ihre Großmutter nahm ihr mit dieser simplen Frage die Entscheidung ab. »Meine Nase ist zugeschwollen. Nicht weiter schlimm. Jetzt lass mich aber erzählen, ja?«