Vierzehn

 

»Es wird Zeit«, flüsterte eine Stimme dicht an Naomis Ohr. Sie schreckte hoch. Kai. Er hatte sie geweckt.

»Gib mir noch fünf Minuten.« Naomi zog sich die Bettdecke über den Kopf. »Bitte.«

Kai verließ das Schlafzimmer. Naomi hörte seine Schritte. Schlagartig war sie hellwach. Die vergangene Nacht war wieder präsent. Sie strampelte die Decke weg. Romans Gesicht tauchte vor ihrem inneren Auge auf. Der Anruf war überfällig. Er würde sich um sie sorgen. Vielleicht wäre er auch wütend auf sie, weil sie ohne ein Wort verschwunden war. Auf jeden Fall musste sie ihn anrufen. Die Geräusche aus der Küche lockten sie an. Eine Tasse Kaffee würde ihr gut tun.

Mit einem Seufzer schwang sie die Beine aus dem Bett. Für einen kurzen Moment blieb sie ruhig darauf sitzen. Alles kam ihr noch wie ein Traum vor. Sie saß in einem fremden Zimmer, hatte dort geschlafen und wusste nicht, wie es weitergehen sollte. Zum ersten Mal in ihrem Leben fühlte sie sich hilflos. Geradezu ausgeliefert. Ihre Kratzwunden juckten. Sie zog ein Hosenbein hoch. Rote Striemen zierten ihre Beine. Behutsam fuhr sie darüber. Die aufgerissenen Stellen schienen oberflächlich zu sein. Um sich die Krusten nicht aufzureißen, ignorierte sie den Juckreiz und zog die Hose wieder darüber. Zu allererst würde sie sich einen Kaffee genehmigen, und dann musste sie Roman anrufen.

Kai stand in der Küche und hielt zwei Kaffeebecher in den Händen. Er streckte ihr einen entgegen. »Ich wollte ihn dir gerade bringen. Wie geht es dir?«

Naomi nahm den Becher und zuckte mit den Schultern. »Ich bin okay.« Um Kais Blick auszuweichen, ging sie ins Wohnzimmer. »Hast du eigentlich ein Telefon?« Sie blickte sich suchend um.

»Dein Freund muss warten.« Kai kam auf sie zu. »Dazu ist keine Zeit. Was willst du ihm denn sagen?«

Naomi nippte am Kaffee. Das wusste sie selbst noch nicht. Im Moment wünschte sie sich nur, Romans Stimme zu hören. Er war die Wirklichkeit. Das einzig Echte in ihrem verkorksten Leben.

»Das dachte ich mir«, sagte Kai.

»Du weißt auch alles, was?« Naomi ging zum Fenster und starrte in die untergehende Sonne. »Zumindest bildest du es dir ein.«

»Nun sei mal nicht so feindselig.« Kai legte seine Hand auf ihre Schulter. »Keiner hat behauptet, dass es leicht wäre.«

Naomi schwieg. Er meinte es gut. Trotzdem wollte sie mit Roman sprechen. Ihm alles erklären. Kai drückte aufmunternd ihre Schulter. »Du willst mit ihm sprechen, was ich verstehe. Aber du darfst ihm nichts über uns verraten. Also, wie willst du dein Verschwinden erklären?«

Kai traf ins Schwarze. Sie wusste es nicht. »Kann ich wenigstens in mein Studio, um mir Schuhe zu holen?«

Er schüttelte den Kopf. »Zu riskant. Roman könnte dort auf dich warten. Dafür fehlt uns auch die Zeit.« Kai betrachtete den dunkler werdenden Himmel. Die Sonne war untergegangen. Bald ginge der Mond auf. »Du solltest noch etwas essen, bevor wir gehen.«

Naomis Magen war zugeschnürt. Keinen Bissen bekäme sie hinunter. »Ich kann nicht. Werden heute noch andere kommen?«

Kai wandte sich ab. Naomi starrte auf seinen Rücken. Antwort erhielt sie keine. Wie war Leandras Lieblingsspruch? Keine Antwort ist auch eine Antwort. Sein Schweigen bedeutete ein Nein. Und Sammy? Würde er sich zeigen? Naomi trank ihre Tasse leer. Ihr Gefühl sagte ihr, dass Sammy nicht kommen würde. Wegen Kai. Damit behielte Kai Recht. Sammy war nicht wirklich ihr Freund. Es ging nicht in ihren Kopf, warum er ihr bisher geholfen hatte. Ein Spiel hatte Kai es genannt. Doch mit welchem Ziel?

Kai nahm zwei Sweat-Shirts aus dem Schrank. Er reichte ihr eines, und sie zog es sich über. Obwohl Kai kleiner als sie war, schlabberte das Kleidungsstück um ihren Körper. Wortlos verließen sie das Haus.

Kai öffnete ihr die Autotür. Er fuhr einen dunklen Wagen. Es war dasselbe Modell, das sie auf der Fahrt nach Bangor im Rückspiegel gesehen hatte. Dasselbe Fahrzeug hatte auch vor ihrem Haus gestanden. Kai hatte sie tatsächlich verfolgt. Deshalb war er ihr auch im Fahrstuhl so bekannt vorgekommen. Ihre Wege hatten sich in der letzten Zeit mehrfach gekreuzt, ohne dass sie es bemerkt hatte.

Kai startete den Wagen. Er fuhr aus der Stadt hinaus. Seine Gelassenheit beruhigte Naomi ein bisschen. Trotzdem schlug ihr Herz ebenso laut wie am Vorabend. Ihr Pulsschlag pochte deutlich spürbar und immer schneller. »Ist dieses Blutrauschen in den Ohren normal?«

Kai nickte. »Man gewöhnt sich daran. Auch an die Hitzewallungen und das Gefühl der Enge.« Kai stellte den Wagen am Waldrand ab. »Du wirst sehen. Es ist nur das erste Mal wirklich schlimm, weil du nicht weißt, was passiert. Außerdem bin ich dieses Mal bei dir.«

Naomi folgte ihm durch den Wald. Sie kamen aus einer ihr unbekannten Richtung. Naomi schlug automatisch den richtigen Weg ein. Selbst wenn Kai nicht bei ihr wäre, würde sie ihn finden. Dessen war sie sich sicher. Die Lichtung zog sie magisch an. So, als sei sie mit einem unsichtbaren Band mit der alten Ulme verbunden. Hitze durchströmte ihren Körper. Um sich etwas Kühlung zu verschaffen, öffnete sie ihre Jacke, um sie letztlich komplett auszuziehen. Die Hitzewallungen ebbten ab. Sie fröstelte. Kaum zog sie die Jacke wieder über, schwitzte sie bei der nächsten Hitzewelle. Sie fühlte sich, als hätte sie fiebrigen Schüttelfrost. Naomi betrat die Lichtung. Eine friedliche Ruhe überkam sie. Die Temperaturschwankungen ließen nach. Nur eine wohlige Wärme blieb. Sie setzte sich neben Kai unter die Ulme. Mit der rechten Hand strich sie über eine dicke Wurzel. »Was hat es mit diesem Ort auf sich? Diese Lichtung hat mich magisch angezogen. Sie hat etwas Mystisches.«

Kai lehnte sich an den Stamm. »Ich weiß. Ich habe dich hier beobachtet.«

»Dann warst du das? Ich dachte, Sammy sei es gewesen.« Naomi überkreuzte die Beine zum Schneidersitz und zog sich einzelne Blätter von den verdreckten Socken. »Ich habe gespürt, dass noch jemand da war.«

»Ich habe lange überlegt, ob ich aus dem Dickicht kommen und mich vorstellen soll.« Kai zog sich das Sweat-Shirt über den Kopf. »Na ja, dann war ich sicher, dass du Angst vor mir haben würdest. Also habe ich es gelassen.«

Naomi sah verlegen auf den Boden, als Kai auch das T-Shirt, die Hose und seine Unterhose ablegte. Anschließend rollte er sich in Embryostellung zusammen. »Du bist dran. Ich schaue auch weg.« Ihn schien seine Nacktheit nicht zu stören. »Du musst vor Hitze umkommen. Unsere Körpertemperatur erhöht sich vor der Verwandlung auf über vierzig Grad. Warum das so ist? Eventuell das Adrenalin. Ich habe gelesen, dass Katzen eine höhere Körpertemperatur als Menschen haben. Vielleicht liegt es auch daran.«

Naomi zog sich nur zögerlich aus, obwohl Kai richtig lag. Ihr war heiß. Am liebsten hätte sie sich die Kleidung vom Leib gerissen. Ihr Schamgefühl war aber zu groß. Es war ihr schon unangenehm, ohne Slip und Büstenhalter in Kais Jogginganzug zu stecken. Obwohl Kai demonstrativ seinen Blick abwandte, drehte sie sich weg und wandte ihm nur den Rücken zu, als sie schließlich die Kleidung ablegte. Sie setzte sich auf eine Wurzel, ihre Arme fest um die angezogenen Beine geschlungen.

 

Naomi streckte sich, als sie zu sich kam. Sie öffnete die Augen. Der Mond warf lange Schatten auf die Lichtung. Ohne sich zu bewegen, suchten ihre Augen die Umgebung ab. Sie machte sich klein, um weniger sichtbar zu sein.

»Keine Angst. Ich bin hier. Beruhige dich.« Kais Stimme klang in ihrem Kopf. Naomi wurde ruhiger.

»So ist es besser«, meinte Kai. »Alles in Ordnung? Du hattest die Ohren ganz flach am Kopf angelegt.«

»Dir bleibt auch nichts verborgen, oder?« Naomi erhob sich. Ihre Ohren richteten sich auf. Sie blickte sich suchend um. Von Kai keine Spur. »Wo steckst du?«

Naomi sah sich weiter um. Nachdem sie Kais Stimme nur in ihrem Kopf hörte, konnte sie nicht erkennen, wo er tatsächlich war.

»Hier oben.« Kai lag hoch oben in der Ulme auf einem Ast. Seine linke Vorderpfote baumelte in der Luft, ebenso sein Schwanz, der hin und her schwang. Wären nicht seine grün funkelnden Augen gewesen, hätte Naomi ihn übersehen. »Was machst du da oben?« Sie schob sich rückwärts, um besser hochsehen zu können, stolperte über ihre Hinterbeine und fiel seitlich auf den Waldboden.

Kai schnurrte leise. »Na, was wohl? Den Blick genießen.« Er legte seinen Kopf auf dem Ast ab.

Naomi rappelte sich auf die Beine. Er machte sich über sie lustig. »Sehr witzig. Komm runter.« Ihr Schwanz peitschte angriffslustig hin und her.

»Komm du doch hoch.«

Naomis Ehrgeiz war geweckt. Sie versuchte einige Schritte, beschleunigte und schaffte es an das Ende der Lichtung, ohne zu stolpern. Sie drehte sich um und fixierte den Baum.

»Hey, lass den Quatsch. Das war ein Witz!«, hörte sie Kais Stimme.

Naomi nahm Anlauf und sprintete los.

Kais Stimme dröhnte verärgert: »Stopp! Spinnst du?«

Sie ignorierte ihn, raste auf die Ulme zu und setzte zum Sprung an. Instinktiv fuhr sie die Krallen aus, schlug sie fest in die Rinde. Der Aufprall schüttelte ihren Körper durch, ihr Kopf schlug hart an den Stamm. Reglos klebte sie einen Moment am Baum, unfähig weiterzuklettern oder auch nur loszulassen. Sie umarmte die Ulme mit den Vorderpfoten. Die Hinterpfoten suchten vergeblich nach Halt. Ein wütendes Fauchen drang aus ihrer Kehle.

»Naomi, lass los.« Kai war von seinem Ast aufgesprungen. Er kletterte einige Äste nach unten und sah auf sie herab. »Zieh die Krallen ein.«

Naomi gehorchte dieses Mal ohne nachzudenken. Ihre Krallen lösten sich aus der zerfetzten Rinde. Ihr Körper fiel ins Leere. Sie versuchte sich auf den Bauch zu drehen und mit dem Schwanz zu steuern. Sie spürte deutlich, dass sie den Fall beeinflussen konnte. Euphorie ergriff sie, bevor sie hart auf dem Waldboden aufprallte und sich überschlug. An der Schulter glänzte ihr Fell feucht. Sie blutete. Sie rollte sich ein, um ihre Wunde zu lecken.

Kai drehte sich und ließ sich rückwärts am Baumstamm entlang herunter, bis er sich für den letzten Sprung wegdrehte, am Stamm abstieß und mit vollendeter Eleganz neben Naomi zum Stehen kam. »Verdammt noch mal! Was zum Teufel treibst du eigentlich?«

Naomi ignorierte ihn. Ihre Zunge leckte weiter über die Risswunde. Kai stupfte sie an. »Lass mal sehen.« Er beugte sich vor. »Es ist nur ein kleiner Riss. Was hast du dir dabei gedacht?«

Naomis Schwanz peitschte hektisch hin und her. Sie drehte sich herum und starrte ihn an. Ihre Schnurrhaare richteten sich deutlich nach vorn, sie zog den Hals ein und faltete die Ohren zur Seite. Sie war stinksauer. »Ich wollte da hoch. Was denn sonst!«

Kais Körper verkrampfte sich. Er stellte sich leicht seitlich und streckte die Beine durch, was seinen Körper doppelt so groß erscheinen ließ. Naomi erschrak. Sie war auf Angriff aus gewesen, ihr Körper musste sie verraten haben. Kais Reaktion demonstrierte Gegenwehr. Seine Abwehrhaltung währte nur einen kurzen Moment, bevor er sich setzte und sie fixierte. »Du benimmst dich wie ein Kleinkind. Dachtest du wirklich, du kommst da hoch?«

Naomi fauchte und drehte sich weg.

»Du kannst kaum gehen und willst schon springen? Also gut, dann lauf mal los.«

Kai stand auf und trabte über die Lichtung. Naomi zögerte, bevor sie ihm folgte. Es war keine Zeit, sich zu sträuben oder zu streiten. Um stärker zu werden, musste sie trainieren. Zunächst streckte sie sich kurz, um ihre verletzte Schulter zu testen. Ein diffuser Schmerz war alles, was sie spürte. Den konnte sie ignorieren. Nie wieder würde sie so leichtsinnig sein. Kai sollte ihr alles zeigen, sie trainieren; sie würde ihm folgen, bis sie gut genug war, alleine zu üben. Bis dahin wollte sie sich zurücknehmen und keine Extratouren mehr fahren. Naomi machte einige Schritte, bevor sie in gemächlichen Trab fiel. Schweigend liefen sie mehrere Runden. »Na also, es geht offenbar auch anders.«

Naomi verkniff sich eine Antwort und trabte konzentriert weiter. Nach einer Stunde fühlte sie sich sicher und begann Baumstämme zu überspringen. Kai trottete neben ihr her.

»Fang mich«, forderte Kai sie auf und kniff ihr in den Hinterlauf, bevor er losspurtete.

Naomi drehte sich um die eigene Achse und verfolgte Kai, der wilde Haken schlug. Naomi setzte ihm nach. Automatisch nahm sie den Schwanz zu Hilfe, um die schnellen Richtungswechsel zu steuern und auszubalancieren. Kai war schneller. Naomi bemerkte frustriert, wie er ihr jedes Mal entwischte. Sosehr sie sich auch konzentrierte und versuchte, seine Bewegungen zu erahnen, um ihn auf diese Weise zu überraschen, waren ihre Wendungen doch zu grob und zu langsam.

Kai trabte gemächlich um sie herum, während sie versuchte, ihn durch einen Sprint zu erreichen. Er machte nur eine geschmeidige Bewegung zur Seite, und sie stürmte an ihm vorbei ins Leere. Mit einem wütenden Fauchen drosch sie auf einen Haselnussstrauch ein.

»Hey, sei nicht so hart mit dir. Du machst deine Sache wirklich gut.« Kai kam auf sie zu. Seine Pfoten setzte er elegant voreinander.

Sein Gang erinnerte Naomi an den eines Laufstegmodels, während sie selbst sich wie ein Bauerntrampel vorkam. Sie hechelte mit offener Schnauze, um sich Kühlung zu verschaffen.

Kai ließ sich auf die Seite gleiten, legte die Vorderpfoten übereinander und demonstrierte ihr seine gewaltige Brust.

Sie setzte sich aufrecht hin, um sich nicht noch kleiner vorzukommen. »Nicht mal in deine Nähe bin ich gekommen.«

Kai putzte sich die Vorderpfote und fuhr sich damit über die Nase. »So weit kommt´s noch, dass mich ein Anfänger erwischt.«

Naomi hechelte immer noch. »Wie komme ich auf so einen Baum?«

»Rauf ist nicht schwer. Die Frage ist eher, wie kommst du wieder runter?« Kai nagte an einer Klaue herum, bis er ein Stück Rinde entfernt hatte und es ausspuckte. »Ich zeige dir, wie es geht.« Mit einem Satz war er auf den Beinen. »Sieh genau zu. Erst mache ich einen Sprung.« Seine Beine verfielen in Trab, wurden schneller, bis er zum Sprung ansetzte. Er breitete seine Vorderpfoten aus, nahm den Kopf zurück und schlug seine Pranken in das Holz. Blitzschnell wendete er, stieß sich vom Stamm ab und landete wieder auf der Erde. »Am besten fängst du so an. Wenn du das kannst, zeige ich dir, wie du durch deinen Schwung mit drei Sätzen zu den Ästen hochkommst.«

Es sah recht unkompliziert aus. Naomi hatte beim ersten Versuch nur vergessen, den Kopf zurückzuziehen. Sie nahm Anlauf, sprang ab, doch anstelle der schnellen Drehung, um wieder sicher auf den Pfoten zu landen, schaffte sie nur eine halbe Umdrehung. Die Erde kam viel zu schnell näher, und sie prallte seitlich auf. Die Luft aus ihrem Körper entwich mit einem fauchenden Geräusch. Ein scharfer Schmerz zuckte durch ihre linke Körperhälfte. Für einen Augenblick blieb sie reglos liegen. Sie musste es schaffen. Trotz des Stechens in ihrer Seite, rappelte sie sich auf.

Sie wich Kais Blick aus. Mit geschlossenen Augen ging sie zurück, um zwischen den Baum und sich den notwenigen Abstand zu schaffen, den sie für den Anlauf benötigte. Sie öffnete die Augen. Ihr Blick fiel auf die Ulme, die am Ende der Lichtung stand. Ihr Trainingsbaum war um ein Vielfaches kleiner, und selbst den schaffte sie nicht. Wenn sie irgendwann auf die Ulme wollte, musste sie sicherer werden.

Sie wandte den Blick ab, konzentrierte sich und lief los. Während sie absprang, hallte Kais Stimme in ihrem Kopf. »Jetzt abspringen, Vorderpfoten ausbreiten, Kopf zurück, Hinterläufe präzise aufstellen, drehen, abstoßen und fertig.« Naomi folgte jeder Anweisung im richtigen Moment und landete sicher auf dem Waldboden. Ihre Begeisterung vertrieb sogar den Schmerz.

Übermütig machte sie ein paar Sätze auf Kai zu, wobei ihre Hinterbeine ihre Vorderpfoten beinahe überholten. Er knurrte zufrieden. Naomi tänzelte um ihn herum, nahm Anlauf und rannte schon wieder los zur nächsten Runde. Diese Übung war nach einigen Anläufen kein Problem mehr. Sie wollte auf die Ulme. Der Gedanke hallte in ihrem Kopf wider.

»Das nächste Mal.« Kai hatte den Gedanken aufgeschnappt. Naomi hatte intensiv an die Ulme gedacht. »Für heute hast du genug erreicht.«

Trotzdem musste sie es versuchen. Die Ulme stand zwanzig Meter vor ihr. Sie fixierte den Stamm, nahm Anlauf und rannte darauf zu. Der Absprung gelang ihr perfekt, sie breitete die Pfoten aus, hieb die Klauen ins Holz, stemmte die Hinterläufe ab, zog die Klauen zurück, schnellte einen weiteren Sprung nach oben, setzte nach und erreichte mit dem dritten Satz den unteren Astkranz. Dort krallte sie sich fest, strauchelte kurz und balancierte aus. Mit allen vier Pfoten stand sie auf dem Ast und sah stolz zu Kai hinab.

»Verdammt noch mal! Wie willst du da wieder herunterkommen? Kannst du mir das zeigen?« Kai schnellte mit großen Sätzen auf die Ulme zu, bevor er unter ihr stehen blieb. »Du wirst dir das Genick brechen!«

Naomi schnurrte vor Vergnügen. Sie hatte es geschafft. Ein Gefühl der Stärke breitete sich in ihr aus. Sie würde auch Sammy besiegen können. Sie würde alle besiegen. »Blödsinn. Ich bin hochgekommen und komme auch wieder runter.« Naomi beugte sich über den Ast, versuchte vorwärts mit den Krallen Halt zu finden. Ihre Pfoten schlitterten am Holz entlang. Ihr Kinn schrammte am Ast. Hastig zog sie die Vorderpfoten zurück.

Kai saß unter ihr. Seine Augen funkelten zornig. »Du musst rückwärts klettern. Deine Hinterpfoten werden dich stützen. Sei bitte vorsichtig. Nur die Krallen der Vorderpfoten halten im Holz.« Kais Schwanz zuckte nervös.

»Rückwärts?« Naomis Hochgefühl wich Panik. Der Boden unter ihr war knapp zehn Meter entfernt. Sie versuchte, die Hinterpfoten vom Ast zu schieben. Sie rutschten unkontrolliert weg.

»Du kannst auch springen.«

»Du machst Witze, oder?« Ein Sprung aus dieser Höhe war undenkbar.

Kai ließ den Kopf hängen. Er trottete sichtlich verärgert auf die Lichtung. »Mach Platz. Ich komme hoch.«

Naomi wich zurück ins Geäst. Kai nahm Anlauf und war in drei Sätzen bei ihr. Er sah sie aus funkelnden Augen an. »Wie konntest du nur?«

Naomi ließ die Frage unbeantwortet. Es war zwecklos, etwas erklären zu wollen. »Also, wie komme ich runter?«

Kai knurrte. »Da wir die Feuerwehr nicht rufen können, werde ich dich wohl retten müssen.«

Naomi schmiegte ihren Kopf an Kais Schulter. Immerhin war er ihr nicht mehr böse, sonst hätte er nicht gescherzt. »Tut mir Leid.«

Kai wies sie an, ihm genau zuzusehen; er wollte es ihr vormachen. Kai krallte sich mit den Vorderpfoten am Stamm fest. Mit den Hinterbeinen stemmte er sich gegen das Holz. Rückwärts hing er am Baum und zog die Krallen erst bei der linken Vorderpfote zurück, bevor er die Klauen weiter unten am Stamm wieder ins Holz trieb. Dies wiederholte er erst mit der rechten Pranke, dann mit der linken und arbeitete sich so langsam den Stamm hinab. Als sein Körper nur noch drei Meter vom Boden entfernt war, zog er die Krallen beider Pfoten ein, wendete gleichzeitig und sprang den Rest der Entfernung vorwärts hinab, um sicher auf allen vier Pfoten zu landen. »Jetzt du.«

Naomi zitterte vor Angst. Was hatte sie sich nur dabei gedacht? Kai hatte gesagt, es sei nicht schwer hochzukommen. Nun durfte sie sehen, wie sie den Abstieg schaffte. Vor Aufregung hechelte sie. Sie schob ihr Hinterteil vom Ast und krallte sich daran fest. Langsam ließ sie die hinteren Beine nach unten, versuchte sie zu fixieren. Sie fand Halt. Vorsichtig löste sie die Krallen der rechten Vorderpfote, um sie anschließend ein Stück unterhalb wieder in das Holz zu treiben. Es gelang. Naomi wurde zuversichtlicher. Sie würde es schaffen. Den Vorgang wiederholte sie mit der linken Pfote. Kaum zog sie die Krallen ein, rutschten ihre Hinterpfoten weg. Mit der rechten Pfote am Stamm baumelte ihr Körper in der Luft, bis sie auch den letzten Halt verlor. Naomi glitt zwei Meter am Stamm entlang in die Tiefe. Die Erde raste auf sie zu. Kurz bevor es zu spät war, stieß sie sich mit den Hinterpfoten am Baumstamm ab. In weitem Bogen segelte sie durch die Luft. Ihre Vorderpfoten knickten weg, als sie hart auf dem Boden aufkam und sich zwei Mal vorwärts überschlug. Sie drehte den Kopf. Vorsichtig bewegte sie ein Körperteil nach dem Anderen.

»Du elender Dickkopf. War es das wert?« Kai umkreiste sie. »Nachdem du alles bewegen kannst, hast du dir immerhin nichts gebrochen.«

Naomi stand auf. Sie ignorierte den Schmerz. »Ich bin okay. Alles halb so wild.«

»Halb so wild? Das hat kriminell ausgesehen.« Kai strich um sie herum. »Ist wirklich alles noch dran?«

Naomi tapste einige Schritte. »Ich hätte auf dich hören sollen.« Sie ließ sich erschöpft auf die Seite fallen. »Nach einer kurzen Pause machen wir weiter.« Diese Nacht musste sie ausnutzen. So vieles war noch zu lernen. Und wenn Kais Vermutung zutraf, bliebe ihr nicht mehr allzu viel Zeit, um sich vorzubereiten. Zwischenzeitlich war sie überzeugt, dass Kai die Wahrheit sagte. Sammy hatte sich nämlich bisher nicht sehen lassen.

Kai legte den Kopf schräg. »Gönn´ dir eine Pause, wir haben noch ein paar Stunden, bis die Sonne aufgeht.«

Naomi erschauderte, als Kai gähnte und dabei sein gefährliches Gebiss zeigte. Seine Reißzähne blitzten hell im Mondlicht auf, bevor sich die Lefzen wieder darüber schoben. Kai ließ den Unterkiefer hängen und wanderte mit offener Schnauze über die Lichtung. Naomi sah ihm zu. Für sie sah er aus, als sei er auf der Jagd. Mit geschmeidigen Bewegungen schlich er weiter, ohne ein Geräusch zu machen. Für einen Moment schloss sie die Augen. Ihr Körper schmerzte. Trotzdem weigerte sie sich aufzugeben. Als sie die Augen wieder öffnete, stand Kai direkt neben ihr. Die rosettenförmigen Kreise in seinem Fell schimmerten hell und glänzend. Sie rollte sich auf den Rücken und schlug mit einer Tatze nach ihm. »Wollen wir weitermachen?«

Kai ging auf das Spiel ein. Er hob seine Tatze und schlug sanft gegen ihren Hals. Weil Naomi immer noch auf der Seite lag, hob sie alle vier Pfoten in die Luft und ging in Abwehrstellung. Kais Fell zuckte, als wolle er sie damit verwirren und nicht sehen lassen, mit welcher der Pfoten er als Nächstes angreifen würde. Bevor sie auch nur das geringste Zeichen eines Angriffs wahrnahm, sprang er aus dem Stand hoch und landete direkt über Naomis Körper. Sie konnte sich kaum noch bewegen und lag, durch sein Gewicht eingekeilt, am Boden.

»Hast du gesehen? Wie alle Katzen können wir aus dem Stand hochspringen. Das wird unsere nächste Übung sein.« Kai hob die Pfote, stupste sie nochmals an, bevor er seitlich über sie hinweg stieg. »Sollte es wirklich zu einem Kampf kommen, und du bist unterlegen, dann wirf dich auf die Seite, so wie du es gemacht hast. Die Krallen musst du allerdings ausfahren, um dich wehren und deinen Bauch schützen zu können. Dein Gegner wird versuchen, dich zu beißen. Bauch, Nacken und Gesicht sind deine empfindlichsten Stellen. Wenn du einen Treffer landen kannst, dann zieh deine Krallen quer über das Gesicht, noch besser über den Hals. Dadurch gewinnst du Zeit, um zu fliehen.«

Naomi rappelte sich auf. Sie versuchte aus dem Stand hochzuspringen und legte nur wenige Zentimeter zwischen sich und den Boden. »Wie hast du das gemacht?« Naomi sprang erneut hoch; das Ergebnis war dasselbe.

»Zuerst musst du die Knie und Fußgelenke eng zusammenziehen. Es ist dieselbe Bewegung, wie wenn du dich kleinmachen möchtest. Anschließend musst du deine Beine blitzschnell strecken. Durch den Schub kannst du drei bis vier Meter hoch oder auch zur Seite springen. Das funktioniert nicht nur im Stand, sondern auch aus Sitzposition.« Kai zog sich etwas zusammen und schnellte nach hinten. Kaum stand er wieder, setzte er sich hin, um es Naomi aus dem Sitzen vorzumachen. Er kauerte ein wenig zusammen und schnellte wie ein Tennisball hoch; sprang mal zur Seite, mal nach vorn, oder einfach nur nach oben. Naomi sah ihm fasziniert zu. Sie kannte das von den Katzen zu Hause. Sie erinnerte sich, wie sie leise an die schlafende Nachbarskatze herangetreten war. Die Katze hatte sich erschreckt und war aus liegender Position hochgeschnellt und hatte das Weite gesucht. Kai jedoch sah aus, als spränge er auf einem unsichtbaren Trampolin hin und her.

Naomi schaffte die ersten höheren Sprünge erst nach mehreren Versuchen. Nach einer Stunde war sie völlig außer Atem. Sie hechelte, wobei ihr die Zunge aus der Schnauze hing. Müde legte sie sich unter die Ulme. Bevor sie die Augen schloss, blickte sie in den purpurnen Himmel. Die aufziehende Dämmerung tauchte die Wolken in ein kräftiges Orange-Rot. Die Nacht war vorüber.