Eins

 

Naomi Roberts fieberte dem Briefträger entgegen. Wie ein eingesperrtes Tier tigerte sie in der Küche hin und her. Erst zehn Uhr. Es dauerte mit Sicherheit noch über eine Stunde, bis der Postbote käme. Bis dahin wäre sie mit den Nerven am Ende. Wie sollte sie nur die verbleibende Zeit tot schlagen? Sie öffnete den Kühlschrank und starrte hinein. Der Pappkarton vom Vortag stand noch darin. Sie zog ihn heraus und klappte den Deckel auf. Nach einem Blick zur Küchentür griff sie nach dem Stück kalter Pizza. Sie biss ab und grinste in sich hinein. Genau das Richtige. Wenn Oma sie so sähe, wäre ihr eine Standpauke über gesunde Ernährung sicher. Sie schluckte den letzen Bissen hinunter und leckte sich das Öl von den Fingern. Wie sollte sie sich nur ablenken? Sie schaute nochmals in den Eisschrank, als fände sie dort eine Lösung. Sie schüttelte den Kopf. Sie konnte schlecht den Kühlschrank plündern. Wie also? Mit Joggen? Ja, joggen war eine gute Idee. Sport beruhigte sie immer.

»Schon wieder auf dem Sprung?« Leandra betrat die Küche.

Naomi schloss die Klettverschlüsse ihrer Sportschuhe. »Die Warterei macht mich verrückt!«

»Sag nicht, du hast die Pizza direkt aus dem Kühlschrank gegessen!« Naomis Großmutter zeigte auf die leere Schachtel und zog die Stirn kraus. »Tolles Frühstück. Wie kannst du dich als Sportlerin nur so ernähren?« Leandra klappte den leeren Karton zu und steckte ihn zum Altpapier. »Wie soll das erst werden, wenn du am anderen Ende der Welt studierst? Da wird keiner auf dich aufpassen. Kugelrund wirst du werden.«

Naomi ging auf Leandra zu. »Ach, Omi. Das Thema hatten wir doch schon hundert Mal.« Sie drückte ihrer Großmutter ein Küsschen auf die Wange, bevor sie die Küche verließ. »Gönn mir den Spaß, du bist doch sonst nicht so spießig.«

 

Leandra presste die Lippen fest zusammen. Sie war nicht spießig, sie hatte lediglich Angst. Diese Angst begleitete sie seit Jahren. Schon seitdem sie ein Mädchen war. Seit dem Tag, an dem sie das Familiengeheimnis entdeckt hatte. Im Laufe ihres Lebens hatte sie gelernt, damit umzugehen. Doch nun fürchtete sie sich mehr denn je. Naomi durfte nicht gehen. Sie durfte einfach nicht. Leandra setzte sich an den Küchentisch und knetete ihre Hände. Ihre Augen füllten sich mit Tränen. Sie musste Naomi davon abhalten. Sie wusste nur noch nicht wie. Leandra starrte aus dem Fenster. Naomi joggte vorbei, ihr Pferdeschwanz hüpfte fröhlich auf und ab. Mit geschmeidigen Bewegungen lief sie den Gehweg entlang und bog in Richtung Wald ab. Leandra sah ihr nach. Die Sorgenfalten auf ihrer Stirn vertieften sich. Wie sollte sie es ihrer Enkelin nur erklären?

»Macht dir dein Rücken wieder zu schaffen?«

Leandra hatte nicht bemerkt, dass ihre Tochter neben ihr stand. Sie schüttelte den Kopf.

Luna nahm sich eine Tasse Kaffee und setzte sich Leandra gegenüber. Sie spürte deutlich, wie ihre Tochter sie musterte. »Nicht schon wieder.«

Leandra schwieg. Sie wusste genau, wie ihre Tochter über das Auslandssemester dachte. Luna war stolz auf Naomi. Stolz auf die ausgezeichneten Noten. Stolz auf die Selbständigkeit der Tochter. Stolz auf den Entdeckerdrang, den Leandra bei Luna erfolgreich bekämpft hatte. Wenn ihre Tochter wüsste ...

Leandras Gedanken schweiften ab. Seit dem Tod ihres Mannes war sie immer in der Nähe ihrer Tochter gewesen. Zu groß war die Furcht, ihr Kind ebenfalls zu verlieren. Ihr Mann war unter Umständen gestorben, die Leandra bis heute nicht begreifen konnte. Im Hafenbecken von Kristiansand. Für die Behörden war es ein Unfall. Ein Pechvogel mehr, der betrunken ins Hafenbecken gefallen war. Leandras Mann hatte aber nicht getrunken. Nie. Ein unbestimmtes Gefühl der Bedrohung hatte Leandra damals gedrängt, Norwegen zu verlassen. Kaum in London, verschwand der dunkle Schatten, nur, um später dort wieder aufzutauchen. Leandra hatte ihre Tochter niemals aus den Augen gelassen. Manchmal hatte sie ihren Schlaf bewacht. Luna hatte sie gewähren lassen, zumal sie nur einander hatten.

»Du kannst sie hier nicht einsperren«, riss Luna sie aus ihren Gedanken. »Naomi ist jung. Sie will was von der Welt sehen.«

»Das ist es ja. Sie ist zu jung. Warum kann sie nicht einfach drei Jahre warten? Sie könnte das letzte Semester im Ausland studieren.« Leandras Einwand brachte ihr nur ein müdes Lächeln ein.

»Naomi ist erwachsen, Mama.« Lunas Stimme klang ungeduldig. Offensichtlich war sie das Thema leid. »Außerdem ist sie eine hervorragende Kampfsportlerin. Sie kann besser auf sich aufpassen, als wir es je könnten.« Luna stand auf und trat ans Küchenfenster. Luna schien nach Naomi Ausschau zu halten. Vielleicht auch nach dem Briefträger, dachte Leandra bitter. Was konnte sie nur tun? Einzig auf weitere Absagen hoffen. Einerseits brach es ihr das Herz, wenn Naomi mit hängenden Schultern vom Briefkasten zurückkam, die Absage einer Universität vor ihr auf den Tisch fallen ließ und sie dabei ansah, als sei es ihre Schuld. Ein Mal hatte Naomi sogar geflüstert, ob sie nun zufrieden sei. Als ob es darum ginge! Andererseits war sie tatsächlich zufrieden. Nicht, weil sie es ihrer Enkelin nicht gönnte oder sie Naomi aus selbstsüchtigen Gründen bei sich behalten wollte. Sie ängstigte sich um sie. Sie war sicher, dass sich eine Katastrophe anbahnte. Sie spürte es in ihren alten Knochen.

 

Naomi joggte durch den Wald, vorbei an Wiesen, die bald ein Meer aus Blumen wären. Sie konnte den Frühling bereits riechen. Noch zehn Minuten, dann wäre sie wieder zu Hause. Der Duft nach frischen Nadeln und Blumen hatte sie während ihrer Jugend begleitet. Sie war nach London begeistert gewesen, endlich ohne Aufsicht durch die Gegend zu strolchen, alles erkunden zu können. Doch sie war kein Kind mehr. Der kleine Ort wurde ihr zu eng. Daran konnte auch die Nähe zu Hamburg nichts ändern. Wie gerne wäre sie mit ihren Freundinnen nach Hamburg zum Shoppen gefahren. Großmutter hatte es nur erlaubt, wenn sie ihr versprach, vor Einbruch der Dunkelheit zurück zu sein. Im Sommer ging das, doch im Winter war es schon gegen fünf Uhr finster. Da konnte sie gleich zu Hause bleiben. Selbst jetzt noch verzog ihre Großmutter das Gesicht, wenn sie alleine über ein Wochenende verreisen wollte. Bisher hatte sie sich nicht durchsetzen können. Sobald Oma anfing zu weinen, brachte sie es nicht über sich zu fahren. Naomi ahnte, warum sich ihre Oma ängstigte. Opa und Papa. Beide waren bei Unfällen ums Leben gekommen. Vermutlich hatte sie Angst, auch Naomi zu verlieren. Ein einziges Mal war sie trotzdem über Nacht nach Lüneburg gefahren. Ihre Schulfreundin war in diese Stadt gezogen. Die von Oma vergossenen Tränen hatte sie in Form eines schlechten Gewissens mit im Gepäck. Das Wochenende war schrecklich gewesen. Seither hatte sie es vermieden, bei Omas merkwürdigen Stimmungen über Nacht wegzubleiben. Sie verstand sie nicht. Manches Mal störte es sie überhaupt nicht, nur um das nächste Mal von Heulkrämpfen geschüttelt zu werden. Dieses Mal konnte sie keine Rücksicht darauf nehmen. Leandra würde weinen. So viel stand fest. Aber Oma konnte schließlich kein halbes Jahr lang weinen. Sie musste irgendwann lernen, dass Naomi gut auf sich selbst achten konnte. Sie wollte endlich weg; diese ständige Angst um sie, sobald sie vor die Tür ging, machte sie fertig. Wenn sie es jetzt nicht schaffte zu gehen, würde sie es nie schaffen.

Sie ließ die letzten Felder hinter sich und bog auf den Waldweg ein, der zu ihrem Haus führte. Die Ahornbäume, die den Pfad säumten, waren mit frischen Blättern überladen und dufteten nach Sommer. Als Kind hatte sie sich die hornförmigen Samen auf die Nase geklebt. Ihre Oma hatte gelacht, wenn sie wie ein Nashorn mit dem Fuß scharrte und mit gesenktem Kopf auf sie zurannte. Sie lächelte bei diesem Gedanken. Trügen die Ahornbäume schon Samen, hätte sie den alten Scherz aufleben lassen.

Die letzten Meter zur Gartentür legte sie einen Sprint hin. Mit pochendem Herzen blieb sie vor dem Briefkasten stehen. Eine Zeitschrift lugte hervor. Der Briefträger war hier gewesen. Sie spürte ihren Herzschlag in jeder Faser ihres Körpers. Sie riss die Klappe auf. Jede Menge Werbebriefe und Rechnungen, doch dazwischen entdeckte sie die beiden Antwortschreiben aus den Vereinigten Staaten. Hawaii Pacific University prangte auf einem Briefkopf. Ihre Traumuniversität. Das Sommersemester verhieße Sonne, Strand und Surfen, was sie für ihr Leben gerne gelernt hätte. Ihre Finger zitterten. Sie setzte sich auf die Eingangstreppe und starrte auf den Brief, auf den sie seit Wochen gewartet hatte. Sie gab sich einen Ruck und schlitzte das Kuvert mit dem Finger auf. Informationsmaterial quoll ihr entgegen, und oben auf lag das persönliche Anschreiben an sie. Sie überflog die ersten Zeilen, bis sie auf den Satz stieß. Leider können wir Ihnen für dieses Semester keinen Platz anbieten, eventuell haben wir zu einem späteren Zeitpunkt einen Studienplatz frei. Mehr vermochte sie nicht zu lesen. Die Tränen ließen die Worte vor ihren Augen verschwimmen. Mehr war jedoch auch nicht notwendig. Es war eine Absage. Sie schluckte die Tränen hinunter; die fünfte Absage in zwei Wochen.

Mit einer trotzigen Handbewegung wischte sie sich die Tränen aus den Augen und griff nach dem Brief der University of Maine. Dort hatte sie sich nur wegen des guten Sportprogramms beworben. Orono lag im Nirgendwo von Neuengland. Nicht unbedingt der Ort, den sie sich ausgesucht hätte; aber besser als die Lüneburger Heide wäre es allemal. Sie riss den Umschlag auf. Bevor sie die Unterlagen herauszog, atmete sie tief durch, um sich für die letzte Absage zu wappnen. Dann würde Oma ihren Willen bekommen. Sie würde ihr Studium in Hamburg beginnen und versuchen, für ihr letztes Semester einen Platz im Ausland zu ergattern.

Schon nach der Anrede musste sie nicht weiterlesen. Sehr geehrte Frau Roberts, wir freuen uns ... Die Zusage traf sie härter, als es eine Absage vermocht hätte. Ihr Magen verkrampfte sich schmerzhaft, bevor sich eine Leichtigkeit ihres Körpers bemächtigte. Sie würde tatsächlich von zu Hause weggehen. Wie in Trance erhob sie sich von der Stufe, klemmte die Post unter den Arm und betrat das Haus.

Naomi hörte, wie jemand in der Küche hantierte, ging hinein und ließ die Briefe auf den Tisch fallen. Ihre Mutter drehte sich von der Spüle zu ihr um. Sie sah sie lange an und trocknete sich umständlich die Hände an ihrer Schürze ab. »Ach Kleines, es tut mir Leid. Wir versuchen es nächstes Jahr noch mal. Dann klappt es bestimmt.«

Ihre Großmutter nahm das oben liegende Schreiben, las es und seufzte. »Die Uni in Neuengland hat zugesagt.«

Naomis Mutter riss die Augen auf. »Warum weinst du dann? Das ist doch kein Grund zum Heulen.«

Naomi hatte gar nicht bemerkt, wie ihr vor Erleichterung Tränen die Wagen hinabliefen. »Ich weiß nicht. Ich kann es noch gar nicht glauben. Hawaii hat wie alle anderen abgesagt. Ich habe nicht damit gerechnet, dass mich noch eine Uni nimmt.« Sie erwachte aus ihrer Starre. Ein schiefes Grinsen machte sich auf ihrem Gesicht breit. »Ich fahre also nach Orono. Surfen kann ich mir allerdings abschminken.«

Leandra räusperte sich. »Wenn du in Hamburg studierst und gute Noten hast, nehmen sie dich in einigen Jahren in Hawaii mit Kusshand.«

»Und wenn nicht, dann habe ich meine jetzige Chance verpasst.« Naomi setzte sich zu ihrer Großmutter. »Och Omi, Omilein, warum kannst du mir nicht einfach viel Spaß wünschen?«

 

Der bettelnde Ton ihrer Enkelin, gepaart mit dem Omilein, würde nicht helfen, um sie weich zu klopfen. Dieses Mal nicht. Dafür war der Anlass viel zu ernst. Leandra überlegte, wie sie Naomi davon abhalten sollte. Dieses Mal ging es nicht um ein Eis oder neue Turnschuhe.

»Sag schon, was ist so schlimm daran? Ich verstehe dich einfach nicht.« Naomi sah zu ihrer Mutter.

Luna zuckte hilflos mit den Schultern. »Ich kann es dir auch nicht sagen. Deine Oma hat mich wie ein Schießhund bewacht, bis ich fünfundzwanzig und verheiratet war.« Mit einem Kopfschütteln verließ sie die Küche. »Ich gehe einkaufen. Und, ob es dir gefällt oder nicht«, sie warf Leandra einen trotzigen Blick zu, »die Zusage wird mit einer Flasche Sekt gefeiert!«

Leandras Gedanken rasten. Sie konnte ihre Enkelin nicht ins Unglück rennen lassen. Sie musste mit Naomi reden. Jetzt, solange ihre Tochter aus dem Haus war. Für Leandra war es offensichtlich. Naomi war Rominas Ebenbild. Langes schwarzes Haar, funkelnde grüne Augen, geschmeidiger Gang; alles untrügliche Zeichen. Sie trug es in sich, genau wie ihre Mutter.

»Also gut.« Leandra straffte die Schultern. »Ich schulde dir eine Erklärung.« Ihr Blick ruhte auf Naomi, die nun die Stirn runzelte und eine Augenbraue nach oben zog. »Warte hier!«

Leandra stand auf und ging ins Wohnzimmer. Dort kramte sie in einer Schublade nach der Fotografie ihrer Mutter. Wieder in der Küche, legte sie das Bild auf den Küchentisch. »Sieh sie dir genau an.«

Naomi nahm die Fotografie und betrachtete das Bild.

»Was siehst du?«, bohrte sie nach.

»Ich sehe deiner Mutter ähnlich.« Der Gedanke schien sie zu amüsieren, was Leandra mit einem ernsten Blick quittierte.

»Aber ansonsten ...«, antwortete Naomi nach einer Pause. »Ansonsten kann ich darauf nichts Besonderes erkennen.« Naomi legte die Fotografie zurück. Sie öffnete den Kühlschrank und nahm Orangensaft heraus. »Du auch?« Ohne eine Antwort abzuwarten, stellte sie zwei Gläser auf den Tisch und schenkte ein.

»Naomi, es ist nicht nur die Ähnlichkeit, ihr seid vom gleichen Schlag. Und deswegen muss ich dir endlich die Wahrheit sagen.« Sie stockte einen Moment. »Meine Mutter verschwand spurlos.«

Naomi zog die Augenbrauen zusammen. Eine steile Falte bildete sich auf ihrer Stirn. »Ich dachte, sie starb, als du klein warst.«

Leandra nahm das Foto wieder in die Hand. »Ich fand, diese Geschichte wäre für alle die einfachste Lösung.« Sie strich mit dem Daumen liebevoll über das Foto ihrer Mutter. Sie dachte zurück an ihre Kindheit. »Ich weiß nicht, was aus ihr geworden ist. Plötzlich verschwand sie.«

»Wie meinst du das?«, fragte Naomi. »Weiß Mama davon?«

Leandra schüttelte den Kopf. »Nein, und sie soll es auch nicht erfahren. Wenn ich dir die Wahrheit sage, musst du mir versprechen, niemandem ein Wort zu verraten.« Sie sah die Verwirrung ihrer Enkelin an den schmal gewordenen Augen und der gerunzelten Stirn. So sah sie immer aus, wenn sie sich konzentrierte oder verwirrt war. »Versprochen?«, drängte sie.

Naomi nickte langsam. »Versprochen.«

Leandra nickte ebenfalls. »Also gut.« Sie griff nach dem Glas Orangensaft und nahm einen Schluck. »Es war ein warmer Tag im Juli. Meine Mutter wollte uns eine Portion Eiscreme besorgen.« Leandra fiel es unendlich schwer, an diesen Tag zurückzudenken. Nach einem Seufzer sprach sie zögernd weiter. »Sie nahm ein paar Münzen aus der Dose und kam nie wieder.«

»Was war passiert? Hat man sie gesucht?« Naomi fuhr sich durch die Haare. »Ihr müsst sie doch gesucht haben.«

Leandra schnaubte verächtlich. Sie erinnerte sich an die Streitereien ihrer Eltern. Es waren nur Kleinigkeiten gewesen, aber Leandra hatte sich immer vor dem Tag gefürchtet, an dem ihre Mutter gehen würde. Ihr Vater hätte das Geheimnis nicht wahren können. Leandra kratzte nachdenklich an einem Wachsfleck auf dem Holztisch. »Ich beginne besser an dem Tag, als ich hinter ihr Geheimnis kam.«

Naomi starrte sie an.

»Ich war gerade neun Jahre alt. Zu dieser Zeit hatte ich Angst, alleine zu schlafen. Irgendjemand in der Schule hatte erzählt, ein Panther sei aus dem Zirkus entlaufen und treibe sich im Wald herum. Unser Haus lag direkt am Wald, was mich vor Angst zittern ließ.« Leandra trank einen weiteren Schluck Orangensaft. »So kam es, dass ich nachts aufstand, obwohl ich versprochen hatte, es nicht mehr zu tun. Trotzdem schlich ich mich auf Zehenspitzen zum Schlafzimmer meiner Eltern. Ich wollte zu Ma unter die Decke kriechen. Papa lag im Bett, von Ma keine Spur. Plötzlich hatte ich Angst um sie. Dachte, die Raubkatze könnte sie geholt haben. Ich ging ins Erdgeschoss hinunter. Die Küche lag im Dunkeln. Ich sah durch das Fenster in den Garten. Wegen des hellen Mondlichts konnte ich Ma dort sehen. Sie ging auf den Wald zu. Ich dachte, dass sie vielleicht schlafwandelte. Warum sollte sie sonst nachts in den Wald gehen?« Leandra machte eine kurze Pause. »Ich konnte sie unmöglich alleine gehen lassen, wo doch die Raubkatze aus dem Zirkus dort lauerte. So rannte ich hinterher.« Leandra ballte ihre Hände zu Fäusten. »Was ich dort sah, kann ich kaum in Worte fassen.« Sie sah auf.

Naomi hing an ihren Lippen. »Erzähl weiter.«

Leandra trank einen weiteren Schluck, bevor sie fortfuhr. Sie wagte es nicht, ihre Enkelin anzusehen. »Romina, meine Mutter, verwandelte sich vor meinen Augen in einen Panther. Kleiner zwar, als die, die ich im Zirkus gesehen hatte, aber groß genug, um mir Angst zu machen. Ich duckte mich hinter einen Busch und machte keinen Mucks, obwohl ich spürte, wie ich mir in die Hosen machte. Ich weiß nicht warum, aber Ma entdeckte mich. Sie kam zu mir. Irgendwie schaffte sie es, mich nach Hause zu schicken. Es schien fast so, als hätte sie mich hypnotisiert. Sie hat mich nur aus diesen stechend gelbgrünen Augen angesehen. Es fühlte sich an, als sähe sie direkt in meine Seele.«

Naomi grinste schräg, während Leandra verlegen weiter den Wachsfleck auf dem Küchentisch bearbeitete.

»Oma, was erzählst du nur für Geschichten«, lachte Naomi.

Leandra ballte die Fäuste. Ihre Finger schmerzten und sie legte die Hände locker übereinander.

Naomi hörte auf zu lachen. »Oma, das meinst du doch nicht ernst?«

Leandra war wütend und enttäuscht zugleich. Sie hatte gewusst, dass es schwer werden würde. Sie selbst hatte es damals kaum glauben können. »Doch. Lass mich weitererzählen. Und zwar, ohne dass du ein Gesicht machst, als sei ich verrückt geworden.«

Naomi schwieg und nickte.

»Als ich am nächsten Morgen aufwachte, dachte ich erst, ich hätte geträumt. Aber meine Füße waren schmutzig vom Waldboden, und ich steckte immer noch in den nassen Schlafanzughosen. Es konnte kein Traum gewesen sein. Ich blieb am Türrahmen stehen und starrte auf meine dreckigen Füße. Ich lauschte auf die Geräusche im Haus, schlich ins Badezimmer, um mich zu waschen. Es war mir peinlich, in meinem Alter in die Hosen gemacht zu haben. Plötzlich stand Ma neben mir. Sie schaute mich einfach nur an und nickte kurz, als sie mich ins Badezimmer schob.«

Leandras Stimme war leiser geworden. Sie versuchte, ihre Gedanken zu sortieren und überlegte, wie sie weitererzählen sollte.

Naomi riss sie aus ihren Grübeleien. »Oma, wie ging es weiter?«

»Meine Ma erzählte mir, sie sei ein Gestaltenwandler. Ein Katzenmensch. Sie erklärte mir, sie verwandele sich bei Vollmond in einen Panther.« Sie schüttelte den Kopf. »Das war alles sehr aufregend. Ich war ja noch ein kleines Mädchen. Für mich war klar, wenn Ma ein Katzenmensch ist, dann auch Papa und ich. Mama verneinte. Sie sagte, Papa sei ein normaler Mensch, bei mir wisse sie es noch nicht.«

»Und, bist du einer?« Naomi lachte und sah amüsiert zu Leandra. Ihre Stimme hatte einen spöttischen Klang. »Grr, miau.« Sie fuhr mit den Fingernägeln über den Holztisch, als sei sie eine Katze.

»Du glaubst mir kein Wort, oder?« Leandra schloss die Augen. »Nein, natürlich nicht. Wie solltest du auch. Und nein, ich bin kein Gestaltenwandler, wenn ich auch jahrelang darauf gewartet habe, mich zu verwandeln.«

Naomi stand auf. »Oma, wie soll ich dir eine solche Geschichte glauben? Werwölfe, Vampire und der ganze Quatsch! Das gibt es nur in Gruselfilmen. Du warst ein kleines Mädchen, deine Fantasie ging mit dir durch, und deine Mutter hat dein Spielchen mitgespielt. Andere Kinder fürchten sich vor Monstern im Schrank.«

»Naomi. Katzenmenschen sind keine Monster, sondern sanfte Wesen, die niemandem ein Leid zufügen. Sie existieren tatsächlich. Nur, weil du keine gesehen hast, gibt es sie trotzdem.«

»Ja, wie Nessi aus Loch Ness!« Naomi ging in der Küche auf und ab.

Leandra spürte Naomis Blick auf sich ruhen. Sie sah ihrer Enkelin fest in die Augen. »Meine Mutter wollte mich schützen. Sie hatte Angst um mich. Und jetzt habe ich Angst um dich.«

Naomi kniete sich vor Leandra hin. »Omi, das musst du nicht. Ich kann wirklich auf mich aufpassen.«

»Du weißt doch gar nicht, was auf dich zukommt, Kind. Meine Mutter wäre bei ihrer ersten Verwandlung beinahe ums Leben gekommen. Sie wollte nicht, dass es mir auch so geht. Deswegen hat sie die Regeln gebrochen und mit mir gesprochen.« Leandra überlegte einen Augenblick, ob sie Naomi von den Unterlagen erzählen sollte. Damit würde sie ein weiteres Versprechen an ihre Mutter brechen. Sie hatte ihrer Mutter versprechen müssen, die Papiere nur zu lesen, wenn sie selbst ein Katzenmensch wäre. Schweren Herzens hatte sie Wort gehalten. Oft war sie versucht gewesen, den versiegelten Umschlag zu öffnen, um mehr über ihre Mutter zu erfahren. Der Umschlag war schon ganz fleckig; zu oft hatte sie ihn in Händen gehalten. Vor allem, nachdem ihre Mutter verschwunden war. Die Versuchung war immer noch groß. Den Umschlag nicht zu öffnen, war Leandras letztes Versprechen an ihre Mutter gewesen. Sie hätte sich wie eine niederträchtige Verräterin gefühlt, wenn sie die Aufzeichnungen gelesen hätte. Was wäre also, wenn sie ihr Versprechen jetzt bräche und Naomi gar kein Katzenmensch wäre? Sie würde ihr letztes Andenken an ihre Mutter beschmutzen. Sie musste Naomi mit anderen Mitteln überzeugen.

Naomi sah sie an. Der Blick kam Leandra beinahe mitleidig vor. »Was hat dir deine Mutter erzählt?«

Leandra atmete tief durch. »Also gut. Auch wenn du mir nicht glaubst ...« Leandra beugte sich zu ihrer Enkelin vor, die immer noch vor ihr kniete. Sie zog Naomi hoch und bedeutete ihr, sich zu setzen. »Meine Ma machte ein großes Geheimnis daraus. Ich liebte Geheimnisse, wie vermutlich jedes Kind. Sie sagte, Papa dürfe nie etwas davon erfahren, sonst müsse sie ihn verlassen. Sie erklärte mir, dass sie eigentlich jetzt schon gehen müsse, da ich hinter ihr Geheimnis gekommen sei. Doch brächte sie es nicht über sich. Ich begann zu weinen und jammerte, sie dürfe nicht gehen. Ich versprach ihr, niemals und niemandem etwas zu sagen. Nun habe ich deinetwegen mein Versprechen gebrochen.« Leandra stand auf. Sie musste sich bewegen, um dieses Kribbeln in ihrem eingeschlafenen Bein loszuwerden. Außerdem wollte sie dem ungläubigen Blick ihrer Enkelin entfliehen. »Ma meinte, es sei gefährlich, es zu wissen. Darum gäbe es eine Regel innerhalb ihrer Gruppe, nach der sie uns Menschen küssen und verlassen müssten, sobald jemand von uns um ihre Existenz wüsste. Wir würden sie durch den Kuss vergessen.« Leandra war komplett in die Vergangenheit eingetaucht. »Als ob ich meine Mutter einfach vergessen könnte.« Leandra suchte nicht mehr im Gesicht ihrer Enkelin nach einer Reaktion. Im Grunde war sie froh, dieses Geheimnis endlich loszuwerden. »Sie meinte, sie könnte unsere Erinnerung an sie auslöschen. Einfach so. Nur durch einen Kuss.«

»Hat sie dich sonst nie geküsst?«, fragte Naomi nach.

Leandra sah sie irritiert an. Die Frage nach dem Kuss hatte sie ihrer Mutter ebenfalls gestellt. »Doch, natürlich. Es ist ein besonderer Kuss. Er hat wohl etwas mit der Willensstärke der Katzenmenschen zu tun. So, wie sie mich damals im Wald nach Hause geschickt hatte. Ich kann es auch nicht erklären. Ich selbst habe diesen Kuss des Vergessens ja nie bekommen. Ma meinte, sie wisse, bei mir sei das Geheimnis sicher. Ich sei ein braves Mädchen. Und das war ich. Papa kam nie dahinter. Nicht mal, als sie verschwand, sagte ich etwas. Ma hätte mich nie einfach bei Papa zurückgelassen, selbst dann nicht, wenn er hinter ihr Geheimnis gekommen wäre. Sie hatte mir versprochen, immer bei mir zu sein. Papa hat nicht wirklich nach ihr gesucht. Wenn ich von Ma sprach, verzog er nur merkwürdig das Gesicht. Irgendetwas musste passiert sein. Bis heute habe ich niemandem davon erzählt. Aber jetzt spüre ich die Gefahr. Es ist, wie mein kaputtes Knie spürt, wenn es Regen gibt. Ich glaube, Ma würde es verstehen. Du bist schließlich ihre Urenkelin, und sie würde nicht wollen, dass dir etwas geschieht.« Leandra ging immer noch in der Küche auf und ab. Sie hatte alles gesagt.

»Omi, versetz dich mal in meine Lage. Würdest du mir glauben, wenn ich dir solch eine Geschichte erzählte?« Naomi stand ebenfalls auf und blieb direkt vor Leandra stehen.

»Vermutlich nicht. Sei aber bitte vorsichtig. Viel mehr verlange ich gar nicht. Meine Ma wurde in ihrer ersten Nacht von einer Kutsche erfasst. Sie brach sich mehrere Rippen und beinahe das Genick. Darum sollte ich Bescheid wissen. Sie wollte mir den Sprung ins kalte Wasser ersparen.« Leandras Stimme brach. »So, wie ich dir. Du bist nun gewarnt. Mehr kann ich nicht tun. Du musst mir auch nicht glauben, aber ...« Die letzten Worte ließ sie in der Luft hängen. Die Haustür schwang auf. Luna trat tütenbepackt ins Haus. Naomi und Leandra gingen in den Flur, um ihr zu helfen. Leandra sah ihre Enkelin eindringlich an. »Denk an dein Versprechen«, flüsterte sie, bevor sie die Sektflasche in den Kühlschrank stellte.

 

Naomi lag auf dem Bett und starrte an die Decke. Was war das nur für eine verrückte Geschichte? Oma war fünfundsechzig. Kein Alter, um nicht mehr klar im Kopf zu sein. Oma war intelligent, aufmerksam und bodenständig. Wie konnte sie an so eine Verrücktheit glauben? Es gab solche Wesen nicht. Das war vollkommen unmöglich. Es gab sie ebenso wenig wie Vampire. Die Vampirgeschichten hatten sie immer fasziniert. Sie las die Romane und sah sich die Filme an. Aber das waren nur Legenden; geboren aus der Boshaftigkeit einzelner Menschen, deren grausame Taten in der Vergangenheit, gemischt mit dem Aberglauben der einfachen Bevölkerung, ins Leben gerufen worden waren. Erst vor kurzem hatte sie darüber gelesen.

Oma hatte offensichtlich ebenfalls nach einer Erklärung für das Verschwinden ihrer Mutter gesucht. Das Ergebnis war die Verdrängung der Tatsache, dass ihre Mutter sie verlassen hatte oder ihr etwas zugestoßen war. Die Fantasie eines kleinen Mädchens war zu einer Tatsache geworden, die ihm den Verlust der Mutter erleichtert hatte. Verwandlung in einen Panther, mysteriöses Verschwinden, ein Kuss der vergessen ließ. Das war romantisch und einfacher zu ertragen, als die Vorstellung, verlassen worden zu sein. Aber das hatte nichts mit ihr zu tun. Die Geschichte ging ihr trotzdem nahe. Sie war das Ebenbild von Romina. Hatte ihre Augen. Diese Ähnlichkeit musste für ihre Großmutter schmerzhaft sein. Arme Omi.

Naomi sah auf die Uhr. Zeit für das Abendessen. Sie hatte versprochen zu helfen. Ihr Blick fiel auf den Spiegel. Ein verrückter Gedanke trieb sie zum Schminktisch. Aufmerksam forschte sie nach einer Veränderung. Gut, ihre Augenbrauen waren schon wieder eine Spur zu buschig. Sie nahm die Pinzette vom Tischchen und zupfte die Brauen zurecht. Ansonsten, nichts. Ihre Augen funkelten in dunklem Grün, was durch ihre schwarze Mähne noch mehr auffiel. Jedoch wuchsen weder ihre Augenbrauen in der Mitte zusammen, noch hatte sie einen dunklen Flaum auf der Oberlippe. Nichts, was sich nicht mit einer Pinzette in Ordnung bringen ließe. Sie strich sich über die Augenbrauen, die nun wieder einen perfekten Bogen bildeten, schnitt sich selbst eine Fratze und lachte. Was hatte sie denn erwartet? Dass ihr aus dem Spiegel ein Panther entgegenblickte oder vielleicht, dass sie gar kein Spiegelbild hatte? Sie lachte immer noch, als sie zur Tür ging. Wenn mit ihr selbst plötzlich die Fantasie durchging, wie hatte das alles erst auf Oma wirken müssen, als sie noch ein kleines Mädchen gewesen war? Naomi beschloss, sich nicht weiter über ihre Oma lustig zu machen. Sie konnte das Spiel ebensogut auch mitspielen. Das wäre interessant und würde ihre Oma beruhigen.

Naomi polterte die Treppe hinunter. In der Küche traf sie auf ihre Mutter, die gerade die Zutaten für das Abendessen auf die Anrichte legte. Naomi öffnete eine Plastiktüte. »Lachs? Den magst du doch gar nicht!«

»Nein, aber deine Oma. Vielleicht stimmt sie ihr Lieblingsessen wieder etwas versöhnlicher. Sie läuft schon den ganzen Tag mit so einem merkwürdigen Gesichtsausdruck herum.«

Naomi schälte die Kartoffeln und ließ eine nach der anderen in den Topf mit Wasser fallen. Sie rang mit sich. Einerseits durfte sie Oma nicht verraten, andererseits wollte sie die Version ihrer Mutter hören. »Mama ...«, begann sie.

Luna rührte die Fischsoße an und goss sie über den Lachs, der in einer Auflaufform darauf wartete, in den Ofen geschoben zu werden. »Hmm?«

Naomi beobachtete ihre Mutter, wie sie den Fisch in das Rohr schob. »Ach, nichts.«

Luna wischte sich die Hände am Geschirrtuch ab. »Na, komm schon. Ich sehe dir doch an, dass was nicht stimmt. Machst du dir Sorgen wegen Oma?« Luna ging zur Spüle und begann den Salat zu waschen. »Oma wird sich daran gewöhnen müssen, dass du deine eigenen Wege gehst. Lass dir also deswegen keine grauen Haare wachsen. Ich kümmere mich schon um sie.«

Naomi schob den Topf mit den Kartoffeln auf den Herd. Ihre Mutter hatte Recht. Sie konnte sich nicht wegen eines Märchens von ihren Plänen abhalten lassen. Die Vergangenheit war eben Vergangenheit. Oma musste damit fertig werden. Sie hatte ihr zugehört, und das musste genügen. Sie nahm sich vor, jede Woche anzurufen, das würde ihre Oma mit Sicherheit beruhigen.

»Wann wirst du gehen?«, fragte ihre Mutter.

Naomi schaltete den Herd zurück. »Darüber habe ich noch gar nicht nachgedacht. Das Studium geht in acht Wochen los.« Sie ließ sich auf den Küchenstuhl plumpsen. »Vielleicht sollte ich schon vorher rüberfliegen, damit ich mich umsehen kann. Was denkst du?«

»Gute Idee. Weiß Karsten eigentlich schon Bescheid?« Ihre Mutter setzte sich ihr gegenüber.

Karsten. An den hatte sie gar nicht mehr gedacht. Er würde vermutlich ausflippen. Sie hatte ihm nicht gesagt, dass sie sich für ein Auslandssemester beworben hatte. Nun war die Zusage da. Karsten war ihr bester Freund. Doch die letzten Wochen waren nicht mehr so harmonisch verlaufen. Sie sah in ihm einen Freund; Karsten hingegen versprach sich mehr von ihr. Es war ein Fehler gewesen, sich nach einer Verabredung zum Abschied küssen zu lassen. Damit hatte sich ihre Beziehung verändert. Für sie war er der liebe und nette Karsten, mit dem sie Unfug treiben konnte, und der sie zum Lachen brachte. Ihr bester Freund, mit dem sie hin und wieder ausging. Nachdem er sie geküsst hatte, war die Unbeschwertheit ihrer Beziehung verloren gegangen. Etwas Abstand würde ihnen gut tun. Karsten bedrängte sie zwar nicht, trotzdem fühlte sie sich schuldig.

»Er weiß gar nicht, dass ich Bewerbungen geschrieben habe.« Naomi sah verlegen auf ihre Hände. Bisher hatte sie keine Notwendigkeit gesehen, mit Karsten darüber zu sprechen. Ihr Verhalten war feige, das wusste sie selbst. Doch, warum hätte sie ihn darüber informieren sollen, solange sie keine Zusage in der Tasche hatte? Es hätte ihn nur verletzt. Insgeheim wusste sie genau, dass es nur eine billige Ausrede war. Sie waren seit ewigen Zeiten befreundet. Das sollte Grund genug sein, ihm von ihren Plänen und Träumen zu erzählen. Früher hätte sie das ohne zu überlegen getan. »Etwas Abstand wird uns gut tun.«

»Abstand? Was ist denn zwischen euch passiert? Ihr seid doch unzertrennlich.« Luna stand vom Tisch auf.

Naomi schwieg.

»Du weißt ja, wo du mich findest, solltest du reden wollen.«

Naomi stand auf und ging zu ihrer Mutter, um sie von hinten zu umarmen. »Danke.« Naomi war ihrer Mutter für ihre Zurückhaltung dankbar. Nie drängte sie darauf zu erfahren, was sie bedrückte. Immer wartete sie, bis Naomi zu ihr kam. Und früher oder später tat sie das auch.

Naomi deckte den Tisch, wobei sie über das anstehende Gespräch mit Karsten nachdachte. Sie beschloss, ihn später anzurufen. Sie könnten sich morgen nach ihrem Training zu einem Kaffee treffen und in Ruhe über ihre Pläne sprechen.

»Holst du Oma? Das Essen ist fertig.« Ihre Mutter zog die Auflaufform aus dem Ofen. Die Kartoffeln brutzelten noch in der Pfanne, der Salat stand schon auf dem Tisch. Eine große Hilfe war sie nicht gewesen. In ihre Grübeleien versunken, hatte sie gar nicht bemerkt, wie ihre Mutter das restliche Essen vorbereitet hatte. Sie hatte nur die Kartoffeln geschält und den Tisch gedeckt. Schon wieder machte sich ihr schlechtes Gewissen breit. »Ich wasche nachher ab, ok?« Sie beobachtete ihre Mutter, wie sie die Kartoffeln auf die Teller häufte.

»Ist schon gut. Genieße die Zeit. Sobald du drüben bist, musst du dich um alles alleine kümmern. Und jetzt hol Oma, ja?«

Naomi ging in den hinteren Garten. Mit Sicherheit wäre Leandra dort. Sie war immer dort, wenn sie nachdachte oder sich wegen irgendetwas Sorgen machte. Ein kurzer Blick genügte. Ihre Oma saß unter der großen Eiche auf der Gartenbank. Ein Buch war aufgeschlagen, doch lag es unbeachtet auf ihrem Schoß. Naomi schlenderte auf sie zu. »Oma, mach dir keine Sorgen. Mir passiert nichts, ok? Du hast mich ja vorgewarnt.«

Naomis Großmutter sah zu ihr auf. Sie nickte nachdenklich, sagte jedoch nichts.

»Du kannst mich nicht aufhalten. Ich versprech dir hoch und heilig, jede Woche anzurufen. Damit bist du immer auf dem Laufenden. Die Geschichte bleibt unser Geheimnis. Etwas, was nur uns beiden gehört.« Naomi setzte sich neben sie. »Mama wartet mit dem Essen. Wir sollten reingehen.«

Leandra stand schwerfällig auf. »Versprich mir, dass du mich anrufst, sobald etwas mit dir passiert, was dir merkwürdig vorkommt. Und noch etwas. Sei nicht so vertrauensselig.«

Naomi erhob sich ebenfalls. Sie sah ihr fest in die Augen. »Versprochen.« Sie hakte sich unter. Gemeinsam machten sie sich auf den Weg in die Küche.

Der Essensduft zog durch das ganze Haus. Leandra sah von Naomi zu ihrer Tochter. »Bestechungsversuch?«

Luna deutete auf den Esstisch. Auf jedem Teller war ein Lachsfilet mit Kräutersoße, Bratkartoffeln und Salat angerichtet. »Ich dachte, ein Versuch kann nicht schaden.«

Auf Leandras Gesicht tauchte ein breites Lächeln auf. »Ich sollte öfter bockig sein.« Sie knuffte ihre Tochter liebevoll in die Seite. »Meine Meinung ändere ich dadurch zwar nicht, aber auf das Essen freue ich mich.«

Naomi fing den amüsierten Blick ihrer Mutter auf und lächelte. Ihre Mutter hatte richtig gelegen. Oma war versöhnlicher gestimmt; was vielleicht auch mit ihrem Versprechen zusammenhing.

Naomi stand auf und räumte die leeren Teller in die Spülmaschine. Sie schrak zusammen, als der Korken aus der Flasche schoss. »Zeit, auf dein Abenteuer anzustoßen!«, rief ihre Mutter gut gelaunt.

Die drei Frauen erhoben die Gläser. »Auf eine tolle Zeit!«, wünschte Luna. Leandra nickte mit ernstem Gesicht. Naomis Augen strahlten vor Aufregung. »Ja, auf eine tolle Zeit«, wiederholte sie.

Bevor sie einen Schluck trinken konnte, klingelte es an der Haustür. Naomi zuckte mit den Schultern, nahm einen Schluck und ging zur Haustür. Vor ihr stand Karsten.

»Hi. Da komme ich ja genau richtig«, grüßte Karsten mit amüsiertem Blick auf das Sektglas.

Naomi schluckte trocken. Mit Karsten hatte sie nicht gerechnet. Sie waren weder verabredet, noch hatte er erwähnt, sie besuchen zu wollen. Naomi suchte nach einer Ausrede; auf die Schnelle wollte ihr keine einfallen. Zum Teufel. Sie war noch nicht bereit für dieses Gespräch. Sie hatte sich die richtigen Worte zurechtlegen wollen. Warum musste er ausgerechnet jetzt unangemeldet auftauchen? Das machte er sonst nie.

»Komme ich ungelegen?« Karsten wich einen Schritt zurück. Er musste ihr Unbehagen gespürt haben. »Ich kann auch wieder gehen.« Er starrte sie an. Sein Lächeln war verschwunden. »Hast du etwa einen anderen Typen da?«

Naomi schüttelte den Kopf und seufzte. »Komm rein.« Sie würde nicht um das leidige Gespräch herumkommen. So viel stand fest. Irgendwann musste sie es ihm sagen; besser sie brachte es gleich hinter sich, bevor er sich auf den angeblichen Typen festlegte. »Geh schon mal in den hinteren Garten. Ich bin gleich bei dir, ja?«

Karsten ging an Naomi vorbei. Sie bemerkte, wie er einen raschen Blick in die Küche warf, bevor er durch die Hintertür verschwand. Naomi betrat die Küche.

»Das war doch eben Karsten oder nicht?«, fragte ihre Mutter.

Naomi stellte das Sektglas ab. »Ja«, brummte sie.

Leandra sah sie verwundert an. »Und warum hast du plötzlich schlechte Laune? Habt ihr euch gestritten?«

»Nein, aber dieser kleine Feigling hier hat ihm noch kein Wort über ihre Pläne gesagt«, antwortete Luna. »Das hat sie nun von ihrer Geheimniskrämerei.«

Naomi nahm zwei Bier aus dem Kühlschrank. »Ach, lasst mich doch in Ruhe!« Sie knallte die Tür zu, dass die Flaschen im Kühlschrank klirrten. Wütend über sich selbst, stapfte sie aus der Küche.

Ihre Mutter lag richtig. Sie war feige. So feige, dass sie am liebsten ohne Erklärung abgereist wäre. Sie hatte mehrfach versucht, mit Karsten zu reden – und jedes Mal einen Rückzieher gemacht. Was wäre gewesen, wenn sie lauter Absagen bekommen hätte? Karsten hätte sie verspottet, und sie wäre wie ein Trottel dagestanden. Im Grunde ihres Herzens wusste sie, dass er sie nicht ausgelacht hätte; sie selbst hätte sich zu sehr geschämt. Das war der Punkt. Und nun schämte sie sich, dass sie es ihm einfach verheimlicht hatte.

Naomi straffte den Rücken, bevor sie in den Garten hinaustrat. »Hier, das wirst du brauchen.« Mit einem schiefen Lächeln drückte sie ihm eine Flasche Bier in die Hand.

»Was ist denn los?« Karsten fuhr sich durch die Haare.  Naomi sah an seinem zerzausten Haarschopf, wie nervös er war. Karsten fuhr sich immer durchs Haar, wenn er nervös war. »Los, rede mit mir und stehe nicht nur so da!«

Naomi ließ sich neben Karsten auf die Bank plumpsen. »Ich bin ein feiges Aas. Das ist los.«

Karsten zog die Stirn kraus und machte eine auffordernde Handbewegung.

»Ich habe mich für ein Auslandssemester beworben. Die Zusage für Maine war heute in der Post. In spätestens sechs Wochen bin ich weg.« Naomi kniff die Augen zusammen, setzte die Bierflasche an und nahm einen tiefen Zug. Sie wartete auf einen wütenden Ausbruch, der nicht kam.

Karstens Stirnfalten verschwanden und um seinen Mund zuckte ein Lächeln. »Feigheit, dein Name ist Naomi.« Kopfschüttelnd lachte er laut los. »Deswegen also die Pulle Sekt!« Er streckte ihr die Bierflasche zum Anstoßen hin. »Warum hast du nichts gesagt?«

Naomi kam sich plötzlich selbst lächerlich vor. »Ich hatte Angst, du würdest mir böse sein.« Sie stieß mit ihrer Flasche gegen seine. Karsten war nicht sauer. Wie hatte sie nur so danebenliegen können? Sie kannten sich seit fünf Jahren, und trotzdem wusste sie nie, wie er reagieren würde. »Du nimmst es mir also nicht krumm, dass ich fortgehe?«

Karsten nahm einen kräftigen Zug. »Blödsinn. Du kommst ja irgendwann wieder, oder?«

Naomi nickte. »Sicher. Es ist ja nur ein Semester.«

Karsten zog sie in die Arme, um ihr einen Kuss aufzudrücken. »Herzlichen Glückwunsch!« Naomi dachte an den Kuss von vor vier Wochen. Der war anders gewesen. Leidenschaftlich. Der Kuss eben war freundschaftlich. Karsten sah ihr direkt in die Augen. »Keine Angst, ich hab´s schon kapiert. Ich weiß auch nicht, welcher Teufel mich geritten hat. Wir waren beide beschwipst und ...«

Sie knuffte ihn in die Seite. »Schon gut. Freunde?«

»Claro, amigos para siempre!« Karsten grinste breit.

»Das verstehe sogar ich noch.« Naomi verdrehte die Augen. »Freunde für immer oder so.« War die Lateinbüffelei doch für etwas gut gewesen. »Wie läuft´s eigentlich mit deinem Spanischkurs?«

Karstens Augen blitzten vergnügt. »Nicht so super. Deswegen habe ich mich beim Austauschprogramm von ERASMUS angemeldet. Die Zusage ist da. Ich gehe nach Barcelona!«

Naomi lachte laut los. »Dann machst du hier auch die Fliege?« Ihr wurde leichter ums Herz. Karsten war nicht böse und hatte selbst Pläne geschmiedet.

»Jepp. Und du bist die Erste, die es erfährt. Wo ist eigentlich der Sekt abgeblieben?«