Vierzehn

 

Zwanzig Minuten später lagen sie auf dem Rücksitz eines schwarzen Jeeps. Miss Marple hatte den Wagen in die Einfahrt des überdachten Lieferanteneingangs gefahren und den Kofferraum geöffnet, durch den sie auf die Rückbank geklettert waren. Das Gepäck lag auf dem Beifahrersitz und wegen der abgedunkelten Scheiben sah man nur den Fahrer, wobei man von Miss Marple aufgrund ihrer geringen Körpergröße nur noch den auftoupierten Haarschopf über dem Lenkrad erkennen konnte.

Leandra zog erst eine Schnute und bedachte Naomi mit einem verärgerten Blick. Naomi musste sich ein Lachen wegen des mitleidigen Blicks von Miss Marple verkneifen. Aber nachdem sich Leandra in ihrer Rolle der eingeschüchterten Ehefrau auf der Flucht eingefunden hatte, schien es ihr sogar Spaß zu machen, denn sie grinste Naomi breit an, als sie den Feldweg hinter dem Haus entlangrumpelten. Selbst als sie schon einige Straßen entlang gefahren waren, blieb Leandra in Deckung, obwohl das nicht mehr nötig gewesen wäre. Sie zog Naomi zu sich hinunter und flüsterte: »Nur für alle Fälle, nicht, dass mich mein böser Ehemann doch noch entdeckt.«

Naomi boxte sie leicht, grinste und lehnte sich mit ihrem ganzen Gewicht auf Leandra, die ihr daraufhin den Zeigefinger in die Rippen bohrte.

Als sie die Landstraße erreichten, setzten sie sich auf und Naomi fing Miss Marples Blick im Rückspiegel auf. »Wie können wir Ihnen nur danken?«

»Vielleicht in dem Sie mir die Wahrheit sagen? Die Story mit dem Ehemann glaube ich Ihnen beiden nicht. Eine verängstigte Ehefrau sieht anders aus.« Sie drosselte ein wenig das Tempo. »Eines will ich Ihnen sagen, Verbrechern helfe ich nicht!«

Ein greller Blitz zuckte durch den tiefschwarzen Gewitterhimmel und die ersten dicken Tropfen klatschten gegen die Windschutzscheibe.

»Oh, wo denken Sie hin«, mischte sich Leandra ein. »Wir haben uns nichts zuschulden kommen lassen. Es ist nur so: Nicht im Traum hätte ich mir jemals zugetraut vor meinem Mann zu fliehen, und das noch auf einer Rückbank versteckt. Eine Frau in meinem Alter! Wo gibt es denn so was?«

Obwohl es inzwischen heftig zu regnen begonnen hatte, beschleunigte Miss Marple wieder die Geschwindigkeit. Naomi beobachtete ihre Gesichtszüge. Langsam entspannten sie sich wieder, auch wenn Mrs. Jackson manchmal einen prüfenden Blick in den Rückspiegel warf. Einen Moment lang hatte Naomi gedacht, die alte Dame würde sie auf die Straße setzen. Das hätte ihnen bei diesem Wetter gerade noch gefehlt.

»Ich setze Sie am Bahnhof in Southampton ab. Auch wenn ich mir sicher bin, dass Sie mich belogen haben, kann ich mir nicht vorstellen, dass sie tatsächlich etwas ausgefressen haben und diese Männer deswegen hinter Ihnen her sind.« Sie drehte sich zu den beiden um. »Vor wem Sie davonlaufen, werden Sie mir nicht erzählen, oder?«

Naomi schüttelte den Kopf. »Wir sind Ihnen unendlich dankbar für Ihre Hilfe, aber es geht einfach nicht.«

Leandra seufzte und legte Mrs. Jackson die Hand auf die Schulter. Diese nickte nur. Schweigend legten sie die letzten Meter zurück, während die Regentropfen heftig auf das Fahrzeug prasselten.

Mrs. Jackson stoppte den Wagen vor dem Eingang und drehte sich zu ihnen um. »Ich wünsche Ihnen alles Gute.«

Naomi zog das Gepäck vom Beifahrersitz und dankte ihr nochmals für ihre Hilfe, bevor sie die Wagentür öffnete und durch den strömenden Regen in die überfüllte Bahnhofshalle rannte. Leandra folgte ihr. Als Naomi zum Abschied die Hand hob, war Mrs. Jackson bereits davongefahren.

Wie eine zweite Haut klebte die durchnässte Kleidung an Naomi. Obwohl die Halle beheizt war, fröstelte sie. Leandra stand neben ihr und strich sich die nassen Haarsträhnen aus dem Gesicht. Ihre Großmutter sah aus, als käme sie aus der Dusche. Glücklicherweise sah sie sich nicht in einem Spiegel, sie hätte sich zu Tode geschämt. Leandra ging niemals ungestylt aus dem Haus. Nicht einmal zum Briefkasten, um sich die Morgenzeitung zu holen. Entweder sie schickte Luna oder sie richtete sich zumindest das Haar. Leandra sagte immer, man könne schließlich nie wissen, wem man begegnete.

Als hätte ihre Großmutter ihre Gedanken erraten, strich sie sich erneut mit den Fingern durchs Haar. »Ich muss fürchterlich aussehen.«

»Du siehst prima aus, Oma. Aber wir sollten aus den nassen Klamotten raus.« Sie sah sich nach den Toiletten um. Ihr Blick blieb am Fahrscheinautomaten hängen. »Aber zuerst müssen wir uns um die Tickets nach London kümmern.« Sie eilte zum Automaten und drückte mehrfach auf den Touchscreen, bis sie die richtige Verbindung auf dem Bildschirm sah. Der Zug fuhr in fünf Minuten ab. Die gedruckten Tickets in der Hand, rannte sie zu Leandra, schnappte die Reisetasche und flitzte auf die Rolltreppen zu. »Na los, beeil dich. Wenn wir dem Zug nicht nur hinterhersehen wollen, solltest du einen Gang hoch schalten!«

Ohne sich nochmals zu ihrer Großmutter umzudrehen, stürzte sie die Stufen hinunter und drängelte sich an den Fahrgästen vorbei, die sich von der Rolltreppe gemächlich zu den Gleisen hinabfahren ließen. Der Zug stand bereits ausfahrbereit am Gleis. Naomi stürmte zum ersten Waggon, warf ihr Gepäck hinein und blieb in der offenen Tür stehen, um das Schließen der Tür zu verhindern. »Beeil dich, Oma!«

Leandra drängte sich durch die herumstehenden Passagiere. Kaum war sie in den Waggon geschlüpft, schlossen sich die Türen.

Naomi seufzte und rieb sich die Arme, um die Kälte, die ihr in die Knochen kroch, zu vertreiben. Der Zug setzte sich in Bewegung, und die Gesichter der am Bahnsteig stehenden Fremden zogen an ihr vorüber. Plötzlich riss sie die Augen auf. »Thursfield.«

»Was?«, fragte ihre Großmutter.

»Dort, am Bahnsteig.« Instinktiv drehte sie den Kopf weg. Thursfield junior ging am gegenüberliegenden Bahngleis an den Zugwaggons vorbei und sah in jedes Fenster. »Er sucht uns.«

»Du siehst Gespenster, Kind. Wenn er uns suchen würde, hätte er den Zug nach London kontrolliert ...« Leandra schlug sich die Hand vor den Mund. »Wir sind doch im Zug nach London, oder?«

»Na klar, wobei ...« Naomi sah sich um. »Ich hatte es eilig in den Zug zu kommen. Aber die Gleisnummer stimmte, da bin ich mir ganz sicher.«

Naomi betrat eines der Großraumabteile. Auf den Sitzplatzreservierungen las sie auf der elektronischen Anzeige Reservierung von Southampton nach Bristol. Waren sie auf ihrer Fahrt von London hierher an Bristol vorbeigekommen? Naomi wusste es nicht mehr, und sie hatte nicht den kleinsten Schimmer, wo Bristol lag. Es war ihr peinlich, einen der Reisenden zu fragen. Leandra wüsste es mit Sicherheit.

Zurück im Zwischenabteil fragte sie: »Oma, blöde Frage, liegt Bristol auf dem Weg nach London?«

»Bristol!«, rief Leandra. »Das liegt in entgegengesetzter Richtung. Sag nicht, wir stehen hier im Zug nach Bristol!«

Naomi nickte und verzog ihren Mund. »Wir könnten an der nächsten Haltestelle aussteigen.«

»Großartige Idee. Und wie sollen wir von diesem kleinen Bahnhof wieder wegkommen? Es gibt von dort keine Direktverbindungen nach London.« Leandra ließ die Schultern hängen und stemmte die Hände in ihre Hüften. »Du hetzt mich den Bahnsteig entlang, um dann in den falschen Zug einzusteigen? Das passiert mir auch kein zweites Mal!«

Naomi schüttelte den Kopf. »Tut mir leid, Oma. Ich hätte besser aufpassen müssen. Aber, dann war das am Bahngleis doch Thursfield. Wären wir im Zug nach London, dann hätte er uns bestimmt entdeckt.« Auf ihrem Gesicht breitete sich ein Lächeln aus. »Wenn man es genau betrachtet, hätten wir es nicht besser planen können. Nun muss er denken, dass wir noch in Lyndhurst wohnen. Auf dem Weg nach Bristol vermutet er uns jedenfalls nicht.«

Ihre Großmutter zog eine Augenbraue nach oben und murrte: »Um eine Ausrede bist du auch nie verlegen, oder? Eines kann ich dir jedenfalls sagen. Ich fahre nicht bis Bristol, um dort auf einen Zug nach London zu warten. An der nächsten Haltestelle steigen wir aus und leisten uns ein Taxi. Es wird mich zwar ruinieren, aber ich steige erst in London wieder in den Zug; und zwar in den nach Hause.«