Elf

 

Naomi kam aus der Umkleidekabine und drehte sich vor Alice. Der grüne Seidenstoff umspielte ihre Beine. Das Kleid war tief ausgeschnitten, eng an der Brust bis zur Taille, der Rock weit und bodenlang. Sie sah unsicher zu Alice. »Und? Was denkst du?«

»Was ich denke? Es ist wie für dich gemacht! Das rote Kleid war auch toll, aber irgendwie zu rot. Das Grün bringt deine Augen zum Leuchten wie Smaragde.« Alice stand auf, befingerte den Stoff, zupfte am Ausschnitt herum und lachte. »Nur musst du aufpassen, dass deine Brüste nicht herausspringen.«

Naomi sah erschrocken an sich hinunter. Der Ausschnitt war zwar tief, aber nicht aufreizend. Außerdem waren ihre Brüste kaum groß genug, um aus dem Oberteil zu springen.

»Hey, das war ein Witz. Das Kleid ist perfekt.« Alice seufzte. »Wenn ich nur auch mal ein solches Kleid tragen könnte. Karsten würde es umhauen.«

Naomi drehte sich vor dem Spiegel hin und her. »Ihr mailt euch immer noch?«

»Wir telefonieren auch jeden Tag.« Alice beobachtete mit einem schelmischen Grinsen, wie Naomi am Oberteil herumzupfte. »Da verrutscht schon nichts. Roman wird dich nicht aus den Augen lassen. Es würde mich nicht wundern, wenn ihr die Veranstaltung früher verlassen würdet, um euch zu amüsieren.« Alice nickte bekräftigend. »Das wird er sich kaum entgehen lassen. Das ganze Outfit schreit danach.« Alice verstellte die Stimme. »Roman, los, nimm mich!« Sie prustete laut los.

»Wer sagt denn, dass wir nicht längst miteinander geschlafen haben?«, frotzelte Naomi zurück. Doch den gleichen Gedanken hatte sie selbst gehabt. Auch ohne dieses Kleid. Nach der Feier wollte sie mit Roman nach Hause gehen. Nach so vielen Jahren und den eigenen Zweifeln, ob sie denn normal wäre, weil sie nie das Bedürfnis gehabt hatte, mit einem Mann ins Bett zu gehen, war sie sich endlich sicher. Sie wollte mit Roman schlafen. Er war der Richtige. Der einzig Richtige.

Alice jaulte auf. »Sag, dass das nicht wahr ist. Warum hast du mir das nicht erzählt?«

»Weil es nicht stimmt. Du Heulboje.« Naomi warf einen letzten Blick in den Spiegel. »Dann nehm ich es?«

Alice nickte.

Naomi bog auf die Stillwater Avenue ein, die sie auch damals im Taxi entlang gefahren war. Der Taxifahrer hatte Recht gehabt. In dem Einkaufszentrum am Flughafen gab es alles. Eine so große Einkaufsmeile hatte sie vorher noch nie gesehen. Das Gebäude war eine Stadt für sich, die anstelle von Häusern aus Läden bestand. Alice und Karsten, ging es ihr durch den Kopf. Da hatte es also kräftig gefunkt. Ihre Nase hatte sich nicht geirrt. Trotzdem konnte sie es sich nicht vorstellen, dass die beiden ein Paar wurden. Durch die Distanz wäre es unmöglich. Sie kannten sich kaum, und die Entfernung ließ ein besseres Kennenlernen kaum zu.

»Was macht eigentlich Sammy?« Alice kramte in ihrer Handtasche. »Taucht er immer noch bei dir auf?« Sie zog ihr Lipgloss hervor und klappte den Make-up Spiegel herunter.

»Wir treffen uns regelmäßig. Mal kommt er vorbei oder wir sehen uns zum Mittagessen in der Mensa. Warum fragst du?«

»Nur so. Er tut mir ein bisschen Leid.« Alice presste die Lippen zusammen und verrieb das Gloss. »Übrigens, der Spiegel hat einen Sprung. Schminken kann sich da niemand.«

Naomi beschleunigte, und die Bäume sausten an ihnen vorbei. Sie zuckte gleichgültig mit den Schultern. »Ich glaube kaum, dass sich Roman schminkt.« Obwohl sie auf gerader Strecke fuhr, blickte sie prüfend immer wieder in den Rückspiegel. Ein nachtblauer, vielleicht auch schwarzer Wagen fuhr hinter ihrem her. Das Fahrzeug sah genauso aus, wie das Auto, das schon den ganzen Weg zum Einkaufszentrum hinter ihr hergefahren war. Zumindest war es sehr ähnlich. In der Eingangspassage hatte sie sogar geglaubt, Sammy gesehen zu haben. Und nun dieser Wagen. Naomi presste die Lippen aufeinander. Sie litt eindeutig an Verfolgungswahn. »Sammy muss dir nicht Leid tun. So, wie ich das mitbekommen habe, hat er schon eine Neue am Start, wenn er auch das Gegenteil behauptet. Trotzdem bin ich mir sicher. Kürzlich hat er sich vor mir versteckt, als er mich sah. Als ich ihn gerufen habe, war er verschwunden, aber eine hübsche Brünette bog um die Ecke. Ich glaube, er wollte nicht, dass ich sie zusammen sehe.«

»Dann ist ja gut. Ich habe immer noch ein schlechtes Gewissen deswegen.« Alice schaute auf die Uhr. »Um acht bin ich im Chat verabredet. Tritt also aufs Gas, ja?«

Naomi beschleunigte. Verfolgungswahn oder nicht, der Fahrer des Fahrzeugs hinter ihr erhöhte das Tempo ebenfalls. Einen kurzen Moment überlegte sie, ob sie Alice davon erzählen sollte. Ihre Freundin würde lachen und fragen, wo der Wagen denn sonst fahren sollte, wenn nicht auf dieser Straße. Es war außer der Autobahn der einzige Weg, der von Bangor nach Stillwater führte. Das ungute Gefühl in ihrer Magengegend blieb, bis der dunkle Wagen in Stillwater irgendwann nicht mehr hinter ihr fuhr. Ihre Fantasie hatte ihr einen Streich gespielt. Fünf vor acht Uhr hielt Naomi vor dem Studentenheim. Alice hechtete mit einem knappen Winken aus dem Wagen. Naomi ließ die Scheibe herunter. »Grüß Karsten von mir!«

Alice drehte sich herum und streckte ihr die Zunge heraus. »Und du Roman.«