Zwei

 

Sechs Wochen später standen sich Naomi und Karsten an der Haustür gegenüber. Naomi nahm Karsten zum Abschied in die Arme. Er schob sie ein Stückchen von sich weg und sah sie lange an. »Du wirst mir fehlen.«

Naomi lächelte ihm aufmunternd zu. »Blödsinn. Du wirst gar keine Zeit dafür haben. Außerdem können wir uns ja mailen.«

Er drückte sie nochmal an sich, bevor er die Stufen hinabstieg. An der Gartentür drehte er sich kurz zu ihr um, winkte und verschwand in der Dunkelheit.

Naomi sah ihm nach. Er würde ihr auch fehlen. Alle würden ihr fehlen. Sie schloss die Haustür. Leise Musik drang aus der Küche. Das Fest war schön und doch traurig gewesen. Ihre engsten Freunde waren gekommen. Eine große Familie hatte sie nicht. Es gab nur Großmutter, Mutter und sie selbst. Manchmal bedauerte sie, dass es sonst niemanden gab; wenn sie daran dachte, wie ganze Horden bei Karsten einfielen, wenn er Geburtstag feierte. Geschwister, Cousins, Tanten, Onkel, ein bunter wilder Haufen.

Immerhin hatte sie gute Freunde. Zu Bergen von Pizza hatten sie wilde Geschichten aus ihrer Schulzeit aufleben lassen. Nun waren alle weg. Sie war alleine. Ihre Großmutter hatte sich schon lange gemeinsam mit ihrer Mutter zurückgezogen; vermutlich schliefen sie bereits tief und fest. Sie sah auf die Uhr. Zwei Uhr. In wenigen Stunden säße sie in einem Flugzeug auf dem Weg nach Neuengland. Die letzten Wochen waren wie im Flug vergangen. Ein flaues Gefühl machte sich in ihrem Magen breit. Sie hatte Angst. Noch nie war sie länger als eine Nacht von zu Hause weg gewesen. In ihrem Kampf, ihren Willen durchzusetzen, hatte sie nie darüber nachgedacht, was tatsächlich auf sie zukommen würde. Sie war so damit beschäftigt gewesen, die Zustimmung ihrer Großmutter zu erlangen, dass es ihr vorgekommen war, als spielte sie ein Spiel, welches es zu gewinnen galt. Es war aber kein Spiel; sie hatte gewonnen und wusste nicht so recht was.

Naomi atmete tief durch und gähnte. Sie würde heute Nacht kein Auge zumachen. Sie war hundemüde, aufgekratzt und ängstlich zugleich. Großmutter hatte sie vor dem Schlafengehen nochmals ermahnt, sie solle endlich ihre Koffer packen. Die Koffer hatten Zeit. Die Wäsche lag auf ihrem Bett verstreut, ebenso Fotos und ihre Kosmetikartikel. Die Taschen wären in fünf Minuten gepackt. Naomi schlenderte ziellos durch die leeren Zimmer. Sie kam sich selbst albern vor. Immerhin wäre sie nur sechs Monate weg, und das Haus würde sich in dieser kurzen Zeit nicht verändern. Trotzdem legte sich ein Ring um ihr Herz, der sich mit jedem Zimmer, das sie betrat, enger schloss. Sie öffnete die Hintertür, die in den Garten hinausführte. Ein milder Frühlingswind wehte ihr entgegen. Sie starrte in die Dunkelheit. Wenn sie jetzt hinausginge, sich auf die Bank unter der großen Eiche setzte, würde sie weinen. Sie kämpfte die aufsteigenden Tränen nieder.

Naomi straffte die Schultern und schloss die Tür. Der Garten musste bis morgen warten. Besser, sie kümmerte sich um die Küche.

Begleitet vom dudelnden Radio, räumte Naomi die Teller und Gläser in die Spülmaschine, packte Dosen und Flaschen in die Trennbehälter. Ihr Blick fiel auf die übrig gebliebene Pizza, die auf dem Backblech zwischenzeitlich kalt geworden war. Das Messer lag noch darauf. Ein Stück Pizza würde sie trösten; das tat es immer. Sie schnitt sich ein großes Stück ab und biss mit geschlossenen Augen herzhaft hinein. Der trocken gewordene Käse zog keine Fäden mehr, und die kalten Tomaten hatten ihren Saft verloren. Der Geschmack von Oregano und Basilikum war trotzdem herrlich. Nachdem sie das Stück verschlungen hatte, packte sie die restliche Pizza in Alufolie und räumte sie in den Kühlschrank. Oma kann sagen, was sie will; es wird mein Frühstück werden, dachte sie und gähnte.

Die restliche Nacht beobachte Naomi die Ziffern des Radioweckers, die endlos langsam wechselten. Als der Wecker klingelte, zuckte sie zusammen. Irgendwann musste sie doch noch eingeschlafen sein. Mit einem Satz war sie aus dem Bett. Frisch geduscht und hundemüde kam sie in die Küche. Ihre Mutter hatte den Tisch hübsch gedeckt. Frische Brötchen warteten in einem Körbchen darauf gegessen zu werden. Servietten lagen neben den Tellern, und ein Strauß mit purpurnen Pfingstrosen aus dem Garten prangte auf dem Tisch. Naomi ließ sich auf den Stuhl fallen und gähnte laut.

»Schlecht geschlafen? Das wundert mich nicht.«  Naomis Mutter hatte einen frischen Gesichtsausdruck und schenkte Kaffee und Orangensaft ein. »Warum musstest du auch die Küche aufräumen? Das hätten Großmutter und ich schon noch geschafft.«

Naomi sah zu ihrer Großmutter, die müde am Küchentisch saß. Offensichtlich hatte sie auch keinen Schlaf finden können. Naomi tat es Leid, dass sie ihrer Oma Sorgen bereitete. Ihr selbst war ein wenig bange.

»Du musst nicht gehen«, sagte ihre Großmutter, die ihren Gesichtsausdruck richtig deutete.

»Ich will aber«, sagte sie mit fester Stimme. »Ein bisschen Schiss habe ich trotzdem.«

Naomis Mutter griff nach einem Brötchen. »Das ist ja wohl normal. Du schaffst das schon, Schatz.«

Naomi starrte das Körbchen mit den frischen Backwaren an. Ihr Blick schweifte ab und blieb am Kühlschrank hängen.

»Wage es ja nicht!« Leandra kniff die Augen zusammen.

»Was denn?«, fragte Naomi scheinheilig. Ihr war klar, dass ihre Großmutter ahnte, was ihr eben durch den Kopf gegangen war.

»Ich war extra beim Bäcker. Wenn du dir jetzt die Pizza aus dem Kühlschrank holst, versohle ich dir den Hintern!«

Naomi prustete los und langte nach einem Hörnchen. »Als ob du mich noch über´s Knie legen könntest. Außerdem wollte ich gar keine Pizza ...« Sie schmierte Butter auf den Blätterteig und versuchte, nicht laut loszulachen.

Die Augen ihrer Großmutter funkelten verschmitzt. »Natürlich nicht. Wie komme ich nur darauf?« Sie blickten sich an und grinsten breit.

»Eure Streitereien werde ich vermissen«, sagte Luna leise. »Was soll ich nur in Zukunft mit der kalten Pizza machen?« Sie sah zu Naomi und brach in Tränen aus.

 

*

 

»Hast du auch alles?«, fragte Luna.

Naomi lachte, was ihre innere Anspannung jedoch nicht vertrieb. »Ein bisschen spät, oder?« Sie sah den beiden Koffern nach, wie sie über das Gepäckband wanderten und von dem schwarzen Loch dahinter verschluckt wurden. »Außerdem gibt es dort drüben doch alles zu kaufen.« Der Knoten in ihrem Magen wollte nicht verschwinden. Sie nahm ihre Bordkarte entgegen. Schweigend gingen sie zur Sicherheitskontrolle. Ihre Eingeweide verkrampften sich immer mehr. Der stechende Schmerz fuhr ihr durch den Leib.

»Was ist?« Ihre Großmutter hatte bemerkt, wie sie sich gekrümmt hatte.

Naomi sah sich nach den Toiletten um. »Keine Ahnung. Aber ...« Der nächste Krampf wütete in ihrem Inneren. Sie entdeckte das Toilettenzeichen, ließ ihr Handgepäck vor die Füße ihrer Großmutter fallen und rannte los.

Alles in ihr rebellierte. Sie schaffte es gerade noch auf die Toilette, bevor der nächste Krampf sie beinahe in die Knie zwang. Sie musste sich den Magen verdorben haben. Super Anfang, dachte sie, als sie sich fünf Minuten später die Hände wusch.

»Ich dachte schon, du kommst gar nicht mehr heraus«, meinte ihre Mutter mit besorgter Miene. »Vielleicht solltest du doch besser hier bleiben.«

Naomi schüttelte den Kopf. »Ich habe nur was Falsches gegessen. Mir fehlt nichts.«

Ihre Großmutter fing an zu lachen. »Du hast Muffensausen. Gib´s wenigstens zu.«

So ganz Unrecht hatte ihre Großmutter nicht, aber zugegeben hätte Naomi das niemals. »Blödsinn! Ich bin vielleicht ein bisschen nervös. Außerdem habe ich kaum geschlafen.«

»Ja, sicher. Los, sonst verpasst du noch den Flieger.« Leandra drückte Naomi die Tasche in die Hand und schob sie zur Sicherheitskontrolle. »Vielleicht komme ich dich ja besuchen.«

Naomi hängte sich die Sporttasche über die Schulter. »Wartest du wenigstens auf eine Einladung?«

Ihre Großmutter zuckte mit den Schultern. »Wir werden sehen.«

Ein kurzes Schweigen machte sich breit. Naomi umarmte erst ihre Mutter, die ihr alles Gute wünschte. Großmutter drückte sie fest an sich. So viel Kraft hätte sie dieser kleinen Person gar nicht zugetraut. »Denk an das, was ich dir gesagt habe, ja?« Über das Gesicht ihrer Oma liefen Tränen. Naomi löste sich aus der Umarmung und sah ihr fest in die Augen. »Macht euch keine Sorgen, ich komm schon klar.« Sie umarmte nochmals schnell ihre Mutter und eilte zur Sicherheitskontrolle. Ihre Augen schwammen in Tränen.

Sie packte die Sporttasche und den Bauchgurt in die Schale vor dem Durchleuchtungsgerät, wischte sich die Tränen aus den Augen und winkte den beiden Frauen zu; sie standen immer noch dort, wo sie sich verabschiedet hatten; Arm in Arm sahen sie ihr nach, um einen letzten Blick auf sie zu erhaschen. Naomi lächelte tapfer, bevor sie durch das Tor mit den Metalldetektoren ging, die sofort piepten. Sie hatte vergessen, ihren Gürtel abzunehmen.

 

»Letzter Aufruf für den Flug 8764 nach London«, dröhnte die Lautsprecherstimme. Naomi stürmte aus der Toilette. Ihr Magen hatte sich immer noch nicht beruhigt. Hoffentlich gab er endlich Ruhe. Sie flitzte zum Abflugschalter, fasste sich an den Bauch, um aus dem Gurt die Bordkarte und den Ausweis zu ziehen. Nichts. Der Gurt war nicht da. Das konnte doch nicht wahr sein. Sie hatte ihn an die Toilettentür gehängt, als er ihr im Weg gewesen war. Sie machte der Stewardess ein Zeichen und rannte zurück zur Toilette. An der Tür baumelte die Bauchtasche. Sie schnappte sie vom Haken, zog das Ticket heraus. Die Stewardess lächelte sie freundlich an. »Die erste Reise?«

Naomi nickte mit betretenem Gesicht. Wie hatte ihr das nur passieren können? In der Tasche hatte sie Geld, Ticket, Pass, Adresse der Uni; alles, was sie dringend benötigte. Sie strich sich die Haare zurück, nahm den Ticketabschnitt entgegen und ging die Gangway entlang.

Naomi hörte die brüllenden Motoren und entspannte sich allmählich. Sie saß in der Maschine. Das war das Einzige, was zählte. Sie starrte aus dem Fenster. Das Flugzeug beschleunigte, und die Umgebung sauste an ihr vorbei. Die Maschine hob ab. Die Häuser und Bäume wurden immer kleiner, bis sie aussahen, wie die Miniaturlandschaft von Karstens Eisenbahn. Selbst die Elbe zog sich nur noch wie ein blauer Regenwurm durch die Landschaft. Hamburg verschwand aus ihrem Blickfeld. Je weiter sie sich entfernte, desto verlassener fühlte sie sich. Sie kämpfte die aufsteigenden Tränen nieder.

Bis die Maschine in London landete, hatte sich Naomi wieder gefangen. Sie beruhigte sich mit dem Gedanken, sie müsse nicht in Maine bleiben, sondern könne jederzeit das Semester abbrechen und zurück nach Hamburg fliegen. Während des Weiterflugs nach New York grübelte sie darüber nach, wie es in Stillwater wohl aussähe. Die Bilder, die sie im Internet gefunden hatte, waren nicht eben aufschlussreich gewesen. Viel Wald, da konnte sie herrlich joggen. Je mehr sie sich mit ihrem Ziel beschäftigte, desto neugieriger wurde sie; ihre Traurigkeit löste sich, wie die Kondensstreifen, in Luft auf.