Drei

 

Naomi war in der Wildnis gelandet. Soviel stand fest. Beim Anflug hatte sie nur Wälder gesehen, Wälder und Seen. Selbst Bangor schien ihr ein Nest mit Kleinstadtcharakter. Ihre Vorfreude wich Enttäuschung. Hier gab es mit Sicherheit nur verschrobene Hinterwäldler und hausbackene Frauen, deren Sprösslinge eine Miniaturausgabe der Eltern waren. Sie würde vor Einsamkeit umkommen.

Naomi zerrte die beiden Koffer hinter sich her. Sie winkte nach einem Taxi, um nach Orono zu kommen. Der Taxifahrer trug einen struppigen Vollbart und ein kariertes Holzfällerhemd, was Naomi in ihrer Meinung bestätigte. Wenn der Mann jetzt noch Kautabak auf die Straße spuckte, würde sie in die nächste Maschine steigen und nach Hause fliegen.

Der Fahrer stieg aus, grinste sie breit an und entblößte eine weiße Zahnreihe, die durch den dunklen Bart blitzte. Sie hatte sich getäuscht. Kein Kautabak, und einen kauzigen Eindruck machte er auch nicht. Der Fahrer stellte sich mit Namen vor, wuchtete die Koffer in den Kofferraum und öffnete ihr galant die Tür. »Wo soll´s hingehen, Lady?«

Das Lady entlockte ihr ein Lächeln. Vielleicht war es hier doch nicht so rückständig, wie es den Anschein hatte. Und falls doch, fand sie es im Moment noch recht amüsant.

Naomi nannte Steve ihr Ziel, was er mit einem Nicken quittierte. Sie verließen das Flughafengelände, und nach etwa vierhundert Metern erkundigte sich Steve: »Wollen Sie schnell nach Orono? Dann nehmen wir die Interstate 95. Wenn Sie aber etwas von der Gegend sehen wollen, fahren wir auf die Stillwater Avenue. Dauert zwar länger, ist dafür aber hübscher.«

»Was kostet das mehr?« Naomi wollte nicht schon für den Weg vom Flughafen ins Hotel ein Vermögen ausgeben.

»Für Sie mach ich den gleichen Preis«, grinste Steve.

Naomi schluckte. Was sollte das nun bedeuten? Wollte der nur nett sein, oder war sie jetzt schon in Schwierigkeiten? Sie sah sich nach dem offiziellen Ausweis um. Er klebte in der Mitte des Armaturenbretts, und schon am Bart alleine erkannte sie auf dem Foto den Fahrer. Sie überlegte kurz. Es war ein offizielles Taxi, also sollte sie dem Fahrer vertrauen können. »Dann nehmen wir die Avenue. Danke.«

Naomi sah sich die Umgebung an. Typisches Industriegebiet um das Flughafengelände. Trostlose graue Betonbauten. Diese Zonen sahen vermutlich überall gleich aus.

»Hier rechts haben wir die Maine Square Mall, das größte Shopping Center der Gegend. Wenn Sie einkaufen wollen, dann sollten Sie das hier tun.«

Naomi sah in die beschriebene Richtung. Beim Einkaufszentrum handelte es sich um einen riesigen Komplex, der viel zu groß für die ländliche Gegend wirkte. Daneben entdeckte sie ein Hotel, das etwas verloren abseits stand. Sie grinste. Hier konnte man also shoppen bis zum Umfallen; ein Hotelbett stand schon bereit. Immerhin etwas.

Sie ließen Bangor hinter sich. Kaum lichteten sich die Häuser, tauchten die ersten Wälder auf. Rechts und links säumten Kiefern und Ahornbäume die Straße, die bolzengerade vor ihr lag. Imposant und in zarte Nebelschwaden versunken, standen die mächtigen Baumriesen da. Mitten in den Wald ging ein Weg ab, der zu einem Haus führte. Naomi konnte einen schnellen Blick erhaschen. Sie erschauerte. Das Holzhaus stand verlassen am Ende des Feldwegs. Wer hier wohnte, musste es sehr einsam mögen. Sie selbst würde vor Angst nicht schlafen können. Im Reiseführer hatte sie gelesen, dass es sogar noch Schwarzbären in den Wäldern gab.

Sie durchfuhren einen kleinen Ort, der aus einer handvoll Häusern rechts und links der Avenue bestand. Später tauchte eine Fabrik auf, die mitten im Nirgendwo lag. Danach reihte sich weiter ein Kiefernhain an den anderen. »Gibt es hier eigentlich nur Wälder?«

Der Taxifahrer brummte. »Hm, fast. Hier geht alles gemütlich seinen Gang. Aber keine Sorge. Wo Sie hingehen, hat´s auch Menschen.«

Die ersten Häuser tauchten vor ihr auf. Erst vereinzelt, dann etwas konzentrierter. Zwischen den großzügigen Gärten blitzten rote Klinkerbauten und weiße Holzhäuser durch die Bäume.

»Gleich sind wir da. Drei Meilen noch. Wo genau soll ich Sie hinfahren?«

Trotz der Ansammlung von Häusern erschien der Ort noch provinzieller, als ihr Heimatdorf in der Lüneburger Heide. »Das Hotel heißt University Inn Orono, es gehört zur Uni und liegt am Stillwater River.« Naomi atmete tief durch. Vielleicht täusche ich mich auch, und hinter der nächsten Kurve taucht ein quirliger Ort mit interessanten Menschen auf, versuchte sie sich zu beruhigen.

Die Häuser standen immer dichter beisammen, bis sich Haus an Haus reihte. Sie fuhren über die Main Street und Naomi sah sich aufmerksam um. Das musste der Ortskern sein - oder befanden sie sich schon auf dem Unigelände? Subway, Mexican Grill, Pubs und Pizzerien reihten sich wie Perlen an der Straße entlang. Naomis Stimmung verbesserte sich etwas. Immerhin musste sie in dieser Einöde nicht verhungern.

Der Stadtkern war klein. Sie musste aber zugeben, dass die historischen Ziegelbauten und die weiß gestrichenen Holzhäuser, mit ihren großen Vorgärten, wirklich bezaubernd aussahen. Wie aus dem Nichts tauchte eine Brücke auf, die über den Stillwater River nach Orono führte. Der Blick von der Brücke über den Fluß war überwältigend. Die Dämmerung brach inzwischen an, und dichte Nebelfelder drängten aus den Wäldern. Die letzten Sonnenstrahlen verwandelten das umnebelte Flussufer in eine zart rosafarbene Wattelandschaft. Naomi war hingerissen und bedauerte, dass die Brücke so schnell überquert war. Gerne hätte sie diesen Anblick länger genossen. Nach einhundert Metern bogen sie links ab. Steve hielt vor einem einstöckigen Ziegelstein-Flachbau. Am Eingang prangte ein Wappenschild mit der Aufschrift University Inn.

Steve lud das Gepäck aus. Mit einem Lächeln auf dem Gesicht schob er das Geld für den Fahrpreis samt Trinkgeld in seine Hosentasche. »Machen Sie´s gut, Lady!«, rief er, hupte kurz und fuhr davon. Naomi war sich sicher, dass sie so schnell keiner mehr Lady nennen würde.

Für einen Moment blieb sie unschlüssig stehen, bevor sie ihre Koffer zur Rezeption schleppte und eincheckte. Die Dame am Empfang bot Naomi an, ihr den Speiseraum zu zeigen, doch sie war zu müde, um sich genauer umzusehen. Dafür war später immer noch Zeit. Die Rezeptionistin nickte verständnisvoll, als Naomi ablehnte, drückte ihr den Schlüssel in die Hand und hieß sie willkommen.

Naomi schleppte die Koffer in den ersten Stock; das Hotel hatte keinen Fahrstuhl. »Und ich dachte, in den USA geht keiner einen Schritt zu viel«, murrte sie.

Im Zimmer waren die Vorhänge zugezogen, und das Bett sah nach der anstrengenden Reise weich und verlockend aus. Sie war seit fast dreißig Stunden auf den Beinen und sehnte sich nach einer heißen Dusche und mindestens zehn Stunden Schlaf. Sie zog die Vorhänge zurück; es verschlug ihr den Atem. Der Fluss und das gegenüberliegende Flussufer waren durch die angestrahlten Nebelfelder zwischenzeitlich in purpurne Watte gehüllt, aus der die hohen Äste der Kiefern gespenstisch in den Himmel ragten. Es mochte ein winziges Nest sein, wo sie die nächsten Monate verbringen würde – aber, es war ein wunderschönes winziges Nest. Naomi streifte sich die Schuhe ab, legte sich auf das Bett und sah auf den Fluss hinaus. Mit einem zufriedenen Seufzer schlief sie ein.