Dreizehn

 

Roman schrak zusammen. Das heftige Klopfen an seiner Wohnungstür hatte ihn aus seinem Dämmerschlaf gerissen. Seine Gedanken waren um Barcelona gekreist, und immer wieder fragte er sich, ob es richtig oder falsch war zu gehen. Egal wie er sich auch entschied, er kam sich wie ein Feigling vor. Wenn er blieb, wäre er zu feige für einen Neustart, und wenn er ging, wäre er zu feige sich hier mit seinen Problemen auseinanderzusetzen. Wie er es auch drehte und wendete, er war feige, und das ärgerte ihn. Vielleicht sollte er hierbleiben und erst alles auf die Reihe bekommen. Denn, wenn er in Spanien nicht zurechtkäme, könnte er vielleicht seinen alten Job wiederbekommen. Doch wollte er den überhaupt noch? Über dieser Frage war er eingenickt.

Das Klopfen wiederholte sich.

»Ich komm ja schon, nur die Ruhe!« Er fuhr sich durchs Haar und schlurfte zur Tür.

»Mensch, das wurde aber auch Zeit!«, platze Pilar heraus. »Ich habe großartige Nachrichten von der Uni. Die Stelle ist ab sofort frei. Wenn du noch heute den Antrag per Kurier schickst, könntest du schon nächste Woche anfangen! Mit deinen Zeugnissen ist ja alles in Ordnung, oder? Und einen gültigen Reisepass hast du doch.«

Pilar flatterte um ihn herum wie ein aufgeschreckter Schmetterling. Der Job war also ab sofort frei. Und er? Er hatte noch nicht einmal eine Entscheidung treffen können. Seine Mimik musste ihn verraten haben. Auf Pilars Gesicht war das mädchenhafte Lachen, was sie so reizend aussehen ließ, wie weggefegt.

»Du willst den Job gar nicht«, flüsterte sie.

Roman atmete hörbar aus. »Doch. Es geht nur alles viel zu schnell. Ich hatte ja kaum Zeit zum Nachdenken.«

»Was gibt es da schon nachzudenken? Nichts. Die Uni bezahlt dich super, du bist versichert, und eine Wohnung wird dir auch zur Verfügung gestellt. Was willst du mehr? So eine Chance kommt nie wieder!« Über ihrem Gesicht lag ein Schatten, und vor Enttäuschung, ließ sie ihre Schultern hängen.

Ihr Anblick rührte Romans Herz. Pilar hatte im Grunde recht, was hatte er schon zu verlieren? Nichts. Den Job in Stillwater wollte er nicht mehr, ein neuer Lehrplatz war weit und breit nicht in Aussicht, warum also nicht gleich die Koffer packen und nach Barcelona gehen?

»Es stimmt ja. Das ist wirklich eine einmalige Chance. Ich habe den Antrag auch schon ausgefüllt.« Die Papiere lagen auf dem Küchentisch. Zwei Sekunden später hielt er sie in Händen. »Kann ich das gute Stück auch scannen und per Mail schicken? Hier hat mit Sicherheit keine Menschenseele mehr ein Faxgerät. Das Original liefert der Kurierdienst dann nach.«

Pilar flog ihm in die Arme. Ihre Freude wirkte ansteckend, und augenblicklich fühlte er sich leicht und frei.

»Sobald du die Mail abgeschickt hast, rufe ich an. Sie sollen gleich prüfen, ob alles in Ordnung ist, damit wir buchen können. Als Gastdozent ist auch die Arbeitsgenehmigung kein Thema. Das sagt zumindest mein Vater, und der muss es wissen.« Pilar strahlte und ihre Augen blitzten ihn vergnügt an. »Und wenn es Probleme gibt, dann heiraten wir einfach. Dann kannst du auf jeden Fall bleiben.« Sie lachte lauthals los.

In Roman regte sich der Gedanke, dass Pilar diesen Vorschlag, trotz ihres Lachens, ernst gemeint haben könnte. Er grinste breit, um nichts sagen zu müssen. Ihm fiel beim besten Willen nichts Passendes ein.

Dreißig Minuten später erhielt Pilar von ihrem Vater die Bestätigung, dass er beide in spätestens einer Woche erwartete. Sie sollten den Flug auf seine Rechnung buchen und rechtzeitig Bescheid geben.

Roman saß auf dem Küchenstuhl und beobachtete Pilar, die keine Sekunde stillstand. Sie eilte vom Fenster zum Kühlschrank, um mit einer Cola in der Hand an den Computer zu stürzen und einen Flug herauszusuchen.

»Was hältst du von diesem hier? Er geht in zwei Tagen. Da du in einer Woche anfangen musst, hätten wir noch ein paar Tage Zeit, und ich zeige dir die Stadt.«

Normalerweise hasste es Roman, sich das Heft einfach aus der Hand nehmen zu lassen, doch in seinem jetzigen Zustand konnte er sich so viel überbordender Lebensfreude nicht erwehren. Roman nickte. Er fühlte sich schlicht überfordert und hoffte, dass er das Richtige tat.

 

*

 

Mit dem Brief in der Hand rannte Naomi ins Bad. Der plötzliche Würgereiz überfiel sie dermaßen überraschend, dass sie sofort losstürmte. Sie ließ das Papier zu Boden gleiten. Die Seite segelte unter das Waschbecken. Einige Tropfen vom Abflussrohr hatten genau an dieser Stelle eine kleine Pfütze gebildet und weichten das Papier auf.

Langsam ein- und ausatmen, betete sie sich mit geschlossenen Augen vor, bis sich ihr Magen beruhigte. Nach ein paar Atemzügen ließ das Würgegefühl in ihrer Kehle nach. Sie konzentrierte sich weiter auf ihre Atmung, bis der Reiz verging. Zaghaft stand sie auf. Wenigstens hatte sie sich nicht übergeben müssen.

Trotzdem spülte sie sich mit kaltem Wasser den Mund aus und wusch sich das Gesicht. Die nassen Hände legte sie sich in den Nacken. Das kühle Wasser tat gut. Nachdem sie sich besser fühlte, fiel ihr der Brief wieder ein. Wohin hatte sie ihn fallen lassen? Auf dem Boden sah sie ihn nicht. Vorsichtig ging sie in die Knie, um unter dem Waschbecken nachzusehen. Dort lag er. Eine Ecke war komplett aufgeweicht und die blaue Tinte schien verlaufen zu sein.

»Verdammter Mist!« Die Toilettenpapierrolle hing in Reichweite und mit einem Griff zog sie einen langen Streifen Papier ab, bevor sie sanft  die verwischte Stelle abtupfte. »Das darf doch nicht wahr sein.« Hoffentlich konnte sie noch alles lesen. Die Schrift war zwar verschmiert, aber trotzdem noch lesbar. Glücklicherweise hatte Romina die Angewohnheit nur eine Blattseite zu beschreiben.

Naomi ging ins Schlafzimmer zurück, legte den Brief auf das Bett und öffnete das Fenster. Die ins Zimmer wehende Luft tat ihr gut. Tief atmete sie ein und aus. Nachdem sich auch ihr Magen wieder beruhigt hatte, legte sie sich aufs Bett und griff nach der Seite.

Besorgt sah ihre Großmutter sie an. »Geht´s wieder?«

Naomi nickte. »Lass uns weiterlesen.« Sie hielt die Seite gegen das Sonnenlicht. »Vielleicht sollte ich diese Stelle nachher abschreiben.«

»Das wird nicht nötig sein. Wir sollen die Briefe schließlich verbrennen.« Leandra ging auf das geöffnete Fenster zu und sah hinaus. »Lies. Auch wenn ich mir sicher bin, dass ich anschließend nochmals einen Schnaps brauchen werde.«

 

Mein liebes Kind, nun sind über fünf Jahre vergangen, aber ich weiß ja, dass du nicht auf meine Zeilen wartest. Daher macht es keinen Unterschied, ob ich dir jedes Jahr einen neuen Brief schreibe, oder die Geschehnisse zusammenfasse.

Um dort anzuknüpfen, wo ich bei meinem letzten Brief geendet habe, beginne ich mit der Nachricht, dass du einen Bruder hast. Da er bei Alonso und seiner Familie in Spanien aufwachsen wird, gaben wir ihm den Namen Iker. Natürlich suchten wir sofort nach seiner Geburt nach Anzeichen, die ihn als etwas Besonderes auszeichneten. Der Legende nach sollte er ja anders sein. Nur inwiefern? Auf uns wirkte er wie ein ganz gewöhnliches Kind. Iker konnte weder früher sprechen oder gehen, noch stellten wir sonstige außergewöhnliche Fähigkeiten fest. Vielleicht ist er etwas ruhiger, als andere Kinder in seinem Alter. Auch sieht er uns manchmal an, als ob er in unseren Gesichtern lesen könnte.

Einmal dachte ich, was er doch für ein Frechdachs ist, als er heimlich den Nachtisch von der Küchenanrichte noch vor dem Abendessen verputzt hatte. Und plötzlich kam er mit einem breiten Lächeln angerannt und warf sich in meine Arme. Es war, als wolle er vermeiden, dass ich mit ihm schimpfe. Solche Situationen häuften sich.

Auch bin ich manchmal traurig und nachdenklich, wenn ich ergebnislos von den Archiven nach Hause komme oder an euch denke. Diese Traurigkeit scheint er zu spüren, denn er kriecht dann auf meinen Schoß und lehnt sich an mich, ohne ein Wort zu sagen. So, als wolle er mich trösten.

Er ist ein wirklich hübscher Bursche, und jetzt, wo er bald in die Schule kommt, wird er langsam etwas aufgeweckter. Zu Hause ist er immer noch sehr ruhig. Aber auf der Straße, wenn er mit anderen Kindern tobt, unterscheidet er sich kaum von ihnen. Iker ist ein tapferer Junge, er weint nicht, wenn er sich blutige Knie holt, oder sich mit Gleichaltrigen um Spielsachen prügelt, wobei er recht selten bei den Rangeleien verliert. Nur zu Hause, da sitzt er oft reglos da und blickt uns aus seinen großen, braunen Augen an.

In letzter Zeit kommt es mir vor, als ahne er Dinge im Voraus. Häufig reise ich quer durch Europa, wenn ich in einem Brief Informationen erhalte, die mich bei meiner Suche nach weiteren Familienmitgliedern auf eine neue Fährte locken. Oft erhalte ich auch Antworten auf meine Anfragen in Archiven mit dem Hinweis, dass in ihren Unterlagen nichts über unsere Familie gefunden werden konnte, sodass ich mir die Reise sparen kann. Es ist also nicht so, dass Iker jeden Brief mit einer Reise in Verbindung bringen könnte.

Trotzdem sieht er mich in letzter Zeit anders an. Er legt den Kopf schräg und beobachtet mich zum Beispiel dabei, wie ich die Wäsche wegräume. Aus dem nichts heraus bittet er mich, nicht zu gehen, obwohl ich kein Wort von einer Reise sagte und die Kleidung in den Kleiderschrank räumte.

Nach und nach kam mir der Verdacht, dass er meine Gedanken lesen kann. Das ängstigt mich, weil meine Gedanken nicht immer freundlicher Natur sind. Vor allem bei der Hausarbeit denke ich viel über alte Zeiten nach. Über unsere Feinde, über die sinnlosen Tode, oder über den Trennungsschmerz, der mich manchmal niederwirft, weil ich nicht bei dir sein kann. All das macht mir schwer zu schaffen.

Ich sprach darüber mit George und Alonso, doch beiden fiel nichts an Iker auf. George meinte nur, ich solle die Hausarbeit sein lassen, zumal er dafür Personal habe. Als ob mich das vom Nachdenken abhalten könnte! Dann, kurz bevor ich mich an diesen Brief setzte, fragte mich Iker, wer Leandra sei. Vor Schreck fiel mir die Kaffeetasse aus der Hand. Erst überlegte ich, ob ich lügen sollte, doch wie hätte ich dich verleugnen können? So erzählte ich ihm von seiner älteren Schwester. Ich bin überzeugt, deinen Namen niemals laut ausgesprochen zu haben, das hätte ich nicht gewagt. Also musste es der kleine Schatz erraten haben. Doch wie?

Ich nahm ihn bei der Hand und wir gingen hinaus in den Park. Dort waren wir ungestört. Als ich ihn fragte, ob er wisse, woran ich gerade dächte, lachte er und meinte, ja, ein Eis würde er auch gerne essen. Aber seines lieber mit Sahne. Ich hatte nicht intensiv an dieses Eis gedacht, nicht so, wie wir bei Vollmond miteinander reden. Keiner von uns kann in Menschengestalt Gedankenlesen. Dies musste diese besondere Gabe sein, die der alte Mann erwähnt hatte.

Iker erzählte mir, dass er nicht jeden hören könne. Nur George, Alonso und mich. Und noch drei andere Leute auf der Straße, die er beim Spielen im Park gesehen hatte. Die Fremden hätten ihm mit ihren Gedanken aber Angst eingejagt, darum sei er schnell nach Hause gelaufen.

George und Alonso kamen erst am Abend nach Hause. Als ich ihnen davon erzählte, wollten sie der Sache auf den Grund gehen. So dachten wir uns ein Spiel aus, bei dem jeder ein Wort denken sollte. Iker konnte unsere Gedanken lesen. Offensichtlich funktioniert es bei normalen Menschen nicht. Wir haben es mehrfach mit dem Hauspersonal versucht.

George und Alonso sind nun auf der Suche nach diesen drei Fremden, von denen Iker sagt, dass er sie verstehen kann. Mit Sicherheit verstörte es ihn, diese Stimmen in seinem Kopf zu hören. Allerdings bedeutet es nicht automatisch, dass sie dem feindlichen Clan angehören, nur weil Iker sich vor ihren Gedanken fürchtete. Trotzdem ist natürlich höchste Vorsicht geboten. Seitdem wir davon wissen, lassen wir Iker nicht mehr unbeaufsichtigt auf die Straße. Er ist noch zu jung, um die ganze Wahrheit zu erfahren. Aber bald wird er alt genug sein, diese Bürde zu tragen.

In den vergangenen Jahren versuchte ich, mehr über unsere Familie herauszufinden. Doch egal, wo ich auch suche, ich finde nichts in den Aufzeichnungen der Stadtarchive. Diese Unwissenheit lässt mir keine Ruhe, denn jeder stammt schließlich von jemandem ab. Es erscheint mir, als seien alle meine Vorfahren vom Erdboden verschluckt. Könnte das bedeuten, dass alle getötet wurden? Früher waren die Familien viel größer, und ich hege immer noch die Hoffnung, entfernte Verwandte zu finden. Es muss einfach weitere Familienmitglieder geben.

Vor einigen Monaten fand ich endlich etwas heraus. Eine Großtante könnte in Texas leben. Vor einem halben Jahr schrieb ich ihr einen Brief und fragte, ob jemand aus ihrer Familie früher in Europa gelebt haben könnte. Viel war ihrer Antwort nicht zu entnehmen. Ihre Großeltern seien bei einem Unglück ums Leben gekommen, und wo deren Eltern herkämen, wisse sie nicht genau. Klar sei nur, dass ihre Wurzeln in England lägen. Aber sie schrieb auch, ich hätte ihre Neugierde auf die eigene Vergangenheit geweckt und sie würde nun Nachforschungen anstellen. Mit Sicherheit wäre es auch für ihre Kinder von Interesse. Sie seien zwar bereits erwachsen und hätten bisher nicht danach gefragt, aber sie hätte nun viel freie Zeit nach dem Tod ihres Mannes und so ein Stammbaum wäre ein tolles Geschenk. Sie schloss den Brief, sie würde sich wieder bei mir melden.

Manchmal weiß ich nicht, ob nicht meine Fantasie mit mir durchgeht, wenn ich solche Briefe lese. Leute sterben nun mal, doch stimmt es mich nachdenklich, immer wieder von Unglücksfällen in einer Familie zu lesen, vor allem, wenn es eventuell weitentfernte Verwandte von mir sein könnten. Hoffentlich schreibt sie mir wieder. Über ihre beiden Kinder hat sie nichts erzählt, leider. Ob sie oder eines der Kinder zu unserem Clan gehören? Ich weiß es nicht.

Klar ist, dass ich es durch einen Briefwechsel nicht herausfinden werde. Eine Reise dorthin wäre eine Möglichkeit. Irgendwann gehe ich dieser Sache auf den Grund. Sollte jemand dieser Familie tatsächlich zu unserem Clan gehören, so befinden sie sich in Gefahr und verdienen eine Warnung.

Beim vorletzten Vollmond traf ich auf ein unbekanntes Clanmitglied. Etwas an ihr kam mir seltsam vertraut vor, wenn ich auch nicht in der Lage war zu sagen, aus welchem Grund. Auch der Name Dolores sagte mir nichts. Dieses neue Clanmitglied ließ mich nicht aus den Augen. Ihrem Aussehen nach verfügte sie über einen großen Erfahrungsschatz. Teile ihres Fells wiesen Narben auf, die auf harte Kämpfe hindeuteten.

In der zweiten Vollmondnacht fragte ich Dolores, ob wir uns schon einmal begegnet seien. Eine direkte Antwort wollte sie mir nicht geben. Nicht hier, nicht vor den anderen. Sie wollte mich alleine treffen. Meine Neugierde war geweckt, aber mit den Jahren wuchs auch mein Misstrauen. Ein heimliches Treffen konnte gefährlich sein. Trotzdem stimmte ich zu. Allerdings nahm ich Iker mit zum Treffpunkt, während sich George und Alonso in unmittelbarer Umgebung aufhielten, um auf uns zu achten. Es war ein gewagtes Spiel, doch vertraute ich auf meine Familie und hoffte, Iker könne durch seine Gabe herausfinden, welche Absichten Dolores verfolgte.

Wir trafen uns am darauf folgenden Nachmittag auf der La Rambla in Barcelona. Die Fußgängerzone ist zu dieser Tageszeit mit Menschen überfüllt. Iker wusste, was ich von ihm erwartete. Er sollte mir ihre Gedanken verraten. Am südlichen Ende der Straße sah sich jemand suchend um, und Iker zuckte zusammen, während wir uns näherten. Zaghaft schüttelte er den Kopf. Er musste ihre Gedanken aufgefangen haben. Als ich ihn fragte, was er vernommen hätte, erklärte er mir, ich hätte nichts zu befürchten. Dolores glaube, sie gehöre zur Familie, auch wenn er nicht wisse, wieso sie auf diese Idee käme, da er sie schließlich noch nie gesehen habe. Mein Verstand konnte seine Worte kaum verarbeiten. Jahrelang suchte ich vergeblich nach Familienmitgliedern, und nun sollte mich eines gefunden haben? Iker lächelte mich an und nickte.

Nachdem Iker zu Alonso geeilt war, ging ich auf Dolores zu. Mein Magen krampfte sich zusammen. Dolores` Gesicht war mit einem Tuch verhüllt, und als ich näher kam, war mir klar, warum sie trotz der Sommerhitze dieses Tuch trug. Eine Gesichtshälfte war vernarbt. Wären diese Narben nicht gewesen, wäre sie eine bildhübsche junge Frau gewesen. Nachdem wir uns schweigend in die Augen gesehen hatten, suchten wir uns am Meer einen ruhigen Platz, um zu reden. Dort erzählte sie mir ihre Geschichte.

Dolores sei nur einer ihrer Namen. Ihr echter Name sei Dorothea. Alle zwanzig Jahre ändere sie ihre Identität, und weil sie nicht sichtbar älter wurde, zöge sie von einem Ort zum anderen, auf der Suche nach ihren Feinden, um sie zu töten. Dorothea erklärte, sie hielte sich im Verborgenen auf, um niemanden ihrer Nachfahren in Gefahr zu bringen. Und nur, damit ich aufhöre meine Energie in eine Suche zu investieren, die zu nichts führe, sei sie gekommen. Außer ihr gäbe es nur noch einen Verwandtschaftszweig, der, wie ich, von der Blutlinie ihrer Schwester Hanna abstamme. Ich solle meine Kraft in die Bekämpfung unserer Feinde stecken. Nur so habe unser Clan eine Zukunft.

Dorothea ist nach all den Jahren des Kämpfens müde, und sie ist einsam. Es kostete mich viel Kraft zu glauben, dass sie im Jahre 1560 geboren worden sein soll. Bei einem Gemetzel verlor sie ihren Mann Paul und ihre ganze Familie. Eigentlich hätte auch sie tot sein müssen, doch sie war es nicht. Die Flammen, die ihr Haus vernichtet hatten, zerstörten die linke Hälfte ihres Körpers, doch nahmen sie ihr nicht das Leben. Zuerst sei sie dankbar gewesen. Konnte sie sich so wenigstens am Mörder ihrer Sippe rächen. Mit einem Messer bewaffnet hatte sie dem Jäger aufgelauert, der hinter diesem Massaker gesteckt und das Dorf gegen sie und ihre Familie aufgehetzt hatte. Die Waffe hätte sie nicht einmal gebraucht. Es hatte gereicht, sich Barthel einfach zu zeigen. Vor Angst sei er tot zusammengebrochen. Damit war Dorothea klar, dass sie sich niemandem zeigen konnte. Nicht einmal ihrer einzigen Schwester, die in ein Nachbardorf geheiratet hatte und nur aus diesem Grund von diesem Massaker verschont geblieben war. Ihre Schwester Hanna war nicht wie wir, und wenn sie sich ihr gezeigt hätte, hätte sie glauben müssen, Dorothea sei verflucht. Für Hanna war sie in den Flammen ums Leben gekommen.

Dorothea glaubte selbst, sie sei verflucht und unsterblich. Bald wünschte sie sich nichts sehnlicher, als den Tod. Wenn sie bei einem Kampf getötet wurde, hoffte sie jedes Mal, es sei endlich vorbei, doch das war es nie. Ihre Gegner starben, sie nicht. Sie erholte sich nach einer bestimmten Zeit von ihren Verletzungen. Auch als sie in Hannas Enkeltochter eine Gefährtin fand, mit der sie reden konnte, erleichterte das ihr Leben nur für eine kurze Zeit. Einige Jahre blieb sie bei deren Familie, bevor sie sie später wieder verlassen musste, weil sie ja nicht alterte.

Dorothea wusste nicht, dass sie nicht unsterblich ist, sondern nur sieben Leben hatte, und ich erzählte ihr von der Legende und wie es mir ergangen war, nachdem ich mit Alonso geschlafen hatte. Daraufhin lachte sie, lachte, bis ihr die Tränen kamen, weil ihr Leid irgendwann ein Ende haben würde. Und ich begann zu weinen, denn erst jetzt wurde mir bewusst, auf was ich mich eingelassen hatte.

Seit einigen Wochen lebt Dorothea bei uns. Sie genießt unsere Gesellschaft, und durch sie haben wir vieles über unsere Feinde erfahren. Leider berichtete sie auch, dass Neophars Clan stärker ist, als wir befürchtet hatten.

In Liebe, deine Mutter

 

Leandra saß auf der Bettkante und starrte auf einen unsichtbaren Flecken auf dem Fußboden. Naomi schien, als hätte sie schon ab der Stelle, an der Romina die Besonderheit ihres Sohn erwähnte, nicht mehr wirklich zugehört.

Selbst Naomis eigene Stimme war während des Lesens immer leiser geworden. Naomis Gedanken rasten. Der letzte Brief war schon unglaublich gewesen, doch dieser hier?

Die Hände vor das Gesicht gelegt, ließ sie sich zur Seite umfallen. Ihr fehlten die Worte, um das Gelesene mit ihrer Großmutter besprechen zu können. Energisch schüttelte sie den Kopf. »Das kann nicht sein. So etwas gibt es nicht. Unmöglich.«

Im selben Moment fiel ihr eine Geschichte ein, die Kai vor mehreren Wochen erwähnt hatte. Eine junge Frau sei von einem Mann verletzt im Wald gefunden worden. Er pflegte sie gesund, sie verliebten sich und heirateten, obwohl der Mann wusste, was sie war, da er sie in ihrer Panthergestalt aufgefunden hatte. Als jemand aus dem Dorf ihr Geheimnis entdeckte, kam es zu einem schrecklichen Gemetzel. Dies alles sei vor vielen hundert Jahren passiert und dieser Regelbruch sei schuld am Tod vieler Menschen und des gesamten Clans gewesen. Aus diesem Grund dürfe kein Mensch etwas von ihrer Existenz wissen. Kai hatte das nicht erfunden, um sie davon zu überzeugen, Roman zu verlassen und ihm den Kuss des Vergessens zu geben. Es war tatsächlich genau so vorgefallen. Es war Dorothea und ihrer Familie zugestoßen. Wäre Dorotheas Schwester nicht im Nachbardorf gewesen, würde sie, Naomi, heute gar nicht existieren.

Leandra schwieg immer noch. Naomi ließ sie in Ruhe und nahm den Brief nochmals in die Hand. Nachdem sie ihn erneut gelesen hatte, erschien ihr die Geschichte genauso unglaubwürdig, als beim ersten Mal. Trotzdem wusste sie, dass es die Wahrheit sein musste. »Kai wusste davon. Nicht, wie es genau abgelaufen war, aber er wusste, dass durch die Unvorsichtigkeit einer Frau ein gesamter Clan ausgelöscht wurde.« Sie kratzte sich am Kopf und schob sich eine Haarsträhne zurück. »Zumindest beinahe ...«

»Ja, beinahe«, wiederholte ihre Großmutter. »Das war der letzte Brief, oder?« Sie drehte sich zu ihr um.

Naomi nickte. »Ja. Und was sollen wir nun unternehmen?« Sie rieb sich die Schläfen.

Leandra zuckte hilflos mit den Schultern. »Warten?«

»Warten? Auf Romina? Bis zum nächsten Vollmond sind es noch ganze vier Wochen! Wir können doch nicht einfach hier herumsitzen und nichts tun.« Naomi ging zum Fenster. Der Himmel war wolkenverhangen und es sah nach Regen aus. Dunkle Wolken türmten sich auf.

»Haben wir eine Wahl? Wir wissen nicht, wo sich meine Mutter aufhält, also bleibt uns nichts anderes übrig.« Leandra stand auf und griff nach den Schriftstücken. »Und das verbrennen wir besser.« Sie lief ins Badezimmer und ließ die Seiten ins Waschbecken gleiten.

»Kein Wunder waren die Anwälte hinter den Briefen her.« Naomi folgte ihr. »Wir könnten auch beim nächsten Vollmond wieder hier sein und in der Zwischenzeit versuchen herauszufinden, wo dein Bruder Iker wohnt. »Ein kleiner Hinweis von Romina wäre nützlich gewesen.«

»Darum hat meine Mutter keine weiteren Informationen hinterlegt. Diese hier sind schon gefährlich genug. Nicht auszudenken, wenn sie noch eine Adresse notiert hätte und die Unterlagen in falsche Hände geraten wären.« Leandra ging zurück ins Schlafzimmer und öffnete die Schubladen der Nachttische. »Haben wir überhaupt ein Feuerzeug?«

Naomi schüttelte den Kopf. Es widerstrebte ihr, die Briefe zu vernichten. Was, wenn sie etwas überlesen hatten? Romina würde kommen. Sollte ihnen etwas entgangen sein, könnte Romina alles Weitere erklären. Das war immerhin etwas. Aber vier Wochen warten? Dazu hatte sie überhaupt keine Lust. Die Nachrichten waren über vierzig Jahre alt. In dieser Zeit konnte viel geschehen sein.

Mit einem Seufzen nahm Naomi die Schriftstücke aus dem Waschbecken und setzte sich wieder auf das Bett. »Wenn wir sie nicht verbrennen können, dann müssen wir sie zerreißen. Danach spülen wir sie im Klo runter.«

Seite für Seite zerriss sie Briefe in kleine Schnipsel, während Leandra die Papierfetzen zur Toilettenschüssel trug und die Spülung betätigte. Trotzdem wollte Naomi anschließend keinesfalls untätig hier herumsitzen. So viel stand für sie fest.

Ein Klopfen an der Tür ließ Naomi zusammenfahren.

»Das ist mit Sicherheit Miss Marple.« Sie schlug die Decke zurück, damit die letzten Papierfetzen verdeckt waren, und ging zur Tür. »Ja?«, fragte sie, bevor sie ihre Hand auf die Klinke legte.

Im letzten Moment kam ihr der Gedanke, dass vielleicht dieser alte Anwalt sie irgendwie hatte ausfindig machen können. Das Dorf war klein, und wenn man lange genug herumfragte, könnte man mit Sicherheit herausfinden, wo sie untergekommen waren.

»Ich bin`s, Mrs. Jackson.«

Naomi verzog das Gesicht. Als ob sie es nicht geahnt hätte. Sie drückte die Klinke herunter und öffnete die Tür.

Miss Marple streckte ihr einen Umschlag entgegen. »Der wurde für Sie abgegeben.«

»Danke.« Sie drehte ihn in Händen, aber es stand kein Absender darauf.

»Übrigens. Ich wollte Ihnen noch mitteilen, dass heute schon zwei Herren nach Ihnen gefragt haben. Einer war so um die siebzig und der andere dürfte in den Vierzigern gewesen sein.« Mit zusammengekniffenen Augen warf sie einen neugierigen Blick ins Zimmer.

Naomi spürte, wie sich ein Kribbeln in ihrer Magengegend ausbreitete. Selbst, wenn ihre Großmutter in dieser Gegend noch jemanden kennen würde, so wusste keiner, dass sie sich im Moment hier aufhielten. Bisher hatten sie noch mit keiner Menschenseele gesprochen. Sie hatten noch nicht einmal Leandras Elternhaus besucht. »Und? Was wollten sie?«

Miss Marple legte die Stirn in Falten und sah sie empört an. »Wir verhalten uns sehr diskret und tratschen nicht über unsere Gäste. Die Herren wollten weder ihren Namen nennen, noch eine Telefonnummer hinterlassen, für den Fall, dass sie vielleicht nur verspätet anreisen würden.« Sie zwinkerte ihr vertraulich zu. »Wissen Sie, wenn jemand nur herumschnüffeln will, dann bemerke ich das sofort. Und diese beiden Herren, die wollten nur herumschnüffeln. Da konnte mich auch der feine Anzug nicht täuschen. Ich weiß ja nicht, was hier vorgeht ..., aber wer in meinem Hause absteigt, kann sich auf meine Diskretion verlassen.«

Naomi bedankte sich mit einem verkrampften Lächeln und schloss eilig die Tür. »Oma, hast du gehört, was Miss Marple gesagt hat? Jemand hat nach uns gesucht. Mit Sicherheit dieser Thursfield.«

»Gut, dass die Briefe nun nicht mehr hier sind«, meinte Leandra und drückte die Spülung, sodass die letzten Schnipsel in der Kanalisation verschwanden. »Hat sie nicht auch etwas gebracht?«

Naomi schlitzte bereits den Umschlag auf. In deutschen Worten stand geschrieben. Ihr seid in Gefahr. Fahrt sofort nach Hause. Ich melde mich. R. Naomi starrte auf den Zettel, bevor sie ihn ihrer Großmutter entgegenstreckte. »Was zum Teufel soll das nun bedeuten?«

Leandra kratzte sich am Kinn, nachdem sie die paar Worte gelesen hatte. »Keine Ahnung, aber es handelt sich offensichtlich um eine Warnung meiner Mutter.«

»Und wenn es nur so aussehen soll?« Naomi dachte an die beiden Männer, die nach ihnen gefragt hatten. Es könnte durchaus sein, dass es eine Falle war, um herauszufinden, wo sie in Deutschland wohnten. »Dann folgen uns die Anwälte, wie sie es schon einmal getan haben. Auch wenn sie die Papiere nicht mehr in die Finger bekommen können, wüssten sie, wo wir leben. Das können wir nicht riskieren. Besser, wir bleiben in England. Wir müssen ja nicht in diesem Hotel wohnen, sondern könnten uns etwas in der näheren Umgebung suchen.«

»Wo sie uns mit Sicherheit in ein paar Tagen aufspüren werden.« Leandra untersuchte den Zettel, drehte ihn um und griff nach dem Umschlag. Außer ihrem Namen stand nichts darauf. »Entweder meine Mutter hatte es sehr eilig, oder jemand anders hat die Nachricht verfasst. Sonst hätte sie doch etwas notiert, woraus hervorgeht, dass die Warnung von ihr ist. Aber sieh selbst. Nichts.«

Naomi runzelte die Stirn. Etwas ging hier vor. Nur was? Wenn die Notiz von den Thursfields war, warum sollten sie eine solche Nachricht schreiben? Sie müssten nur warten, bis sie irgendwann wieder nach Deutschland zurückgingen. Damit wäre eine Beschattung viel einfacher. »Wir sollten zusammenpacken. Vielleicht kann uns Miss Marple helfen. Wenn wir ihr eine Geschichte auftischen, die nur einigermaßen spannend klingt, dann hilft sie uns schon.«

»Warum sollte sie?« Leandra griff bereits nach ihrer Reisetasche und begann, den Kleiderschrank auszuräumen.

»Nur so ein Gefühl. Wir müssen es jedenfalls versuchen. Ich habe auch schon eine Idee. Pack unsere Sachen zusammen. Ich bin gleich wieder da.«

Die Art, wie Miss Marple ihr vorhin zugezwinkert hatte, als sie von den beiden Männern erzählte, war eindeutig verschwörerisch gewesen. So, als ahne sie, dass hier etwas vor sich ginge. Es war auch nicht normal, dass sich zwei Frauen auf Urlaub in ihrem Zimmer einschlossen und nicht wenigstens tagsüber die Umgebung erkundeten. Auch der neugierige Blick, als sie an diesem Morgen im gleichen Outfit ins Hotel gekommen war, mit dem sie es am Abend zuvor verlassen hatte, war Naomi nicht entgangen.

Geräuschlos schlich sie die Stufen hinunter und linste um die Ecke. Mrs. Jackson stand an der Rezeption und schlug etwas in den gelben Seiten nach. Mit einem leisen Pfiff machte sie auf sich aufmerksam.

Mrs. Jacksons Kopf erhob sich sofort. Mit gerunzelter Stirn suchte sie den Vorraum ab, bis sie Naomi am Treppengeländer entdeckte. Naomi winkte ihr zu, sie solle zu ihr kommen.

Das Glitzern in Mrs. Jacksons Augen funkelte quer durch den Raum. Die ältere Dame blickte erst von rechts nach links und erinnerte Naomi dadurch noch mehr an Miss Marple, als je zuvor. Erst als die Frau sich vergewissert hatte, dass sich außer ihr niemand im Raum aufhielt, setzte sie sich in Bewegung.

»Kann ich also doch etwas für Sie tun?«

Naomi nickte. »Könnten Sie mir bitte sagen, wie der ältere Mann aussah, der nach uns gefragt hat?«

Mrs. Jackson beschrieb Mr. Thursfield senior bis ins kleinste Detail. »Aber er fragte nur nach Ihnen, junge Dame.«

»Das sieht ihm ähnlich.« Naomi beugte sich dicht an Mrs. Jacksons Ohr. »Wissen Sie, er ist der geschiedene Mann meiner Großmutter. Er verfolgt sie schon seit Wochen. Ich weiß nicht, wie er uns hier gefunden hat, aber er will meine Oma zwingen zu ihm zurückzukehren. Vermutlich war der jüngere Mann ein Privatdetektiv, den er auf uns angesetzt hat. Meine Großmutter ist auf der Flucht vor ihm und versteckt sich. Ihre letzten Ehejahre waren die Hölle. Nach langem Zureden konnte ich sie endlich dazu bewegen, einen Schlussstrich zu ziehen und zu fliehen. Nachdem er uns nun entdeckt hat, sollten wir schnellstmöglich von hier verschwinden. Hat das Hotel einen Hinterausgang, durch den wir unbemerkt ihr Haus verlassen könnten?«

Die alte Dame presste ihre Lippen aufeinander. Ihre Augen funkelten lebhaft. »Wissen Sie, ich dachte mir von Anfang an, dass hier etwas ganz und gar nicht stimmt. Der ältere Herr wirkte sehr nervös, als er nach Ihnen fragte. Sein rechtes Augenlid zuckte ständig, und es ist doch ein Zeichen, dass man etwas verbergen will, wenn die Nerven plötzlich verrückt spielen.« Sie schob Naomi einige Stufen nach oben, damit sie auch vom Eingang aus nicht gesehen werden konnte. »Gehen Sie in Ruhe packen. Ich komme dann hoch, wenn alles organisiert ist. Und sagen Sie Ihrer Großmutter, sie müsse sich keine Sorgen mehr machen.«

Sie drückte Naomi die Hand. »Kindchen, da habe ich schon ganz andere Sachen gelöst. Geben Sie mir eine halbe Stunde.« Mit einem verschmitzten Lächeln stieg sie die Stufen hinab und nickte ihr aufmunternd zu.

Naomi bedankte sich und grinste in sich hinein, während sie sich umdrehte. Es handelte sich zwar um eine dicke Lüge, aber Miss Marple hatte den Köder geschluckt. Wie sie mit geröteten Wangen und einem listigen Blick zur Rezeption zurückgegangen war, rührte Naomi. Eine süße alte Dame mit einem Hang zum Abenteuer. Das sollte sie nun erleben. Hauptsache, Leandra und sie konnten ungesehen verschwinden.

Leandra schloss gerade Naomis Tasche. »Fertig. Von mir aus kann´s losgehen.« Sie eilte nochmals ins Badezimmer, öffnete das Spiegelschränkchen, sah in der Duschwanne nach und nickte zufrieden, weil sie nichts übersehen hatte.

Naomi zog den Reißverschluss ihrer Reisetasche auf und griff nach einem Sweatshirt sowie einer frischen Jeans. »Übrigens, Oma, du bist eine geprügelte Frau, die vor ihrem Mann auf der Flucht ist. Miss Marple ist echt klasse. Sie wird uns helfen.«

»Musst du sie immer Miss Marple nennen?«

»Mensch, Oma, sei nicht so. Sie sieht doch ganz genauso aus. Vor allem, wenn sie die Lippen zusammenpresst und die Stirn in Falten legt, um sich etwas einfallen zu lassen. Hättest du nicht diese alten Filme angesehen, würde ich sie gar nicht kennen.« Mit raschen Handgriffen stopfte sie die getragene Kleidung in die Tasche. »Soll ich dir was sagen?« Mit einem Grinsen sah sie Leandra an. »Irgendwie erinnert sie mich sogar ein bisschen an dich.«